Der vorangegangene Jahrgang   1955

Vor (mehr) als 50 Jahren

Was 1956 Wahrheit war

Muckertal

Sowohl Barmen als auch Elberfeld sind heute Bezirke der Stadt Wuppertal. Solche Eingemeindungen gab und gibt es auch andernorts - das steht nicht in Frage. Fakt ist aber auch dass in der Frühzeit der Bibelforscher (jetzige Zeugen Jehovas) in Deutschland, Elberfeld und Barmen die geographischen Ausgangspunkte waren, von der diese Organisation hierzulande startete.

Nun erschien just im Jahre 1956 ein Buch von Gerhart Werner mit dem Titel „Die Stillen in der Stadt". Laut Untertitel: „Eine Betrachtung über die Sekten, Freikirchen und Glaubensgemeinschaften Wuppertals". Dieweil eben in jener Gegend auch die Zeugen Jehovas ihren Start hatten, mag es nicht uninteressant sein, einige Aussagen aus diesem Buch einmal etwas näher vorzustellen. Genannter Autor teilt unter anderem mit:

Seit alters führt die Wupperstadt den Spottnamen „Muckertal", weil hier protestantischer Eigenwille und mystische Verspanntheit z. T. die wunderlichsten Blüten trieb.

Hier im Tal und im Bergischen Land hat sich die evangelische Lehre nicht durch fürstliche Begünstigung durchgesetzt - im Gegenteil, die Landesherren sind stets katholisch gewesen -, sondern ist von unten herauf als ursprüngliche Volksbewegung aufgebrochen, als eine Volkskirche, die sich ihre Unabhängigkeit aus eigener Initiative zäh genug erkämpfte.

In religiösen Kreisen gilt Wuppertal als ein geistiges Zentrum. „In Wuppertal ist eben jeder religiös und fanatisch", schreibt Wilhelm Schäfer, „vom Atheisten bis zum Baptisten".

Es ist wohl nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß jede neue Sektenbildung in Deutschland hier sofort mit einer Gemeinde ebenfalls in Erscheinung tritt, die dann mitunter auch noch örtliche Abspaltungen oder Zusammenschlüsse mit verwandten Gruppen erfährt.

Manche Sekte ist überhaupt von hier ausgegangen oder hat, wenn sie ausländischen Ursprungs war, hier ihre erste deutsche Gemeinde gegründet.

Auch Friedrich Engels hat später in seiner Jugendschrift „Briefe aus dem Wuppertal" den Typ des hiesigen Handwerksmeisters geschildert, der ein eifriger Bibelleser und Choralsänger war und in seiner Werkstatt mit seinen Gesellen geistliche Andachten abhielt, bei denen die Hauptsache aber „immer die Verdammung der lieben Nächsten" war.

Freiligrath schimpft saftig über das „verdammte Muckernest", die „Sektenschlucht", das „vertrackte Traktättethal", das „verketzernd" sei wie kein zweites. „Mit der Toleranz ist es hier nicht weit her".

Und in der Tat, man betrachte so ausgesprochene Textilgegenden in Deutschland wie Schlesien und das Zwickauer Land in Sachsen - man wird immer finden, das dem Weberhandwerk ein ausgeprägtes Sektenwesen entspricht.

Am 3. Juli 1850 wurde im Elternhaus des Predigers Neviandt in Mettmann der „Evangelische Brüderverein" gegründet, der, zunächst in der Tradition des Spenerschen Pietismus fußend, innermissionarische Ziele vertrat. Er betonte das allgemeine Priestertum aller Gläubigen und geriet, da er eine freie, persönliche innermissionarische Tätigkeit forderte, in Gegensatz zur Landeskirche. Ein Pfarrer äußerte damals: „In was für einer Zeit Leben wir! Jeder Schuster und Schneider rühmt sich, den Heiligen Geist zu haben!

Der Sekretär und spätere Führer des Brüdervereins, der sich dann in Elberfeld betätigte und hier seine Zentrale hatte, war Karl Brockhaus, ein Verwandter des Gründers des Leipziger Brockhaus-Verlages. Ab 1848 lebte er als Hauptlehrer an der Volksschule am Neuenteich in Elberfeld und gab die Zeitschrift des Vereins „Der Botschafter in der Heimat" heraus. Bibelstunden, die er anfänglich gab, wurden ihm von der Kirche verwehrt. 1850 legte er sein Lehramt nieder und widmete sich ganz dem Brüderverein. Da dieser aber im Gegensatz zu seiner „Heiligungstheorie" ihm gar zu sehr das „Arme Sündertum" vertrat, schied er 1852 aus. Aus dem Kreis seiner Anhänger, die als Wiedertäufer und Dissenter, Separatisten und Winkelprediger verschrien waren, bildete sich später die „Christliche Versammlung", deren Gläubige oft unzutreffend als „Darbisten" bezeichnet werden.

Mit diesem englischen Sektierer haben sie wohl Berührungspunkte, aber die Gemeinde lehnt es ab, sich nach dem Namen eines Menschen zu nennen, obwohl Darby von 1854 ab mehrmals in Elberfeld zu Gast war und zusammen mit zwei Hilfsarbeitern die sog. „Elberfelder Bibelübersetzung" oder „Darbistenbibel" schuf. 1855 erschien das Alte Testament, 1871 die ganze Bibel.

1854 wurde der Titel der Zeitschrift umgeändert und hieß nun „Der Botschafter des Heils in Christo". Die Versammlung, deren Zentrale heute der freikirchliche Brockhaus-Verlag in Vohwinkel ist.

Die erste Adventistengemeinde ist ebenfalls auf Wuppertaler Boden entstanden.

1894 traten in Barmen die ersten Bibelforscher auf. Der amerikanische Pastor Russell, der Gründer dieser Sekte hielt schon im Jahre 1902 einen Vortrag in der „Concordia" auf der Lindenstraße. Im Anschluß daran wurde die erste Landesleitung der „Internationalen Bibelforschervereinigung", die damals noch „Wachtturm- Bibel- und Traktatgesellschaft" hieß, für Deutschland in Barmen gegründet, wo sie von 1902 bis 1922 verblieb, ehe man sie nach Magdeburg verlegte. Nach dieser Übersiedlung hatte die Barmer Gruppe ihr Versammlungslokal in der Lindenstraße, wo es 1943 durch den Bombenangriff zerstört wurde.

Im Juni 1933 wurde die Sekte, die seit 1931 den Namen „Jehovas Zeugen" führt, bekanntlich von Hermann Göring verboten, da sie ein Unterschlupf für Juden und Kommunisten geworden sei. Ihre tapfere Haltung während der Verfolgungen im Dritten Reich ist bekannt. Angeblich sollen die vielen Vermerke „Jesaja 41, Vers 24", die während dieser Zeit besonders im „Muckertal" auf die Stimmzettel geschrieben wurden, auf das Konto der hier außerordentlich zahlreichen Zeugen Jehovas kommen. Die erbosten nationalsozialistischen Ortsgruppenleiter, die daraufhin diese Bibelstelle aufschlugen, lasen dann bekanntlich: „Siehe, ihr seid aus nichts, und euer Tun ist aus nichts, und euch wählen ist ein Greuel".

Nach dem Kriege bauten die Zeugen Jehovas, die hier eine rege Aktivität entfalteten und wohl die rührigste Sekte in Wuppertal sind, ihre Organisation, die sehr angewachsen war, rasch wieder auf, sorgten für ihre aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern entlassenen Glaubensbrüder und starteten eine außerordentlich rege Propaganda. Während es früher nur die Gruppe „Elberfeld-Barmen" gab, existieren heute deren drei in Barmen, Elberfeld und Cronenberg, die in 18 „Buchstudiengruppen" aufgeteilt sind und an deren Spitze ein „Stadtdiener" steht. Da sie gehalten sind, die Werbung für ihre Zeitschrift „Der Wachtturm" in unaufdringlicher Form durchzuführen, bieten sie diese in sog. "Feldgottesdienst"-Stunden schweigend zum Verkauf an.

Bemerkenswert ist, daß die während des Dritten Reiches von der NSDAP geförderte antikirchlich-neuheidnische „Deutsche Glaubensbewegung" in Wuppertal als organisierte Gemeinschaft nicht zum Zuge kam, im Gegensatz zu anderen Großstädten. Die religiös aktiven Nationalsozialisten schlossen sich in Wuppertal entweder den „Deutschen Christen" innerhalb der Evangelischen Kirche an oder traten, falls sie gottgläubig gesinnt waren, lediglich aus der Kirche aus und nahmen an den Veranstaltungen der Deutschen Glaubensbewegung teil, die andernorts stattfanden. In Wuppertal selbst kam es zu keiner Gründung einer Ortsgruppe der „Deutschen Glaubensbewegung".

Ebenfalls in das Jahr 1945 fällt die Zeit der Wiedergründung der „Freireligiösen Gemeinde Wuppertal", die im Dritten Reich verboten war. Davon der anfangs amerikanischen Besatzungsmacht in Wuppertal die Wiedergründung einer Freidenkerorganisation damals nicht gestattet wurde, weil sie bei ihnen im Verdacht der Förderung des Nationalsozialismus stand, traten die Freidenker den „Gesinnungsfreunden" der Freireligiösen Gemeinde bei, wo sie alsbald das Übergewicht erhielten, obwohl die freireligiösen in der Gegenwart großen Wert darauf legen, eine religiöse Gemeinschaft zu sein, und sich sogar auf die Tradition der deutschen Mystik für die Stützung ihrer dogmenfreien Religiosität beziehen. … Der Versuch, in Wuppertal später eine eigentliche Gottlosenbewegung wieder ins Leben zu rufen, ist hoffnungslos gescheitert. Auf der vorgesehenen Gründungsversammlung fanden sich außer dem Veranstalter - nur zwei Zeitungsberichterstatter ein.

Um auf dem im Text mit genannten Friedrich Engels noch mal zurückzukommen. Auch der ist ja im „Muckertal" aufgewachsen in einer frommen Familie. Später sah sein Lebensweg dann etwas anders aus. Immerhin erfolgte sein „Wandlung" nicht „über Nacht". Engels, 1820 geboren, setzte sich dann in seinen „Sturm- und Drangjahren" besonders auch mit religiösen Fragen auseinander. Dies insbesondere auch in der Form eines umfänglichen Briefwechsels. Sein Briefpartner hieß Friedrich Graeber, und aus den überlieferten Briefen von Engels an ihn, kann man durchaus einige charakteristische Eindrücke gewinnen.

So schrieb er ihm beispielsweise am 30. 7. 1839:

„Wär ich nicht in den Extremen der Orthodoxie und des Pietismus aufgewachsen, wäre mir nicht in der Kirche, der Kinderlehre und zu Haus immer der direkteste, unbedingte Glaube an die Bibel und an die Übereinstimmung der biblischen Lehre mit der Kirchenlehre, ja mit der Speziallehre jedes Pfarrers vorgesprochen worden, so wäre ich vielleicht noch lange am etwas liberalen Supranaturalismus hängengeblieben."

Weitere, durchaus aufschlußreiche Details kann man auch aus seinen weiteren Briefen entnehmen. So schrieb er etwa am 23. 4. 1839:

„Ich begreife nicht, wie die orthodoxen Prediger so orthodox sein können, da sich doch offenbare Widersprüche in der Bibel finden. Wie kann man die beiden Genealogien Josephs, des Mannes der Maria, die verschiedenen Angaben bei der Einsetzung des Abendmahls (dies ist mein Blut, dies ist das Neue Testament in meinem Blut), bei den Besessenen (der 1. erzählt, der Dämon fuhr bloß aus, der 2. er fuhr in die Säue), die Angabe, Jesu Mutter sei ausgezogen ihren Sohn zu suchen, den sie für wahnsinnig hielt, obwohl sie ihn wunderbar empfangen etc., mit der Treue, der wörtlichen Treue der Evangelisten reimen?

Wo sagt ein Apostel, daß alles, was er erzählt, unmittelbare Inspiration ist? Das ist kein Gefangennehmen der Vernunft unter den Gehorsam Christi, was die Orthodoxen sagen, nein, das ist ein Töten des Göttlichen im Menschen, um es durch den toten Buchstaben zu ersetzen."

Oder wenn er am 15. 6. 1839 schrieb:

„Was soll überhaupt ein Geschlechtsregister, das ganz überflüssig ist, da alle 3 synoptischen Evangelien ausdrücklich sagen, Joseph sei nicht Jesu Vater?

Ich will Dir nur grade heraussagen, daß ich jetzt dahin gekommen bin, nur die Lehre für göttlich zu halten, die vor der Vernunft bestehen kann. Wer gibt uns das Recht, der Bibel blindlings zu glauben? Nur die Autorität derer, die es vor uns getan haben. Ja, der Koran ist ein organischeres Produkt als die Bibel, denn er fordert Glauben an seinen ganzen fortlaufenden Inhalt. Die Bibel aber besteht aus vielen Stücken vieler Verfasser, von denen viele nicht einmal selbst Ansprüche auf Göttlichkeit machen. Und wir sollen sie, unserer Vernunft zuwider, glauben, bloß weil unsere Eltern es uns sagen?

Ferner: da ist Strauß „Leben Jesu", ein unwiderlegliches Werk. Warum schreibt man nicht eine schlagende Widerlegung? Warum verschreit man den wahrhaftig achtbaren Mann? … Ja, es gibt wahrhaftig Zweifel, schwere Zweifel, die ich nicht widerlegen kann. Ferner die Erlösungslehre: Warum zieht man sich nicht die Moral draus, wenn sich einer freiwillig für den anderen stellt, den zu strafen? Ihr würdet es alle für Unrecht halten; was aber vor Menschen Unrecht ist, das soll vor Gott die höchste Gerechtigkeit sein?"

Und in einem weiteren Brief äußert er:

„Als die Zürcher Geschichte mit Strauß losbrach, kannst Du dir gar nicht denken, wie greulich die „K(irchen)-Z(eitung)" Strauß Charakter verleumdet und verschrieen hat, während er sich doch - darin haben alle Nachrichten übereingestimmt - durchaus nobel bei der ganzen Sache benommen hat.

Übrigens, wenn das orthodoxe evangelische Christentum die Religion der Liebe genannt wird, so kommt mir das vor wie die ungeheuerste Ironie. Nach Eurem Christentum werden neun Zehntel der Menschen ewig unglücklich und ein Zehntel wird glücklich, Fritz, und das soll die unendliche Liebe Gottes sein? Bedenke, wie klein Gott erscheinen würde, wenn das seine Liebe wäre.

Mit Männer wie Schleiermacher und Neander will ich mich schon verständigen, denn sie sind konsequent und haben ein reines Herz; beides suche ich in der „Evangelischen Kirchen-Zeitung" und den übrigen Pietistenblättern vergebens. Besonders vor Schleiermacher hab ich ungeheure Achtung. Bist Du konsequent, so mußt Du ihn freilich verdammen, denn er predigt nicht Christum in Deinem Sinne, sondern eher im Sinne des Jungen Deutschlands … Aber er ist ein großer Mann gewesen, und ich kenne unter den jetzt lebenden nur einen, der gleichen Geist und gleiche Kraft und gleichen Mut hat, das ist David Friedrich Strauß.

Ich habe mich gefreut, wie Du Dich so rüstig aufgemacht hast, mich zu widerlegen, aber eins hat mich geärgert, ich wills Dir nur geradeheraus sagen. Es ist die Verachtung, mit der Du von dem Streben zur Vereinigung mit Gott, von dem religiösen Leben der Nationalisten sprichts. Du liegst freilich behaglich in Deinem Glauben wie im warmen Bett und kennst den Kampf nicht, den wir durchzumachen haben, wenn wir Menschen es entscheiden sollen, ob Gott ist oder nicht; Du kennst den Druck solcher Last nicht, die man mit dem ersten Zweifel fühlt, der Last des alten Glaubens, wo man sich entscheiden soll, für oder wider, forttragen oder abschütteln; aber ich sage es dir nochmals. Du bist vor den Zweifel so sicher nicht, wie Du wähnst, und verblende Dich nicht gegen die Zweifelnden. Du kannst selber einst zu ihnen gehören, und da wirst Du auch Billigkeit verlangen. Die Religion ist Sache des Herzens, und wer ein Herz hat, der kann fromm sein; wessen Frömmigkeit aber im Verstande oder auch in der Vernunft Wurzeln hat, der hat gar keine."

Ein im Jahre 1887 in Heilbronn erschienenes Buch von A. Sincerus, mit dem Titel: "Ein Gang durchs Wupperthal in diesem Jahrhundert" notiert auch noch (und dieses Zitat mag man dann ja als durchaus charakteristisch ansehen, auch im Kontext der sonstigen Ausführungen von Sincerus):

"Bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts war im ganzen Thal keine einzige Buchhandlung gewesen. Fremde kamen selten hierher. Die Entwicklung der Menschheit stand hier fast still."

Der aufhaltsame Aufstieg des Mister Covington

Über eine "wundersame" Kariere liest man im "Wachtturm" vom 1. 1. 1956:

"Am Nachmittag des 13. Januar 1942 kamen alle Mitglieder der zwei Ausschüsse im Gesellschaftsraum des Bethelheimes in Brooklyn zusammen.

Nathan H. Knorr, der anlässlich der letzten allgemeinen Wahl in Pittsburg zum Vizepräsidenten gewählt worden war, hatte einige Tage vorher die Glieder der Ausschüsse gebeten, Gott unter Gebet und Überlegung ernstlich um Weisheit anzuflehen, damit sie richtig geleitet werden möchten, und dies hatten sie getan. Die gemeinsame Versammlung wurde mit Gebet eröffnet, wobei man besonders bat, Jehova möge Weisheit geben in der Wohl von Dienern nach seinem Willen, die ihn in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise in den Organisationen vertreten sollten Nach gebührender sorgfältiger Erwägung wurden folgende Brüder zu ihren bezüglichen Stellungen ernannt und einstimmig gewählt: Nathan H. Knorr als Präsident und Hayden C. Covington als Vizepräsident der zwei Körperschaften. Später am selben Tag wurden anlässlich einer Zusammenkunft der Bethelfamilie in Brooklyn die Ergebnisse der Wahl vom Sekretär des Direktionsausschusses bekanntgegeben, und dieses löste Begeisterung aus."

Schon eine "Wachtturm"-Ausgabe später (15. 1. 1956) erfährt man von einem "Kariereknick" eines der Genannten:

"Am 24. September 1945 gab H. C. Covington den ferneren Dienst als Direktionsmitglied und Vizepräsident der Watch Tower Bible and Tract Society von Pennsylvania bereitwillig auf. ... An seiner Stelle wurde F. W. Franz zum Vizepräsidenten gewählt."

Noch blieb Covington, weiter Leiter der WTG-Rechtsabteilung. Wenn seine 1945 Abdankung damit verklärt wurde, er sei kein Glied der "Gesalbten" (eine Überlegung die bei seiner Wahl offenbar keine Rolle spielte), dann darf man das getrost dem Bereich von Schutzbehauptungen zuordnen. Der tiefere Grund liegt eher darin, dass die "Chemie" zwischen Knorr und Covington nie so recht stimmte. Als dann noch sachliche Differenzen hinzukamen, war es soweit. Covington zog sich "still und leise" aus den WTG-Diensten zurück. "Still und leise" war sicherlich die WTG-Intention - unstreitig. Praktisch indes klappte es mit dem "still und leise" nicht so recht. Kritikern der WTG fiel da einiges auf. Und sie sprachen es dann auch aus:

Die CV 2 etwa notierte:
"H. C. Covington wird in der Sonderdienerliste 1963 des Jahrbuches 1963 letztmalig genannt, in der des Jahrbuches 1964 nicht mehr."

William Schnell will laut Bericht der CV 20 gewusst haben:

"Unsere Pipeline (Rohrleitung) in das innere Heiligtum der WTG informierte uns über zunehmende Differenzen zwischen Knorr und Covington. 1963 hatten sie in der Tat offenen Streit, des öfteren so laut, daß es vier Flure tiefer gehört wurde. In der Tat, dieser andauernde Streit wurde das Gewürz jeder Mahlzeit im Bethel. Knorr war für den Status quo, den gegenwärtigen Zustand auszunutzen, so sagen unsere Informatoren. Schließlich wurde Covington gezwungen, aufzugeben. Er zog sich auf eine private Rechtspraxis zurück."

Penton charakterisiert Covington mit den Worten:

"Aber er war ein recht stolzer, manchmal arroganter Mann, der libertäre Argumente, die er typischerweise vor Gericht verwendete, mit den höchst autoritären Ansichten, die man sich denken kann, kombinierte, wenn er über die geistige und organisationelle Macht des Direktoriums der Watch Tower Society sprach. Obwohl er eng mit Knorr zusammenarbeitete, gerieten die beiden häufig über verschiedene Themen in Auseinandersetzung und entwickelten eine tiefe Abneigung füreinander. Schließlich waren Überarbeitung und die Spannung Covingtons Ruin, und er war in frühen 1960er Jahren gezwungen, New York als schwerer Alkoholiker zu verlassen. Erst als ihm die Gemeinschaft entzogen und er wieder aufgenommen worden war, sollte er 1979 als guter Zeuge sterben."

Auch Raymond Franz äußerte bezüglich Covington:
"Covington hatte schwer mit dem Alkohol zu kämpfen und mußte noch während seiner Zeit in der Weltzentrale eine Entziehungskur machen. Nach seinem Gemeinschaftsentzug in den 1970er Jahren mußte er sich im Speers Hospital m Dayton (Kentucky) einer weiteren Behandlung unterziehen und meisterte sein Problem dann schließlich. Er wurde wieder aufgenommen und blieb bis zu seinem Tode mit der Versammlung verbunden."

Auf der seinerzeitigen Webseite "Watchtower Observer" gab es ein umfängliches Interview mit Covington, zwei Tage vor seinem Tode aufgenommen, dass auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Zu letzterem kann man vergleichen:

Covington

Ihm kann man auch entnehmen, wie der aufhaltsame Aufstieg des 1911 geborenen Covington vonstatten ging. Danach erwarb er sich schon mal seine ersten "Lorbeeren" dergestalt, dass er Zeugen Jehovas verteidigte, welche in den USA, aufgrund der Rutherfor'schen Konfrontationspolitik, mit dem Gesetz in Konflikt kamen. In genanntem Interview liest sich das so:

"Und dann gerieten die Brüder in einen Streit mit der Polizei von San Antonio, und hier kommen wir auf die Sache mit Bruder Heath zu sprechen. Wir hatten Informationsmärsche, und die Polizisten versuchten, uns zu stoppen. Und es wurde notwendig, daß ich ein Gespräch mit dem Bürgermeister der Stadt San Antonio darüber hatte, ob Jehovas Zeugen das Recht haben, Informationsmärsche zu veranstalten und ein Plakat mit sich zu führen, daß die Religion eine Falle und ein Schwindel ist."

Der genannte "Bruder Heath" wird als Sekretär Rutherford's bezeichnet. Durch den eben zitierten San Antonio-Fall lernten die beiden sich schon mal kennen. Covington wurde von ihm eingeladen, an der berühmt-berüchtigten 1939er Madison Square Garden Veranstaltung teilzunehmen. Die aber ging in die Annalen auch dergestalt ein, keinesfalls "friedlich" abgelaufen zu sein. Und nun konnte sich Covington ein zweites mal "bewähren".

In dem Interview liest man dazu:

Als der Mob begann, verließ Bruder Heath die Rednertribüne, weil er für alle Ordner verantwortlich war, und ging in diese Richtung. Und ich ging mit ihm in diese Richtung. Er ging die sich windenden Treppen zum alten Madison Square Garden ... Ich folgte ihm, und wir gingen zusammen. Sie waren wie verrückt am Schreien, das war der gleiche Krach, den man auf der Aufnahme von Government and Peace hören kann. Sie schrieen uns in die Ohren, als wir dort hinaufgingen, um für Recht und Ordnung in dieser religiösen Versammlung zu sorgen. Die Polizisten waren draußen und hielten sich aus der Sache heraus; sie ließen zu, daß diese Leute weitermachten und die Zusammenkunft sprengten oder es zumindest versuchten. Wir gingen hinauf, und wir hatten Stöcke, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, und wir versuchten, die Banditen aus dem Weg zu schieben. Und als wir das taten, ergriff einer der Banditen Bruder Heath und verletzte ihn sehr schlimm, körperlich. Und das steht auch in den Publikationen der Gesellschaft. Sie griffen ihn an den Genitalien, als er die Treppe hinaufging, und er schlug dem Banditen mit einem Stock auf den Kopf, um die Menge zu zersprengen, die sich um uns versammelte. Und als er das tat, da kamen die Polizisten auf und stellten Bruder Heath unter Arrest, weil er den Banditen mit dem Stock geschlagen hatte."

Letztere Vorfall hatte dann noch ein gerichtliches Nachspiel, zudem Covington als Zeuge beordert wurde. Seinen Part dabei beschreibt er mit den Worten:

"Doch die Richter urteilten auf der Grundlage meiner Zeugenaussage, die ich zur Unterstützung der Verteidigung von Bruder Heath machte, daß er nicht schuldig war. Sie glaubten, sie dachten, die Zeugenaussage eines Mitgliedes der Anwaltskammer sei glaubwürdiger als die Banditen, die gegen ihn ausgesagt hatten. . . . So wurde Bruder Heath als Ergebnis der Vorkehrung Jehovas freigesprochen -- der Vorkehrung, daß ich da war, um für ihn auszusagen."

Damit war nun endgültig auch Rutherford höchstpersönlich auf Covington aufmerksam geworden. Das "Vitamin B" (B = Bekanntschaft) tat nun seine Wirkung. Nach Covington lief das wie folgt ab:

"Bruder Rutherford bat mich, aber das war nach dem Fall, wo es um den Aufruhr im Madison Square Garden ging, und es war, weil der andere Anwalt, der Moyle hieß, das Handtuch warf und Bruder Rutherford mit der Sache alleine ließ. Ich bekam die Einladung, zu kommen, mit besonderer Zustellung von Rutherford, und ich ging sofort."

In der Tat hatte der vorherige WTG-Rechtberater Moyle "das Handtuch geworfen".

Zu Moyle kann man auch vergleichen: 19392Moyle

Moyle war nicht länger bereit die Rutherford'sche Konfrontationspolitik mitzutragen. In das so entstandene Vakuum konnte sich nun der junge Covington (28 Lenze alt zu der Zeit) etablieren.

Ein Schlaglicht wirft in diesem Interview auch die Angabe von Covington bezüglich seiner Reisetätigkeit:


"Wir fuhren 1. Klasse; Bruder Rutherford sagte einmal zu mir: "Ich möchte, daß ihr immer, wenn ihr verreist, die 1. Klasse nehmt." Und das tat ich, Bruder Heath tat es, Nathan Knorr tat es und Freddy Franz auch, unsere ganze Gruppe tat es.

Sw. Murray: Naja, ihr brauchtet eure Ruhe, und es war komfortabler. Covington: Es ging nicht um Komfort, aber wir hatten das Recht dazu: ein Arbeiter ist seines Lohnes wert."

Diese Tendenz setzte sich auch zu Knorrs Zeiten ungebrochen fort. Ein auch in Deutschland bekannt gewordenes Beispiel dafür, die Loggie von Knorr anläßlich des Nürnberger Kongresses 1955, in einem First Class Hotel.

Dazu kann man auch vergleichen: Frondienst

So kann man natürlich als vorgeblicher Taschengeldempfänger, das eigene Dasein auch erträglich gestalten.

Die nächste Bewährungsprobe des Covington bestand anlässlich des Todes von J. F. Rutherford am 8. 1. 1942. Rutherford selbst hatte die Option geäußert in seinem Domizil "Beth Sarim" in Kalifornien begraben zu werden. Ungeahnte Zeugenströme sollten zu diesem Mausoleum dereinst mal hinpilgern. Covington war es nun beschieden, dass in die Praxis umzusetzen. Allerdings mußte er erfahren, auf Widerstand zu stoßen. Widerstand von Granitharter Konsistenz. In seinem Interview liest man dazu:

"Wir versuchten, ihn draußen auf dem Grundstück von Beth Sarim zu beerdigen. Das war ein großes Grundstück hinter dem Haus, es ging hinunter bis zur Montezuma Road, und dann hatte auch Bruder Heath das große Haus auf der anderen Straßenseite, für dessen Erbauung ihm seine Mutter Geld gegeben hatte. Es würde eine halbe Million oder noch mehr Dollar kosten, das heute noch einmal wieder genauso aufzubauen.

Wir versuchten, ihn auf dem Grundstück zu beerdigen, aber der Rat in San Diego wies uns ab. Sie wollten nicht, daß er irgendwo dort draußen begraben würde; da draußen gab es so viel Feindseligkeit und Haß gegen den Richter. Die Behörden wiesen uns bei jedem erneuten Antrag ab. Dann erhob ich vor Gericht in San Diego Klage, um sie zu zwingen, uns ihn auf dem Grundstück begraben zu lassen. Richter Mundo, Richter am Superior Court, hörte davon und schob uns den Schwarzen Peter zu, er sprang von einer Sache zur anderen, von einer Spitzfindigkeit zu einer anderen. Schließlich sahen wir, Bill, Bonnie und Nathan und alle anderen, die Sache vernünftig an und beschlossen, wir hätten genug darum gekämpft und es sehe so aus, als wolle der Herr, daß wir die Leiche zurück nach Brooklyn brachten und ihn auf Staten Island beerdigten, was wir dann auch taten."

Mehr als ein Viertel Jahr soll es gedauert haben, bis die Rutherford-Leiche dann tatsächlich unter die Erde kam, nachdem die vorherigen Mausoleumspläne sich als gescheitert erwiesen..

Günter Pape schreibt dazu in seinem "Ich klage an" (S. 156) unter Bezugnahme auf eine Studie von Edmond C. Gruss:

"Angesichts des bevorstehenden Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs wurde 1939 in San Diego, ca. 2 km von Beth-Sarim entfernt ein zweites Anwesen bebaut, das über großzühe Wohnanlagen und Nebengebäude sowie über einen bombensicheren Bunker verfügte, die ersatzweise als Begräbnisstätte für Rutherford vorgesehen war. Es erhielt den Namen "Beth-Shan", "Haus der Sicherheit" und war für das Überleben eines Katastrophenfalles ausgestattet.

Da Rutherfords Ableben abzusehen war, gründeten Knorr, Franz und Rutherfords Sekretär Heath eine Friedhofs-Gesellschaft und versuchten im Talhang hinter der Villa "Beth-Sarim" eine Begräbnisstätte genehmigt zu bekommen. Sie begannen mit dem Bau einer Krypta, in der Rutherford bestattet werden sollte und zu der dann seine Anhänger pilgern sollten. Allerdings erhielten sie keine Genehmigung für den Friedhof und die Krypta, so daß Rutherford erst fast vier Monate nach seinem Tod nach New York überführt und dort beerdigt wurde."

Letzteres Bild, die Vorderansicht von "Beth-Shan"

Weiteres zu Covington in:

Covington

Und willst du nicht mein Bruder sein ...

Die unbändige, den Nazis in diesem Punkt voll vergleichbare Wut der Kommunisten auf die Zeugen Jehovas, offenbart sich auch in einem Presseartikel vom 9. 6. 1956 in der Berliner Tageszeitung "Der Tagesspiegel". Letztendlich reduziert sich das darin Mitgeteilte auf die Frage der Nichtanerkennung der vorgeblichen "Aufrichtung eines Paradieses durch Kommunisten" seitens der Zeugen Jehovas.

Es ist richtig, deren Passivität gesellschaftspolitischen Fragen gegenüber, ging und geht auch so manchen anderen in Vergangenheit und Gegenwart "auf den Keks". Dennoch muss die Rückfrage gestattet sein: Wie reagiert man denn nun auf diese offenkundige Herausforderung?

Auch für die Kommunisten gab es da offenbar nur eine Form der Antwort:

"Und willst du nicht mein Bruder sein - So schlag ich dir den Schädel ein".

In genanntem Artikel las man:

In den letzten Wochen wurden von den Strafverbüßungsanstalten der Sowjetzone in Gruppen politische Gegner nahezu aller Kategorien vorfristig entlassen. Allerdings war eine Kategorie, sie macht 1/15 aller politischen Gefangenen aus, nicht unter den Entlassenen vertreten. Die Zeugen Jehovas. Es erfolgten vielmehr noch im April und Mai in Altenburg, Rostock und Magdeburg neue Verhaftungen.

Obgleich die Zeugen Jehovas jegliche Art konspirativer Tätigkeit ablehnen, wurden sie bezichtigt, Spione, Diversanten und Agenten gewesen zu sein. Außerdem wurde ihnen Vergehen gegen den berüchtigten Art. 6 (Verbreitung tendenziöser Gerüchte, Boykotthetze, Friedensgefährung) vorgehalten - und dies, nachdem Generalstaatsanwalt Melzheimer eine Revision dieses Artikels angekündigt hatte.

Sämtliche Verhandlungen gegen diese Angeklagten fanden bisher unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Weder die Angehörigen noch Entlastungszeugen durften daran teilnehmen. Seit dem 8. August 1950 sind 2814 Verhaftungen erfolgt; 1299 werden noch aufrecht erhalten. Urteilsreduzierungen sind nur in ganz wenigen Fällen vorgekommen. In 73 Fällen ist überhaupt noch kein Urteil erfolgt oder bekannt geworden. 34 Zeugen Jehovas sind in Haftanstalten gestorben oder nach unmenschlicher Behandlungsweise zugrunde gegangen. Die durchschnittliche Strafhöhe liegt bei sechs Jahren und drei Monaten; 14 haben lebenslängliche Strafen.

Bis 1954 durften diese Häftlinge nicht arbeiten. Häufig mußten sie rote Binden an Arm und Bein tragen, und das bedeutet: keine Bücher, keine Erlaubnis Schach zu spielen, keine Teilnahme an den gelegentlichen Filmvorführungen und Einzelzelle. Da die Zeugen Jehovas keine Blutwurst essen, diese aber häufig die einzige Fleischkost ist, sind sie auch, was die Ernährung angeht, benachteiligt.

Grotewohl hat mehrfach erklärt, es gebe in der "DDR" keine Glaubensverfolgungen. Wenn das bewiesen werden soll, müßte sich auch für die Zeugen Jehovas endlich das Tor in die Freiheit öffnen.

Rainer Hildebrandt

Der politische "Marktwert" dieser Meldung kam einige Zeit später (am 19. 7. 1956) erneut zum tragen als der Westberliner Rundfunksender RIAS eigens ein Interview mit dem WTG-Funktionär W. P. in seiner Sendereihe "Die Zeit im Funk" ausstrahlte. Laut einer im Aktenbestand des vormaligen Staatssekretariats für Kirchenfragen der DDR überlieferten Transkription wurde in diesem Interview erklärt:

Pohl:

"Ja, das war im August 1950, wir hatten gerade Vorbereitungen für einen Kongreß getroffen hier in Berlin und dann erfolgte das Verbot auf Grund recht fadenscheiniger Behauptungen bzw. Gründen. Es wurde unsern Mitarbeitern vorgeworfen, daß wir Spione seien und daß sie Kriegshetze betrieben, Boykotthetze wie es in der Ostzone heißt nach Artikel 6. Sie erhielten daraufhin eine harte Verfolgung. Wir haben sehr viele Mitarbeiter, die dadurch ins Gefängnis neben vielen anderen Dingen.

RIAS:
Worauf stützten sich diese Vorwürfe?

Pohl:

Sie stützte sich darauf, daß Jehovas Zeugen nach der Bibel das Königreich Gottes als die einzige Hoffnung der Menschheit predigen, daß aber diese Machthaber meinten, weil das Königreich Gottes diese bestehenden Systeme ablöst, wäre es eine Kriegshetze vom Königreich Gottes zu sprechen.

RIAS:

Bei welcher Gelegenheit wurden nun die Mitglieder verhaftet?

Pohl:

Die meisten wurden verhaftet, wenn sie in ihren Predigten anderen Mitmenschen diese biblischen Wahrheiten im Haus zu Haus-Dienst übermitteln wollten, d. h. sie gingen von Tür zu Tür, um mit den Leuten zu sprechen.

RIAS:

Damals gab es 25.000 Anhänger in der Zone, also im August 1950, und haben Sie ein ungefähres Bild, wieviele Mitglieder in der Zwischenzeit verhaftet worden sind?

Pohl:

Ja, wir können es sagen, ziemlich genau sagen, weil wir über jeden Fall, von dem wir Kenntnis erhielten, eine Kartei angelegt haben, und so haben wir heute eine Kartei von 2835 Namen von Personen, die nicht nur verhaftet wurden, sondern in Haft gehalten wurden. Von diesen Personen sind noch 1436 jetzt in Haft, während 1362 entlassen wurden, 37 sind in der Haft umgekommen oder gestorben wegen Alter oder Krankheit.

RIAS:
Das ist ein Rückblick über die vergangenen 6 Jahre. Hat sich die Situation etwas geändert?

Pohl:

Das kann man wohl sagen, die Verhaftungen im großen Ausmaß hat nachgelassen. Man hat auch nicht mehr das Gefühl, daß der Haß der einzelnen Beamten so stark ist wie in der ersten Zeit, aber trotzdem werden noch weiter Verhaftungen durchgeführt. Die Methode hat sich etwas geändert. Man versucht jetzt den Leuten zu zeigen, daß man gar nichts gegen Jehovas Zeugen hätte, gegen ihren Glauben, man wäre nur nicht damit einverstanden, daß sie zu andern Leuten hingingen und ihnen von ihrem Glauben erzählen, und das ist gegen die Grundlage des Glaubens eines Zeugen Jehovas, daß er nicht für sich selbst genießt, sondern daß er auch anderen davon berichtet, und so kommen wir immer wieder in Konflikt mit ihnen. Sie versuchen, uns Vertrauen einzuflößen, indem sie sagen, wir könnten unter Umständen sogar wieder frei werden, das sehen wir aus den Verhören mit den Leuten. Wir müßten eben unsere Verbindungen untereinander abbrechen. Wir sollten auch nicht so von Haus zu Haus propagieren.

Da nun der Name des Willi P., der auf Seiten der Zeugen Jehovas maßgeblich deren Theorie und Praxis gegenüber den Ostblockstaaten gestaltete, schon angesprochen wurde, sei noch ein anderer Aspekt genannt. Bevor seit Oktober 1965 in der DDR das Blatt "Christliche Verantwortung" zu erscheinen begann, hatte dessen formaler Herausgeber, davor schon einige Jahre sogenannte "Briefe" versandt. Unbestreitbar mit der Stasi im Hintergrund. Letzterer gelang es auch eine Reaktion des P. darauf zu dokumentieren. Der Willy Müller war ja bei weitem nicht der "einzigste" der da an der Leine der Stasi hängend agierte. Er war blos einer der auch in der Öffentlichkeit in Erscheinung trat. Weit bedeutender für die Stasi waren ihre "U-Boote" die selbst in höheren WTG-Funktionärsschichten agierten. Von einem dieser "U-Boote", mit dem damaligen Stasi-Namen "Max", ist eine Reaktion des P. auf die Müller-Briefe dokumentiert. Im Y.'schen "Visier"-Buch wird dieser Aspekt mit zitiert.

Also nicht nur die eigentliche CV, die P.'s Aussage mehrmals zitierte. Nein, auch im Y...-Buch ist das dokumentiert. Nach letzterem spielte sich das wie folgt ab:

G(esellschaftlicher) M(itarbeiter) (damaliger Stasijargon für den späteren Begriff IM) "Max" fuhr schon am 24.7.1959 ... Am 26.7.1959 sprach Pohl, [...] und noch 3 weitere Mitarbeiter der Zentrale mit GM "Max", Thema Versenden der Briefe von Müller und [...] Gera. Hierbei konnte GM "Max" erkennen, daß es der Zentrale nicht angenehm war, daß solche Briefe versendet wurden. Beim Kongreß sowie bei der internen Besprechung der GD ging Pohl auf die Briefe ein, er versuchte den Inhalt zu widerlegen, mußte jedoch über die im Brief angegebenen Stellen [sprechen] wie

l. Der Wachtturm und sein Zweck;

2. Erwachet! - ihre Mission;

3. Information an alle Verkündiger v[om] 25.2.1950 sowie Hetze im WT und Erwachet!;

4. Anweisung des ehemaligen Zweigdieners Erich Frost aus den Jahren 1947, indem der Zentrale berichtet werden soll über plötzliche Vorkommnisse, politische Aufstände, Wahlen, Auseinandersetzungen, Revolutionen, Katastrophen, Flugzeuge und Fliegerei;

5. Anweisung vom Oktober 1958 über Adressensammlung von Staatsfunktionären der DDR. Pohl, Willy sprach auf dem Kongreß 4-5 Mal, und in seinen ganzen Vorträge hauptsächlich in seiner Schlußansprache, beschäftigte er sich mit den Briefen des Müller und [...] und deren Inhalt.

Zu der Hetze im WT und Erwachet! sagte er sinngemäß, daß M[üller] angefragt habe, ob Jesus auch Politik betrieben hätte.

Hierauf sagte Pohl, wenn wir Zeugen Jehova uns nicht um die Politik kümmern, so müßten sie einen Spruch nach dem anderen aus der Bibel streichen.

Desweiteren sagte er, daß in den Schriften keine Hetze wäre, es wäre die reine Wahrheit,

er wies auf die Artikel hin, wie das Rote Paradies, und sagte, das wäre ein Tatsachenbericht. "Kommunisten fürchten die Wahrheit der Bibel", hier sagte er auch, dieser Artikel entspräche der Wahrheit, denn sie wüßten, daß Stalin und Bulganin viele Menschen umgebracht hätten und Mörder sind.

Auf den Artikel "Ungarn revoltiert gegen seine Zwingherren" sagte Pohl, wenn bei Vernehmungen den ZJ dieser Artikel vorgeworfen wird, sollen sie sagen. Sie waren nicht dort in Ungarn, ich war auch nicht dort, Sie glauben ihrer Zeitung, ich glaube meinem Wachtturm, denn die Berichterstatter werden nicht bezahlt, sie berichten aus diesem Grunde die Wahrheit. Dann ging Pohl auf die Adressensammlung von Staatsfunktionären ein und sagte, daß am 17.10.1959 [korrekt: 1958] von der Zentrale eine solche Anweisung, daß Adressen von Volkskammerabgeordneten, Bezirkstagsabgeordneten, Kreistagsabgeordneten, Staatsanwalt, Richter sowie Funktionäre der Parteien usw. gegeben worden ist. Auch gab Pohl zu, daß im Jahre 1947 die Zentrale eine Anweisung gegeben habe, wo [über] plötzliche Vorkommnisse, politische Aufstände, Wahlen, Auseinandersetzungen, Revolutionen, Katastrophen, Flugzeuge und Fliegerei berichtet werden mußte. In dieser Anweisung wurde besonderes Augenmerk darauf gelegt, aus Deutschland Berichte zu erhalten. Wenn diese Probleme den ZJ bei Vernehmungen vorgelegt worden sind, sagten diese, das ist nicht wahr, das machen unsere Brüder nicht, und bei dem Kongreß mußten 14.000 ZJ hören, daß alles das, was bei den Vernehmungen vom MfS ihnen vorgelegt wurde und was sie nicht glauben wollten, die Wahrheit war.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Versendung der Briefe und deren Inhalt der Zentrale großes Kopfzerbrechen bereitet hat. Am ganzen Verlauf des Kongresses [sie!] hat man sich mit diesen Dingen beschäftigt. Desweiteren auch bei der internen Besprechung für Gruppendiener. Pohl brachte nach Meinung des GM "Max" und "Rose" immer wieder zum Ausdruck, daß die "Zeugen Jehova[s]" die Treue zu Jehova halten sollen und ihr ganzes Leben für diese Sache opfern sollen. Sie sollen weiterhin bedingungslos der Organisation gehorchen, sollen fest an den Schriften des "Wacht[t]urm'' oder "Erwachet!" festhalten und sollen vor allen Dingen keine Zeitung lesen usw. In allen Vorträgen, die auf dem Kongreß gehalten wurden, wäre zu erkennen, daß man Sorge und Angst vor einer Spaltung hat.

Vorstehendes stellt die Dokumentierung aus der Feder der Stasi, so wie im Y...-Buch wiedergegeben, dar. Indes die Sachlage als solches, die Konformität mit den Interessen der westlichen Politik, kann kaum in Zweifel gezogen werden.

Noch ein Aspekt, die Forderung des P., sich gegebenenfalls für die WTG-Interessen aufzuopfern, kann nicht in Zweifel gezogen werden.

Schon zur Nazizeit; Jonak hat es im 11. Kapitel seines Buches dokumentiert, überschrieben "Instruktionen für Propaganda und Gerichtsprozesse".

 

JonakBuch

Schon zu Nazizeiten gab es diesbezüglich detaillierte WTG-Anweisungen. Und so verwundert es denn überhaupt nicht, selbiges auch für die DDR-Zeit zu registrieren.

Als Beispiel sei einmal die erste Seite eines mehrseitigen Textes für die ZJ-Untergrundorganisation in der DDR dokumentiert, dessen Federführung im WTG-Ostbüro lag.

Ein bedrückender Bericht

„Vermutlich ein oder zwei Wochen später (nach der Verhaftung Fritz Winklers) wurde der mittlerweile für den vergrößerten Bezirk Ost- und Westpreußen, Pommern und Mecklenburg zuständige Bezirksdiener Georg Rabe verhaftet. Am 4. März (1937) folgte die Festnahme des bayerischen Bezirksdieners und wohl etwa zur gleichen Zeit auch die der beiden für Ostschlesien sowie für Berlin und die Mark Brandenburg zuständigen Bezirksdiener. Der unter dem Tarnnamen „Meindl" reisende Reichsdiener Erich Frost fiel der Gestapo am 21. März in die Hände."

So stellt sich in der Sicht von Detlef G. die Verhaftungschronologie führender deutscher WTG-Untergrundfunktionäre in der Nazizeit dar.

Folgt man dem von der WTG bekanntlich nicht „geschätzten" Uraniabuch, so war es die erpresste Aussage von Rabe, die wiederum insbesondere die Festnahme des Erich Frost ermöglichte.

Rabe hatte schon vor seiner Bibelforscherzeit eine beachtliche Karriere hinter sich. So führte ihn sein Weg von der „Landeskirchlichen Gemeinschaft", über die damals gerade neu aufgekommene „Pfingstbewegung", schließlich zu den Bibelforscher. Und dort, wie vorstehend gelesen nahm er eine beachtliche Position in deren Hierarchie ein.

Siehe dazu auch: 19172Rabe

In einer der WTG gefährlichen Krisensituation der 1920er Jahre in Halle/S. lag er stramm auf WTG-Linie, wie der diesbezüglich vorliegende Bericht es auch verdeutlicht:

In Halle verließen im Zusammenhang mit dem falschen Endzeittermin von 1925 die Mehrzahl aller (102 von 150) seinerzeit die WTG. In der entscheidenden Zusammenkunft stimmten 102 für den damaligen Hallenser Altesten Br. Karl Berke und gegen den damaligen Leiter des Bibelhauses und WTG-Vertreter Paul Balzereit, Magdeburg. WTG-Präsident Rutherford erhielt in Halle überhaupt keine Stimme. Er hatte als Hauptverantwortlicher völlig das Vertrauen verloren. Pilgerbruder Georg Rabe damals:

"Da sieht man doch, daß die Versammlung nicht in Harmonie ist mit dem Werke des Herrn. Die Persönlichkeit erkennt ihr nicht an, sonst würdet ihr sie gewählt haben. Im Gegensatz zu den Persönlichkeiten stehen heißt im Gegensatz zum Werke stehen. Wenn ihr zu den Persönlichkeiten kein Vertrauen habt, habt ihr auch zum Werke keins. Br. Rutherford keine Stimme, Br. Binkele (Zentraleurop. WTG- Büro Bern) nur eine, Br. Balzereit nur 60, wie könnt ihr da inHarmonie mit dem Werke sein?"

Um nochmals das der WTG total verhasste Uraniabuch zu bemühen. Letzteres meint Rabe vorhalten zu können:

„Rabe war demnach 1944 nicht in einem Konzentrationslager wie die anderen verhafteten WTG-Bezirksdiener, sondern in Freiheit im Memelland. Er wohnte dort in Heidekrug. In seinem Bericht verschweigt er natürlich, wie das zu jener Zeit möglich war. Es gab indes nur eine Möglichkeit für WTG-Funktionäre, nach ihrer Gefängnishaft nicht in ein Konzentrationslager gebracht zu werden: Sie mussten sich ihre Freiheit durch unterschriftliche Verpflichtungen bei der Gestapo erkaufen. Erst recht betraf dies die höchsten WTG-Funktionäre, zu denen Rabe zählte."

Der Fall Rabe ist jedoch auch deshalb exemplarisch, weil er nicht nur die Schattenseiten des Naziregimes, sondern eben auch die der Sowjetunion, am eigenen Leibe erfuhr. Bestand zwischen dem Naziregime und der Sowjetunion in der Behandlung der Zeugen Jehovas ein wesentlicher Unterschied? Wohl kaum. Beide steckten die ihnen Mißliebigen in Konzentrationslager oder eben in Gulag-Lager im Falle der Sowjetunion.

Im „Wachtturm" vom 15. Mai 1956 ist ein Bericht überliefert, der diesem Georg Rabe zugeschrieben wird. Betitelt: „Ich lebte als Verbannter in Sibirien". Ihm zufolge, hatte sich Rabe (und das hatte ja die DDR prompt „aufgespießt") nicht der Fluchtbewegung in Richtung Westen angeschlossen, als das Kriegsglück die Nazis zu verlassen begann.

Wie immer man zu Rabe's unterstelltem oder tatsächlichen Versagen auch stehen mag. Es ist ein bedrückender Bericht.

Er sei deshalb auch an dieser Stelle kommentarlos im nachfolgendem zitiert:

Als deutscher Staatsangehöriger konnte ich im November 1955 nach 4 ½ jähriger Verbannung in Síbirien in mein Geburtsland zurückkehren. Doch viele Zeugen Jehovas aus dem Memelllande, aus Litauen, Lettland, Bessarabien und der Ukraine wie auch aus anderen Teilen Rußlands, die nichtdeutsche Staatsangehörige sind, befinden sich immer noch in diesem kalten Lande.

Während verschiedene Teile Deutschlands von den russischen Streitkräften besetzt wurden, befand ich mich in Ostpreußen (im Memelland). Unter dem Hitler-Regime hatte ich als Zeuge bereits über sechs Jahre in verschiedenen Gefängnissen und anderen Einrichtungen gelitten. Als das Memelland (jetzt Klaipeda genannt) auf Befehl Hitlers geräumt werden mußte, flüchteten die meisten Bewohner dieses Gebietes nach dem Innern Deutschlands. An dieser Flucht nahm ich nicht teil, denn ich konnte es mit meiner Auffassung nicht vereinbaren, unter dem Hitler-Regime Zuflucht zu suchen, das Jehovas Zeugen so unsagbares Leid zugefügt hatte.

Auch dachte ich, daß die Kommunisten den Zeugen Jehovas, die unter dem Regime Hitlers so sehr gelitten hatten, ein wenig Entgegenkommen erzeigen würden."

Offenbar stand Rabe mit dieser Hoffnung gar nicht mal so allein dar.

Dazu kann man auch vergleichen:

19402Also

Weiter geht es in seinem Bericht:

„Weit gefehlt. … Was die Verfolgung der Zeugen Jehovas betrifft, offenbarte sich die kommunistische Regierungsform als treue Nachfolgerin Hitlers und seiner nationalen Partei. Als die Russen kamen, flohen Geistliche und Prediger … Viele Zeugen Jehovas, die diese Menschen in Bedrängnis sahen, hatten Gelegenheit, ihnen Gottes Königreich zu verkündigen. Diese Gelegenheiten nahmen sie wahr. Die Folge war, daß in diesem Teil des Landes eine Anzahl neuer Versammlungen entstand.

Der russischen Sicherheitspolizei blieb alles dies nicht verborgen. Wiederholt wurden wir abgeholt und nach langen Vernehmungen über die Lehren und die Organisation der Zeugen Jehovas wieder freigelassen. Wir wußten, daß die Geheimpolizei Spione in die Versammlungen sandte, um auszukundschaften, was gesprochen wurde. … Noch im Jahre 1949 konnte ich zu fast 300 Personen sprechen, die bei einer einzigen Zusammenkunft zugegen waren.

Einen Tag später wurde ich auf offener Straße verhaftet. Ich verbrachte zwei Tage im Polizeigebäude und wurde dann nach mehreren langen Vernehmungen wieder auf freien Fuß gesetzt. Doch einige Tage später mußte ich wieder vor der Sicherheitspolizei erscheinen. Da erhielt ich den Auftrag, einen wahrheitsgetreuen Bericht über die Organisation der Zeugen Jehovas niederzuschreiben.

Ein Bericht wurde … auch über viele … zeitgemäße Wahrheiten abgefaßt. Auch wurde mitgeteilt, daß Jehovas Zeugen unter dem Regime Hitlers in grauenhafter Weise verfolgt worden waren, und daß am 7. Oktober 1934 von den Versammlungen der Zeugen Jehovas aus vielen Ländern Telegramme an die Reichskanzlei in Berlin gesandt wurden, die alle den gleichen Wortlaut hatten, nämlich: 'Ihre schlachte Behandlung der Zeugen Jehovas empört alle guten Menschen und entehrt Gottes Namen. Hören Sie auf, Jehovas Zeugen weiterhin zu verfolgen, sonst wird Gott Sie und Ihre nationale Partei vernichten.'

Ich bin überzeugt, daß dieser Bericht an die Zentrale der Sicherheitspolizei in Moskau gesandt wurde.

Der erste schwere Schlag gegen Jehovas Zeugen in diesem Teile Rußlands kam im September 1950. Eines Nachts wurden alle arbeitsfähigen Brüder und auch verschiedene Schwestern von der Sicherheitspolizei geholt und in die Gefängnisse des Sicherheitsministeriums in Wilna gebracht. Nach halbjähriger Untersuchungshaft wurden die meisten von Moskau aus zu 10jähriger Zuchthausstrafe verurteilt. Nach sechs Monaten nervenaufreibender Vernehmungen und Verfolgungen zeigte es sich, daß die Nerven vieler Verurteilten durch die Drangsalierung sehr gelitten hatten. Einige von ihnen wurden dann aus der Strafanstalt weggeholt und in verschiedene Arbeitslager gebracht. Viele mußten unter der Erde in Kohlengruben arbeiten. Einige wurden selbst bis in das hoch oben im Norden gelegene, berüchtigte Lager gesandt, das als Workuta bekannt ist. Eine Anzahl unserer Brüder arbeitet immer noch dort. Es ist dort sehr kalt. Jede Vegetation fehlt, und nach dem langen Winter folgt nur ein kurzer Sommer. Durch das grausame kommunistische Regime sind mehrere Brüder zufolge übermenschlicher Anstrengungen zu arbeitsunfähigen Invaliden geworden. Einige von diesen wurden dann zu ihren Familien in Sibirien gesandt.

Ende März 1951 kam die zweite Verhaftungswelle. Die noch nicht Verhafteten - ältere Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge und andere, die noch nicht zusammengetrieben worden waren - wurden in russischen Gewahrsam gebracht. Niemand wurde verschont, sondern alle schaffte man in Lastautos zu den Transportzügen, die für Sibirien bereitstanden. Nur wenige Habseligkeiten durften mitgenommen werden.

Nach 13 Tagen erreichten alle Zeugen Jehovas ihren Bestimmungsort, nachdem sie Tag und Nacht in Viehwagen gereist waren. Dann erging an sie die Meldung:

'Als Staatsfeinde seid ihr lebenslänglich nach Sibirien verbannt. Gebt jede Hoffnung auf, noch einmal in eure Heimat zurückkehren zu können.'

Jehovas Zeugen wurden jetzt von Tomsk bis Irkutsk und einige noch darüber hinaus als Arbeitssklaven auf verschiedene Kolchosen verteilt. … In diesen Gefangenenlagern und auch außerhalb, überall in Rußland, nehmen russische Leute in wachsender Zahl die Wahrheit an."

Der Pardel hat seine Flecken nicht geändert

Das Jahr 1955 darf man getrost der Hochphase des kalten Krieges zwischen Ost und West zuordnen. In der Ausgabe vom 1. 6. 1956 des "Wachtturms" hält die WTG Rückschau auf ihre Kongressveranstaltungen des Jahres 1955. Die waren in Deutschland, im wesentlichen auf zwei Örtlichkeiten konzentriert. Alles was sich zusammentrommeln lies (Josy Doyon berichtet als Schweizerin in ihrem Buch „Hirten ohne Erbarmen" davon; dass selbst die Schweizer Zeugen genötigt wurden, zur großen Zeugen Jehovas-Heerschau nach Nürnberg anzureisen). Mit Bedacht wurde jener Kongreßort gewählt, wollte man doch auf dem ehemaligen Hitler'schen Reichparteigelände, sozusagen einen symbolischen Sieg feiern. Da konnte auf individuelle Befindlichkeiten wenig Rücksicht genommen werden. Doyon schildert das auch mit der ihr bleibend haften gebliebenen Erinnerung, dass auf dem Kongreßgelände für sie der Moment kam, sich ihres Widerstandes, auch dorthin zu reisen, zu schämen.

Wurde doch triumphierend bekanntgegeben; dass hochschwangere Frauen dort Kinder zur Welt brachten. Wenn selbst die, in ihrem voraussehbaren Zustand, sich von dieser Reise nicht abhalten ließen, dann so Doyon, empfand sie ihren Widerstand, auch dorthin zu reisen, nunmehr als „kleinkariert!".

Eine indirekte Bestätigung der Aussage von Doyon, begegnet man auch in der "Erwachet!"-Ausgabe vom 22. 5. 1956, wo ein Pressebericht aus der Zeitung "Die Stadt Nürnberg" vom 11. 8. 1955 zitiert wird. Genannte Zeitung meinte unter anderem notieren zu sollen:

"Vom Kleinkind ... bis zur Großmutter ist jede Altersschicht vertreten. Sogar Kranke in Rollstühlen kann man sehen .."

Wahrlich ein bemerkenswertes Zeugnis, wozu Gruppendruck Menschen alles zu manipulieren vermag. Eigentlich gab es neben der Nürnberger Veranstaltung, im Jahre 1955 nur noch einen zweiten Zeugen Jehovas-Kongreß in Deutschland, in Westberlin. Den gab es auch nur im Hinblick auf die Zeugen Jehovas in Ostdeutschland, die man damit erklärtermaßen, auch noch erreichen wollte. Direkt nach Nürnberg zu fahren, war den wenigsten von ihnen möglich. Jedoch Westberlin, das lag im Rahmen des erreichbaren. Und als „Highlight" hielt es der damalige WTG-Vizepräsident F. W. Franz auch für angemessen, seinen Teil zur „moralischen Aufrüstung" beizutragen. In der genannten WT-Ausgabe liest sich das so:

Es „begab sich der Vizepräsident in die Büros der amerikanischen Radiostation RIAS in Berlin. … Dort ließ er eine 14 ½ Minuten dauernde Ansprache in Deutsch über Gottes Königreich auf Tonband aufnehmen, in deren Schlußworten er sich direkt an die Brüder in Ostdeutschland wandte, um ihnen Mut zuzusprechen, und ihnen zu versichern, daß wir in unseren Gebeten ihrer gedenken."

Ob diese Gebete den in kommunistischen Gefängnissen Einsitzenden real etwas brachten, mag man mehr als bezweifeln. Aber es ist schon klar, fünf Jahre nach offiziellem Verbotsbeginn, hieß für die WTG die Parole, das „ausharren" zu bestärken.

Bestärkt wurden sie in diesem Ausharren auch noch durch einen in positiver Tonlage gehaltenen Presseartikel der amerikanischen Armeezeitung für Europa, mit dem Titel "The Stars and Stripes", worüber "Erwachet!" in seiner Ausgabe vom 22. 3. 1956 hoch erfreut berichtet.

Tja, die kalten Kämpfer (die einen mit buchstäblichen Waffen, die anderen mit Ideologie), schätzen sich halt. Getreu dem Motto. Getrennt marschieren, aber gemeinsam zuschlagen. Ein gemeinsames Feindbild hatten sie ohnehin.

Bereits 1951 waren "The Stars an Stripes" die Zeugen Jehovas einen positiven Bericht wert. Damals berichtete man vom 1951er Kongress der Zeugen Jehovas in Deutschland, bei dem WTG-Präsident N. H. Knorr höchstpersönlich mit anwesend war. Als für die Leser von "Stars and Stripes" notierenswert, wurde diesen in der Ausgabe vom 28. 8. 1951 über diesen Zeugen Jehovas-Kongress mitgeteilt:

(Knorr) predicted the Bible prophesy of a "catastrophe similan to the one in Noah's day" would come true to end to the present cold war stratemate. He said todays critical world situation was not caused by communism or the atom bomb, but by "ungodlines". Jehovah's Witnesses from 24 countries including 800 from the Soviet Zone and 150 from the U. S. attented the meeting here.

Das man jene Jahre wirklich als die Hochphase des kalten Krieges, auch im Falle der Zeugen Jehovas bewerten kann, macht auch eine scharfe Abrechnung im „Wachtturm" vom 15. 10. 1956 deutlich. Da wurde wahrlich kein Blatt vor dem Mund genommen. Einige Zitate daraus noch:

„Heute behauptet der räuberische, blutbefleckte, intolerante, totalitäre Pardel des Kommunismus, er habe seine Flecken geändert".

Schon diese Einleitung macht deutlich. Seitens der WTG wurde den östlichen Regimen auch nichts erspart.

Weiter geht's mit der Aussage:

„In seinen Freundschaftsanträgen gegenüber dem Westen beteuern seine Wortführer laut und oft ihre Reformbestrebungen und schieben die Schuld an allen in der Vergangenheit begangenen Missetaten dem einen Stalin zu. Jene, die geneigt sind, sich auf Wunschträume einzulassen, sind schnell bereit gewesen zu der Folgerung, daß der kommunistische Pardel, so wie er seine Taktik und Propagandalinie geändert habe, sich auch im Herzen geändert haben müsse. Aber Taten sprechen lauter als Worte."

Und zur Belehrung aller eingefleischten Antikommunisten, werden diese dann noch auf den Fall Zeugen Jehovas hingewiesen. Man berichtet:

„Ein auffallender Beweis von der Unaufrichtigkeit der Kommunisten zeigt sich in ihrer Behandlung der Zeugen Jehovas. Sie beschleunigen deren Verhaftungen, obwohl sie andere 'politische' Gefangene freilassen.

Dies geht aus dem Bericht hervor, der im Berliner 'Tagesspiegel' unter dem Datum des 9. Juni 1956 erschienen ist, und zwar unter dem Titel: 'Keine Glaubensverfolgungen in der Sowjetzone?' worin folgendes über die Sachlage in Ostdeutschland zu lesen stand:

'In den letzten Wochen wurden aus den Strafverbüßungsanstalten der Sowjetzone in Gruppen politischer Gefangene nahezu aller Kategorien vorfristig entlassen. Allerdings war eine Kategorie, sie macht 1/15 aller politischen Gefangenen aus, nicht unter den Entlassenen vertreten. Die Zeugen Jehovas. Es erfolgten vielmehr noch im April und Mai in Altenburg, Rostock und Magdeburg neue Verhaftungen. …

Sämtliche Verhandlungen gegen diese Angeklagten fanden bisher unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Weder die Angehörigen noch Entlastungszeugen durften daran teilnehmen. Seit dem 8. August 1950 sind 2814 Verhaftungen erfolgt; 1299 werden noch aufrecht erhalten. Urteilsreduzierungen sind nur in ganz wenigen Fällen vorgekommen. In 73 Fällen ist überhaupt noch kein Urteil erfolgt oder bekanntgeworden. 34 Zeugen Jehovas sind in Haftanstalten gestorben oder nach unmenschlicher Behandlungsweise zugrunde gegangen. Die durchschnittliche Strafhöhe liegt bei sechs Jahren und drei Monaten; 14 haben lebenslängliche Strafen.

Bis 1954 durften diese Häftlinge nicht arbeiten. Häufig mußten sie rote Bänder an Arm und Bein tragen, und das bedeutet, keine Bücher, keine Erlaubnis Schach zu spielen, keine Teilnahme an den gelegentlichen Filmvorführungen und Einzelzelle. Da die Zeugen Jehovas keine Blutwurst essen, diese aber häufig die einzige Fleischkost ist, sind sie auch, was die Ernährung angeht, benachteiligt."

Und kommentierend fügt die WTG zu diesem und ähnlichen Berichten dann noch hinzu:

„Warum ergreift der grimmige, mächtige kommunistische Pardel rücksichtslose Maßnahmen gegen die friedliebenden Zeugen Jehovas innerhalb seiner Grenzen?"

In den dann aufgeführten Ursachenkatalog, aus WTG-Sicht, befindet sich auch die Angabe:

„Ferner vertreten Jehovas Zeugen den biblischen Grundsatz, daß Jehova Gott zuerst kommt und daß der Cäsar nur das haben kann, was nicht Gott verlangt."

Unausgesprochen, aber durchaus deutlich, nimmt dies auf die 1929er Obrigkeitslehre von Rutherford Bezug, die ja auch zu diesem Zeitpunkt, noch voll in Kraft war. Wenn die WTG im nachfolgenden den totalitären Charakter der östlichen Regime herausstellt, dann hat sie damit im Prinzip zwar recht. Das jedoch ist nur die halbe Wahrheit. Ihr eigenes Regime ist in gleicher Weise totalitär. Und hier prallen jetzt zwei Totalitarismen in voller unversöhnlicher Härte aufeinander. Das war schon im Naziregime so. Und das wiederholte sich dann erneut in Ostdeutschland.

Über ihren politischen Marktwert, zumindest in westlichen Gefilden, ist sich die WTG dabei durchaus bewusst. Und so lässt sie denn auch prompt, den erhobenen Zeigefinger präsentierend, den Artikel mit der Aussage ausklingen:

„Solange Jehovas Zeugen zu Tausenden hinter kommunistischen Gefängnisgittern und Stacheldraht schmachten und noch weitere verhaftet werden, müssen Propagandaschlagwörter, wonach der Kommunismus sich im Herzen geändert habe, als lauter Heuchelei gebrandmarkt werden. Die sogenannte freie Welt sollte dankbar sein für das Beispiel, das Jehovas Zeugen geben, denn indem sie furchtlos und ohne auf Kompromisse einzugehen Stellung nehmen gegen das Totalitätsmonstrum, stellen sie die Ruchlosigkeit, die Intoleranz und Heuchelei der Kommunisten ins rechte Licht. Da besteht keine Frage: der kommunistische Pardel hat seine Flecken nicht geändert."

Die WTG unternahm auch allerlei, um diesem ihrem vermeintlichen politischen Marktwert zum Durchbruch zu verhelfen. So veröffentlichte das interne Zeugen Jehovas-Blatt "Informator in der März-Ausgabe 1956 einen Brief des WTG-Präsidenten N. H. Knorr. Letzterer pries besonders eine "Wachtturm"-Ausgabe (die vom 1. 4. 1956) an. Auch im Hinblick auf den darin enthaltenen Artikel: "Kommunistenführer fürchten die Wahrheit der Bibel". Es reichte Knorr aber bei weitem nicht, dass seine Zeugen in diesem Sinne instruiert wurden. Nein, er wollte mehr. Möglichst breite Öffentlichkeitswirksamkeit, so sein Ziel, wofür auch seine Angabe steht:

"Diese Sonderausgabe des 'Wachtturms' vom 1. April ist ein Wegweiser für alle Menschen ... und wird ihnen die Augen öffnen über die Zustände in Rußland. In den sechs Wochen, vom 21. März bis zum 30. April, möchte die Gesellschaft mindestens 10.000.000 Exemplare dieser besonderen Ausgabe verbreiten."

Offensichtlich ist es aber so, dass trotz aller Selbstanpreisung, nicht alle im Westen, den politischen Stellenwert der WTG-Religion in dem Maße zu schätzen wussten, wie sich die WTG das wünschte. Und weil das so ist, legt man dann in der Parallel-Zeitschrift „Erwachet!" noch entsprechend nach. Etwa wenn in dessen Ausgabe vom 22. 1. 1956 die folgende Bestandsaufnahme zu Papier gebracht wird:

„Ein weiterer Antrieb für die religiöse Erweckung ist der Patriotismus. Da der Kommunismus offensichtlich mit der Religion auf Kriegsfuß steht, gilt der Glaube an Gott in nichtkommunistischen Ländern als Beweis der Vaterlandstreue. Die Religion wird als das Mittel gepriesen, mit dem man den Feind schlagen könne."

Missmutig registriert die WTG, dass „Unwürdige" es verhindern, dass ihr politischer Marktwert „angemessen" gewürdigt wird. Es versteht sich daher für die WTG, dass diesen „Unwürdigen" wieder einmal die „Leviten verlesen werden müssen". In der Ausgabe vom 8. 2. 1956 des „Erwachet!" war es wieder mal soweit. Unter der Überschrift:

„Die Katholische Kirche ein Bollwerk gegen den Kommunismus?" liest man:

Immer häufiger hört man sagen, die Römisch-katholische Kirche sei ein 'Bollwerk gegen den Kommunismus'. Kürzlich schmückte der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, Richard Nixon, diesen bekannten Satz noch aus und bezeichnete die Kirche als 'eines der wichtigsten Bollwerke gegen Kommunismus und Diktatur'. Diese Erklärung wurde von der breiten Masse kritiklos hingenommen.

Zu den Ausnahmen, die diesen Ausspruch kommentierten, gehörte auch Dr. John A. Mackay, Präsident des Theologieseminars Princeton, der sagte;

'Ich fühle mich gezwungen, selbst auf die Gefahr hin, der Bigotterie bezichtigt zu werden, festzustellen, daß leider gerade das Gegenteil der Fall ist.'

Nun ist es ja klar, daß nicht beide Erklärungen der Wahrheit entsprechen können. Um herauszufinden, welche richtig ist, unterziehen wir dieses kirchliche Bollwerk am besten einer Prüfung.

Und was stellen wir fest?

Dr. Mackay sagte:

'Vor zwei Jahrzehnten schloß die Römisch-katholische Kirche mit Benito Mussolini, dem Diktator Italiens, und Adolf Hitler dem Diktator Deutschlands, ein Konkordat ab.'

Demnach arbeitete also der Vatikan mit tyrannischen Diktatoren zusammen.

Sozusagen die ganze Welt verurteilte den Überfall auf Abessinien, aber der italienische Klerus leistete im großen und ganzen nicht nur keinen Widerstand gegen den Faschismus, sondern billigte offen Mussolinis Angriff auf Abessinien. 19 Erzbischöfe und 57 Bischöfe gaben folgende Erklärung ab:

'Das katholische Italien dankt Jesus Christus für die erneuerte Größe des Landes, das durch Mussolinis Politik erstarkt ist.'

Jene Politik war eine Diktaturherrschaft.

'Heute', fuhr der Theologe Mackay fort, 'besteht zwischen dem Heiligen Stuhl und dem spanischen Diktator, Francisco Franco, dessen wichtigster Unterstützer er auch ist, ein Konkordat.'

Im Jahre 1954 verlieh der Vatikan Franco den Christusorden, die höchste Auszeichnung des päpstlichen Stuhles. Dabei war es Franco, der sich über die japanische Eroberung der Philippinen freute. Und es war Franco, der mit Schmunzeln die Nachricht aufnahm, daß der Vatikan kurz nach dem Überfall auf Pearl Harbor diplomatische Beziehungen mit Japan aufnahm. Somit reichte der Vatikan nicht nur Franco sowie dem Diktator Nazideutschlands und des faschistischen Italiens die Hand, sondern auch der totalitären Regierung Japans, und er zog sich nur zurück, wenn seinen Partnern das Glück nicht mehr hold war.

Und wie stark ist das Bollwerk, das der Vatikan gegen den Kommunismus aufgerichtet hat?

die katholischen Länder sollten von allen Ländern die größte Widerstandskraft gegen den Kommunismus haben. Ist dies auch der Fall?

Im Gegenteil, Dr. Mackay schreibt, daß die vorwiegend katholischen Länder wahre 'Brutstätten des Kommunismus' sind. Zu diesen gehört Lateinamerika, dessen Bevölkerung zu 90% katholisch ist, und auch Frankreich, wo Priester in die Fabriken arbeiten gingen, um die kommunistisch gewordenen Arbeiter zurück zu gewinnen. Die 'Arbeiterpriester' glaubten jedoch, der Erfolg ihrer Tätigkeit werde sich erst nach mehreren Generationen einstellen.

Andere unerwartete Folgen stellten sich jedoch schon früher ein:

Nicht wenige der Priester fielen selbst der roten Propaganda zum Opfer und entschieden sich für den Kommunismus! Wie stark war das Bollwerk?

Und wo ist die Widerstandskraft in Italien, wo ein Drittel der katholischen Bevölkerung für die Kommunisten stimmt? Trotzdem der Papst mit Exkommunikation gedroht hat, wird die kommunistische Partei immer stärker; im Jahre 1954 strömten ihr 180 000 neue Mitglieder - meistens getaufte Katholiken - zu!

Wie steht es also mit dem Bollwerk der katholischen Kirche? Unsere Prüfung hat gezeigt, daß sie gar kein Bollwerk ist.

Im Zusammenhang mit der Obrigkeits-Diskussion (Römer 13), die Anfang der 1960er Jahre auch die evangelische Kirche erreicht hatte, und in der ein evangelischer Bischof (Lilje) ein vom Osten als "Flinten-Interview" bezeichneten Kommentar abgab. Ursächlich verursacht durch eine Streitschrift eines anderen evangelischen Bischof's (Otto Dibelius).

In diesem Interview wurde der zuerst genannte evang. Bischof gefragt, welche Empfehlungen er denn den Bürgern in "Mitteldeutschland" (Polen wäre in dieser Terminologie dann "Ostdeutschland") geben würde. Ob er wohl den "Mitteldeutschen" raten würde zur "Flinte" zu greifen.

Ziemlich unverblümt dessen Antwort: Direkt aussprechen möchte er es das nicht. Denken aber würde er es wohl.

Hier schon begegnet man zwei Charakteristika. Wer den Polen als "Ostdeutschland" bezeichnet, der plädiert ziemlich rabiat für die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges.

Wer den "Mitteldeutschen" de facto rät, zur Flinte zu greifen, tut ein gleiches.

Nun war im Jahre 1956 der 17. Juni 1953 noch nicht so übermäßig lange Vergangenheit. Wie der denn ausgegangen; die Erinnerung daran konnte doch wohl noch nicht ganz verblasst sein; nämlich mit der Niederwalzung durch sowjetische Panzer. Und welche Chancen zu jener Zeit jene gehabt hätten, die da tatsächlich mit dem Rat ernst gemacht hätten, in "Mitteldeutschland" zur Flinte zu greifen, ist ziemlich offenkundig.

Als der Osten 1961 seinen Laden dann dicht machte, da zogen selbst die großsprecherischen Amis klammheimlich den "Schwanz ein". Als ihre Panzer an der Berliner Sektorengrenze den sowjetischen Panzern gegenüberstanden. Genau an der Stelle, traten sie aufs Bremspedal. Sie wagten es nicht, ihrerseits zur weiteren Eskalation beizutragen. Und selbst der großsprecherische westdeutsche Bundeskanzler Adenauer, damals noch im Amt, verkroch sich vor der Herausforderung des 13. August 1961.

Weder Adenauer noch die Amis zogen den Schwanz ein, weil sie den Osten "so liebten". Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Aber ihr politischer Instinkt sagte ihnen sehr wohl. Gehen sie jetzt zu weit, hat das unabsehbare Konsequenzen. Unter den gegebenen Umständen ist es - verantwortbar - nicht machbar, den Osten in die Schranken zu verweisen. Wird diese unsichtbare Schranke überschritten, bedeutet sie nichts anderes als die Eskalationsschraube in Richtung tatsächlichem Krieg zu drehen. Diese Verantwortung wollten sie dann doch wohl nicht übernehmen.

Das war die tatsächliche politische Großwetterlage, die es im Blick zu halten gilt.

Wie indes agierten die Zeugen Jehovas im Jahre 1956. Nun sie setzten in jenem Jahre just ihre Variante eines "Flinten-Interviews" in die Welt. Aufhänger für sie dabei die Wahlen in der sogenannten "DDR". Ihre Kommentierung die sie dabei ablieferten war synchron mit jenen, für welche die "DDR" immer noch nur "Mitteldeutschland" war. Und es fehlt am Ende jenes Artikels auch nicht an jenem verklausulierten Aufruf. Direkt die Flinte zu ergreifen. Das möchte man nicht aussprechen. Denken aber tue es man sehr wohl.

Sicherlich war man dabei im weitgehenden Konsens mit westlichen politischen Kreisen. Das ist unstrittig. Man sprach nur aus, was die auch dachten. Indes für eine internationale Organisation, die vorgibt "neutral" zu sein, ist das so nicht hinnehmbar. Wenn man denn im westlichen Mainstream mitschwimmt, mitschwimmen will, lässt sich die Fiktion angeblich "neutral" zu sein, nicht aufrecht erhalten. Das gilt es immer wieder auszusprechen.

In Übereinstimmung mit dem westlichen Mainstream kommentierte "Erwachet!" in seiner Ausgabe vom 8. 6. 1956:

Anlässlich der Außenminister-Konferenz in Genf im November 1955 erklärte Molotow stolz, daß die Ostdeutschen mit ihrer Regierung zufrieden sein müßten, sonst hätte Ministerpräsident Otto Grotewohl wohl nicht 99% aller Wählerstimmen erhalten. Als der britische Außenminister Macmillan darauf entgegnete, die Erfahrung habe gezeigt, daß kein Mensch sondern nur ein "lebendes Wunder" einen solchen Wahlsieg erringen könnte, machte Molotow ein finsteres Gesicht und wandte sich ab.

Wie gelang der kommunistischen Marionettenregierung dieses "Wunder", 99% der ostdeutschen Stimmen für sich zu gewinnen?

Erstens wurde eine Wahlvorbereitungsversammlung der Kommunisten und anderer führender Parteien abgehalten und eine Einheitsliste aufgestellt. Jeder Stimmzettel der in die Urne geworfen wurde, galt als Stimme für diese Liste, ganz gleich wie er ausgefüllt worden war.

Die Wahl wurde an einem Sonntag durchgeführt. Bis zum Mittag hatten alle Treuen und Furchtsamen gestimmt. Dann sprachen kommunistische Agenten bei denen vor, die noch nicht gewählt hatten. Hatte ein Agent keinen Erfolg, so sprach ein Komitee vor und anerbot sich, den zögernden Wähler im Auto zum Wahllokal zu führen. Wenn der Wähler krank war, wurde ein Krankenwagen zur Verfügung gestellt, und konnte er das Bett nicht verlassen, so wurde ihm eine Wahlurne ans Bett gebracht.

Die Arbeiter der verschiedenen Fabriken sowie die Bewohner großer Wohnblocks mußten gemeinsam hinter ihren Fahnen zum Wahllokal marschieren. Die Schulkinder mußten Briefe an ihre Eltern schreiben, in denen sie dringend ersuchten, aus Dankbarkeit für alles, was die Regierung für sie getan hatte, zugunsten des kommunistischen Regimes zu stimmen! Personen, die Wohlfahrtsunterstützung oder Altersrente bezogen, wurde angedroht, daß die Unterstützung gekürzt werde, wenn sie nicht zur Wahl gingen. Es kam auch vor, daß ein widerspenstiger Nichtwähler durchgeprügelt wurde.

Obwohl sich die Kommunisten rühmen, in Ostdeutschland 99% der Stimmen erhalten zu haben, offenbart doch ihre Weigerung, das Volk über die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands abstimmen zu lassen, wie wenig dieser 99prozentige Wahlsieg zu sagen hat. Diese Tatsachen stellen nicht nur die Kommunisten als Heuchler bloß, sondern auch viele Ostdeutsche, die aus Menschenfurcht ein Regime begünstigen, das, wie sie selbst wissen, nicht nur gesetzlos ist, sondern auch ihre eigenen Interessen nicht wahrt.

Aus dem "Handbuch der Rauschgiftmafia"

Die "Wachtturm"- Ausgabe vom 15. April 1956 "glänzt" auch durch einen programmatischen Artikel. Zu ihm könnte man lediglich noch anmerken: Inhaltlich könnte er auch einem "Handbuch der Rauschgiftmafia" entnommen sein, zur Schulung in diesem Gewerbe!

In diesem Schulungsartikel liest man unter anderem:

"Man denke daran, daß damals (in biblischen Zeiten) Krieg herrschte. Die Feinde verdienten es nicht, daß man ihnen, zum Schaden oder zur Gefährdung der Knechte Jehovas, die Wahrheit mitteilte."

Und weiter geht es mit der Anleitung:

"In Kriegszeiten ist es angebracht, den wölfischen Feind auf falsche Fährte zu lenken. Während die in falscher Richtung weggesandten Leute des Königs eine nutzlose Verfolgung aufnahmen, half Rahab den zwei Kundschaftern über die Stadtmauer zu entkommen."

Und das verklärt man dann mit dem Satz:

"Gottes Wort lobt ihre Tat als prophetischen Beweis ihres Glaubens.

Nun das vorgebliche "Gottes Wort" "lobt" noch einige andere Sachen; beispielsweise solche einem WTG Buch (englische Ausgabe. In der deutschen Ausgabe ist das gleiche Bild nur in schwarz-weiß wiedergegeben)

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Die dem zugrundeliegende "Philosophie" erschließt sich in dem Satz:

"Da die unchristlichen 'Wölfe' den 'Schafen' den Krieg erklären und 'tatsächlich wider Gott streiten' wollen, ist es angebracht, daß die harmlosen 'Schafe' im Interesse des Werkes Gottes gegenüber den 'Wölfen' Kriegslist anwenden. Niemand, gegen den diese Strategie angewandt wird, wird dadurch ungerechterweise verletzt."

Schon an diesem Punkt angelangt, wurde seitens der DDR, auf die das ja im besonderen gemünzt war, Protest eingelegt.

In dem "Vorwurfskatalog" der DDR gegen die Zeugen Jehovas, fand sich unter anderem auch der Punkt, Spendengelder illegal aus ihrem Territorium, nach Westdeutschland ausgeführt zu haben. In der Sicht der Zeugen Jehovas, war das, wie vorstehend gelesen, durch ihre Kriegslist mit abgedeckt. Der Ostdeutsche Staat indes, unabhängig von der Verbotsfrage, wertete diesen ökonomischen Aspekt, schon mal ganz anders. Womit deutlich wird. Ganz so Milchmädchenhaft an die Sache heranzugehen, führt in eine Sackgasse. Wer sich dazu bekennt, Kriegslist anzuwenden. Für den ist der Schritt nicht mehr weit, sollten Geheimdienste auf ihm zukommen, auch denen zu Diensten zu sein.

Dem "kleinen" Zeugen wird man das in der Praxis wohl eher nicht unterstellen können. Schon ganz anders sah es bei den Leitern des Westberliner Zeugen Jehovas-Büro aus, als dass seinen Sitz noch in der Brunnenstr. hatte. Nachweisbar sorgten die dafür, dass einige ihrer Spitzenfunktionäre in der DDR, nebst Ehefrauen, mit gefälschten DDR-Ausweisen ausgestattet wurden. Und als das Westberliner Zeugen Jehovas-Büro dann sich in der Bayernallee befand, wollten die "Gerüchte" von östlicher Seite einfach nicht verstummen, dass sein Leiter, im dienstlichen Kontakt zum britischen Geheimdienst in Westberlin stehe.

Das wären dann sozusagen die "Ausführungspraktiken" dieser an sich theoretischen Zeugen Jehovas-Gesetze gewesen.

Weiter wird man im genannten "Wachtturm"-Artikel belehrt:

"Gott verpflichtet uns nicht, die Dummheit der Schafe an den Tag zu legen und unserem kämpfenden Feind in die Hand zu arbeiten. Wir sollten dem Samen der großen Schlange, der 'Vipernbrut', so vorsichtig wie Schlangen begegnen."

Also hier wird ein extensives, unversöhnliches Feindbild aufgebaut. Wohl kaum geeignet, die ohne Zweifel vorhandenen Probleme, etwa auf dem Verhandlungswege versuchen zu entschärfen. Das schloss solch eine Ideologie schon mal prinzipiell aus.

Weiter geht es mit der Ausführungsbestimmung:

"Wenn wir eine Gefahr sehen, sollten wir uns in Deckung gegeben vor den 'Wölfen', die der Herde Jehovas auflauern. ...

Es ist angebracht, die Vorkehrungen, die wir für das uns von Gott aufgetragene Werk treffen, zu verdecken. Wenn die wölfischen Feinde falsche Schlußfolgerungen aus unseren Überlistungsmanövern ziehen, wird ihnen durch die harmlosen Schafe, die in ihren Beweggründen so arglos wie die Tauben sind, kein Leid angetan."

Damit begibt man sich endgültig auf das Geheimdienst"niveau". Und die Praxis bewies, dass dem der Fall war.

Diese Ausführungen kann man eigentlich in einem Satz zusammenfassen.

Der Zweck heiligt für die WTG-Mafia die Mittel!

Das wusste man zwar auch so schon. Hier aber bekam man es nochmals schwarz auf weiß präsentiert.

Zum Thema siehe auch noch:

Kriegslist

19342Beraubung

Hunde

Wo sind sie geblieben?

Das Thema Fluktuation spricht das interne Blatt "Königreichsdienst" (für Deutschland) in seiner Ausgabe vom Dezember 1956 einmal an. Unter der Schlagzeile: "Begebt euch auf die Suche nach 4.000 fehlenden Schafen" liest man darin in wohlgesetzten Worten:

"Der Bericht des letzten Jahres zeigt dies: Wir erreichen eine Zunahme von sieben Prozent, und mehr als zehn neue Versammlungen wurden gegründet. Dies ist lobenswert. Die Gesellschaft denkt nun daran, daß ihr durch eure liebevolle Arbeit vorandrängen möchtet, um eines der Ziele unseres neuen Dienstjahres - die 10% Zunahme - zu erreichen. Das Ziel ist in Sicht.

Wie steht es mit jenen, die in den letzten zwei Jahren getauft wurden? Sind alle von ihnen emsige Prediger in eurer Versammlung? In den Jahren 1955 und 1956 wurden insgesamt 10.311 Personen getauft. Wie groß war die Verkündiger-Zunahme in dieser Zeit? Es wäre zu erwarten, daß etwa 10.000 Verkündiger mehr zu verzeichnen gewesen wären. War dies der Fall?

Nein, es waren nur 6.453.

Was geschah mit den anderen 4.000?

Die Sache wird noch kritischer, wenn wir folgendes in Betracht ziehen: Von den 6.453 Verkündigern entfallen nur 2.899 auf das Dienstjahr 1956. Doch im Dienstjahr 1956 wurden 3.648 getauft. Es fehlen also nahezu 800. Somit ergibt sich unter den Personen, die den Schritt der Hingabe bereits getan haben, die Möglichkeit, unser Ziel zu erreichen.

Innerhalb zweier Jahre haben somit ungefähr 10.000 Personen ihre Hingabe an Gott durch ihre Wassertaufe symbolisiert. Bedenkt auch, daß sich heute viele an der Verkündigung beteiligen, die noch nicht getauft sind.

Aus den Dienstberichten geht jedenfalls hervor, daß 4.000 Getaufte oder Ungetaufte fehlen. Wie können wir dies erklären?

Sind diese Schafe in die Irre gegangen? "

Weiter wird in dieser Ausgabe noch beklagt:

"Unser zweites Ziel für 1957 ist ein besserer Versammlungsbesuch. Daß er besser sein kann und besser sein sollte, als er während des Jahres 1956 war, zeigen folgende Angaben:

Nur 68% der Verkündiger besuchten die theokratische Predigtdienstschule,

71% die Dienstversammlung,

80% das Versammlungsbuchstudium und

74% das Wachtturmstudium."

Westberlin

Namentlich Westberlin ist "Erwachet!" in seiner Ausgabe vom 22. 11. 1956 einmal ein paar statistische Angaben wert. Danach begann man im zu 70% zerstörten Berlin nach 1945 mit weniger als 100 Zeugen Jehovas. Jedoch um 1950 verzeichnete man in Berlin-West (ohne Ostberlin das zur DDR gehörte mit ihrem dort einsetzenden Verbot). Also in Westberlin verzeichnete man zu dieser Zeit (September 1950) bereits 1.808 Zeugen Jehovas; zusammengefasst in 20 Versammlungen.

Um 1955/56 hingegen sollen es bereits 4.220 Verkündiger; zusammengefasst in 30 Versammlungen gewesen sein. Erfreut notiert die WTG: Dies entspräche einem Verhältnis von einem ZJ-Verkündiger zu 130 der übrigen Bewohner.

Die Bedeutung von Westberlin im Zahlengefüge der deutschen Zeugen Jehovas, wird auch an einer Statistikangabe im "Deutschen Pfarrerblatt" (1956 S. 454f.) deutlich. Danach gab es zum Zeitpunkt der Berichterstattung in West-Berlin etwa 5.000 Zeugen Jehovas. Mit Abstand folgt dann:

München = 2824

Hamburg = 1484

Stuttgart = 1050

Frankfurt/M. = 872.

Da ist es dann doch mal interessant, einen kleinen Zeitsprung vorzunehmen. Bis etwa 1984 wies die WTG in ihren Jahrbuchberichten Westberlin separat aus. Dann wurde es den Zahlen die BRD betreffend hinzugezählt und nicht mehr separat nachgewiesen.

Gemäß diesen Zahlen hatte man 1961 dann eine Verkündiger-Durchschnittszahl von 5.107 erreicht.

Ein Jahrzehnt später - also 1971 nennt man eine Durchschnittsverkündigerzahl von 5.412. Also das Wachstum in diesem Jahrzehnt kann man doch wohl eher bescheiden nennen; insbesondere stellt man es im Vergleich zu den vorherigen Wachstumsraten.

In jenem Jahre kam schon ein Zeuge Jehovas auf 387 sonstige Einwohner. Also auch diese Zahl hatte sich bedeutend abgeflacht.

Für das Jahr 1984 nennt man dann eine Durchschnittszahl von 4.907. Also ist der numerische Gesamtbestand in dieser Zeit zurückgegangen.

Die 1950er Jahre waren auch andernorts die "goldene Zeit" für die Zeugen Jehovas. Dies kann man auch an den USA bezüglichen Zahlen (in "Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben" S. 66f.) entnehmen. Danach hatte man dort im Jahre 1940 etwa 58.000 Verkündiger. Um 1946 dann etwa 66.000. Danach jubelt die WTG sei ein jährlicher Zuwachs von etwa 12.000 eingetreten, so dass man schon 1955 etwa 187.000 Verkündiger registrierte. In den USA ging es dann zwar auch abgeflacht, aber im Prinzip doch mit für die WTG positiver Tendenz fort. Eine Abflachung wie etwa im Falle Westberlin gab es dort in diesem Ausmaß nicht. Das hat sicherlich historische Ursachen; besitzt doch Religion als Philosopie-Ersatz für breite Volksschichten, in den USA seit jeher einen größeren Stellenwert.

Da kann man dann noch auf den "Wachtturm" vom 1. 11. 1956 verweisen.

Dieser notierte:

"In der Wochenschrift der nationalen katholischen Aktion, betitelt 'Our Sunday Visitor' vom 20. Mai 1956, schrieb der Geustliche John O'Brien über Jehovas Zeugen. Um zu zeigen, daß die Zeugen als Gruppe uninteressant und unerwünscht seien, sagte der Geistliche, daß sich in ihren Reihen in erster Linie arme Leute befänden, Arbeitslose, Arbeiter und Angehörige der in geistiger und wirtschaftlicher Hinsicht unteren Klassen. Dieses Argument verfolgend, fügte er dann hinzu:

'Gemäß dem 'Christian Century' vom Juli 1955 ist jeder fünfte Zeuge ein Farbiger. Die Massen umgesiedelter Puertorikaner, die in New York leben, und der Mexikaner aus Kalifornien und dem Südwesten haben die Mitgliederzahl der Sekte beträchtlich vermehrt. In der tat, die Organisation erzielt ihre größten Erfolge in rückständigen Ländern, wo das Analphabetentum herrscht.' ...

In der Stadt New York allein ist die Zahl ihrer Versammlungen vom Jahre 1935 bis 1956 von einer Versammlung auf 57 angewachsen."

Einige Statistikzahlen

Einige Zahlen über die Ostblock-Verbotsländer der Zeugen Jehovas, nennt der "Wachtturm" vom 15. 3. 1956.

Bezüglich Polen erfährt man: 1939 gab es dort 1.039 predigende Zeugen Jehovas. 1946 seien es dann 6.014 gewesen.

"Im Jahre 1947, trafen Gileadmissionare ein ... im Jahre 1948 gab es 10.385 predigende Evangeliumsdiener, und im Jahre 1950 war die überraschende Gesamtzahl von 18.116 erreicht."

Bezüglich der Tschechoslowakei heisst es, um 1938 gab es dort "1.166 tätige Evangeliumsdiener." Im Jahre 1946 dann 1.209. Und 1950 2.882.

Über Bulgarien wird eine Zunahme von 130 im Jahre 1944 auf 1.164 im Jahre 1954 berichtet.

Für Russland will man im Jahre 1948 einen Bestand von rund 8.000 wahrgenommen haben.

Bezüglich Jugoslawien werden 130 im Jahre 1944; angewachsen auf 1.164 im Jahre 1954 genannt

Alle Ostblockländer zusammen einschließlich der DDR, werden zum Zeitpunkt der Berichterstattung (um 1955) auf 64.123 aktive Zeugen Jehovas veranschlagt.

Außerhalb des Ostblocks liegend, aber von der Zahlenarithmetik nicht uninteressant, ist auch die Angabe für Österreich. Dort notierte man im Jahre 1945 einen Sockelbestand von 421.

Auch die Zahl der Schweizer Zeugen Jehovas im Jahre 1945 (nämlich 1.644) ist wohl eher nicht zu den "berauschenden" zu zählen. Pikanterweise, obwohl nach 1945 die Schweiz einen höheren "Sockelbestand" an Zeugen Jehovas hatte, wurde sie in den nachfolgenden Jahren, zahlenmäßig, selbst noch von Österreich überrundet.

Zieht man die Entwicklung der nachfolgenden Jahre mit in Betracht, insbesondere der Jahre nach der Aufhebung der Ostblock-Verbote, zeigt es sich. Relativ liberale Länder wie Österreich und Schweiz, sind nicht der "Humus", auf dem die WTG-Religion sonderlich gut gedeiht. Ganz anders hingegen Staaten mit Diktatur-Vergangenheit. Auch dort feststellbar. Sollte diese Diktatur-Vergangenheit eins Tages einmal halbwegs überwunden und liberale Verhältnisse tatsächlich eingekehrt sein, sind auch für die Zeugen Jehovas, die Zeiten der "großen Zuwächse" vorbei.

Nochmals auf Russland zurückkommend. Der "Wachtturm" vom 1. 4. 1956 (als Sonderausgabe firmierend) macht schon mal mit der reißerischen Schlagzeile auf:

"Kommunistenführer fürchten die Wahrheit der Bibel".

Auch an "Abrechnungen" mit letzteren mangelt es in dieser Ausgabe nicht. etwa wenn man da die markigen Sätze liest:

"Haben sich die achtunddreißig Jahre des kommunistischen Experiments so segensreich erwiesen, daß wir nun den Wunsch hegen, die ganze Menschheit durch totalitäre Herrschaft vereint zu sehen? Nein, sagen jene, die sie von Grund auf kennen. In der Praxis hat eine solche einen Polizeistaat zur Folge. Als Ganzes wird sie von Furcht beherrscht. Furcht bei hoch und niedrig. Die Männer in hoher Stellung, die die Plätze der Macht einnehmen, haben Angst, es könnte ein Volksaufstand ausbrechen, um sie zu stürzen; und sie mißtrauen einander. Sie fürchten sich vor den schrecklichen Säuberungsaktionen, durch die sie wegen eines unbeabsichtigten Fehltrittes aus der Partei ausgestoßen werden könnten. Die Leute unter ihnen sind ebenfalls fortwährend in einem Zustand der Furcht, einer Furcht vor Strafe, wenn sie sich nicht auf die Seite der machthabenden Männer stellen."

Und weiter geht es mit der Einschätzung:

"Die Freiheit, deren man sich rühmt, erweist sich lediglich als die Freiheit, sich der kommunistischen Partei anzuschließen oder für ihre Kandidaten zu stimmen. So wird jeder unter ihr Stehende zwangsweise gleichgeschaltet; Religion, Politik, Literatur, Erziehung, Presse, Handel, Landwirtschaft, Wissenschaft, Medizin, gesellschaftliches Leben und Schauspielkunst, ja alle Gebiete der menschlichen Bestrebungen werden staatlich organisiert, und alles wird so ausgerichtet, daß es einem Monolith gleicht, der unter den wenigen herrschenden Köpfen steht. Staatsanbetung wird von allen Niederstehenden verlangt, aber diese Staatsanbetung wird nicht von allen gerne gezollt."

Es dürfte wohl kaum einen zeitgenössischen westlichen Politiker gegeben haben, der nicht angesichts dieser "Wachtturm"-Ausführungen bestätigend gesagt hätte: Ja genau so ist es!

Weiter diesen Faden spinnend. Welche Konsequenzen pflegten westliche Politiker daraus zu ziehen? Nun, Winston Churchill brachte es durchaus treffend auf den Punkt, als er beklagte, man habe im zweiten Weltkrieg eigentlich doch "das verkehrte Schwein geschlachtet!"

Aus der zeitgenössischen US-Generalität, etwa General Mc Arthur weis man weiter, dass man es am liebsten nicht nur bei dieser Feststellung hätte bewenden lassen wollte, sondern praktische Schritte daraus ableiten wollte. Korea beispielsweise war solch ein "Ersatz-Schlachtfeld". Mc Arthur war fest entschlossen, das dortige Schicksal dergestalt zu bestimmen, indem dort die Atombombe erneut tatsächlich eingesetzt werden sollte.

Da wurde es selbst den Herren im Weißen Haus angesichts dessen etwas mulmig. Der damalige dortige Hausherr, Truman, pflichtete im inneren seines Herzens sicherlich auch Churchill bei. Aber wie er nun von Mc Arthur in die konkrete Entscheidungssituation gedrängt wurde: da machte er dann doch einen "Rückzieher". Er konnte es nur dergestalt machen, indem er Mc Arthur (der keinen Millimeter von seinen Positionen abwich) seines Postens entsetzte. Die Folgewirkungen dessen, haben sich - auch auf "religiöser" Ebene bis weit in die 1980er Jahre hinein fortgesetzt. Insbesondere in der Religion des Sun Myung Moon (Vereinigungskirche) der dort ansetzte, wo Mc Arthur zwangsweise aufhören musste. Es müsse den Dritten Weltkrieg geben, wusste Mister Moon zu tönen. Und weiter. Moon sah sich als Testamentsvollstrecker des Mc Arthur.

Da wurde es wieder einmal selbst einigen Falken in den USA (ansonsten nicht gerade "zart" besaitet), etwas mulmig. Dieser Moon als Mc Arthur-Verschnitt, selbst schon im Besitz einer eigenen Tageszeitung ("Washington Post") kann und darf nicht den politischen Ton angeben.

Als "Denkzettel" wanderte Moon einige Zeit dafür ins Gefängnis. Die Gummiparagraphen der Steuergesetzgebung machten es möglich.

Zum Fall Moon kann man auch vergleichen:

Moon

Egal wer es laut aussprach: Churchill, Mc Arthur, Mc Carthy, Moon und noch einige andere. Letztendlich wurden sie doch im letzten Moment "zurückgepfiffen". Die Verantwortung, einen tatsächlichen Dritten Weltkrieg losbrechen zu lassen, wollte bislang keiner der "Zurückpfeifer" wirklich auf sich nehmen. Und also lebte "das verkehrt geschlachtete Schwein", einstweilen weiter. Diese Zurückhaltung ist aber in der Tat keineswegs als "Sympathieerklärung" mißzuverstehen. Ganz sicher nicht. Nur in realer Einschätzung der tatsächlichen Machtverhältnisse, lies man es dann doch lieber beim ballen der "Faust in der Hosentasche" bewenden. Eines aber glaubte man doch tun zu können. Den Propagandakrieg in voller Schärfe anzufahren. In dieser Konsequenz wurde schon alsbald eine Institution wie der RIAS in Westberlin angefahren und zielstrebig ausgebaut. In dieser Konsequenz wurde dann auch Westberlin als hochsubventioniertes "Schaufenster des Westens" und anderes mehr in Szene gesetzt. Und in dieser Konsequenz stimmte auch die WTG lautstark (es wurde vorstehend schon zitiert) in das Konzert der kalten Krieger mit ein.

Sicherlich hatte sie, aufgrund ihrer spezifischen Erfahrungen mit den östlichen Regimen, auch ihre ganz persönlichen Gründe der "Abrechnung" mit ihnen. Wenn dem zwar so ist; muss sie sich dennoch sagen lassen, dass ihre "Schaufenmsterreden" letztendlich dem Bereich kontraproduktiv, zuortbar sind. Letztendlich war zwischen der Politik des Mister Moon und der Politik der WTG, der Unterschied nur graduell. Wer sich so "aus dem Fenster hängt", kann kaum erwarten, von seinem Widerpart mit "offenen Armen" empfangen zu werden.

Auch der WTG war es nicht vergönnt, das "verkehrt geschlachtete Schwein" doch noch zur Strecke zu bringen. Ihre Alternative hätte nur wie im Falle der anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften, im taktieren und lavieren bestanden. Davon indes war man Lichtjahre entfernt. Weil das so ist, musste aber auch der Preis einer solchen Politik bezahlt werden. Und der war bekanntermaßen hoch. Nicht so sehr für die Herrschaften in Wiesbaden und Brooklyn. Sehr wohl aber für jene, die z. B. der ostzonale Staat tatsächlich in die Gefängnisse beförderte.

In diesem Kontext sind, um jetzt wieder auf Russland zurückzukommen, die in dieser WT-Ausgabe noch mitgeteilten Details, bezüglich Russland, als ausgesprochene, heuchlerische "Schaufensterreden" zu bewerten.

Nachstehend noch als Zitierung, einige Passagen aus den Russland bezüglichen Ausführungen.

"Unsere Brüder in Rußland sind ganz und gar nicht zurückhaltend gewesen in dem Versuch, größere Freiheit zum Predigen der Königreichsbotschaft zu erlangen, und sie haben der Kommunistenregierung die Gelegenheit gegeben, Jehovas Zeugen als eine Religionsgemeinschaft anzuerkennen. Im Jahre 1948 sandten sie eine Petition durch den Innenminister an das Präsidium des Obersten Sowjetrates der UdSSR. Diese Petition beschrieb das Werk der Zeugen Jehovas in Rußland. Sie erhielten aber keine Antwort darauf. So begab sich eine kleine Delegation von drei Brüdern in das Innenministerium nach Moskau und unterbreitete die Petition persönlich. Auf die Frage, woher sie gekommen seien, erwiderten sie: 'Aus der Ukraine'. Deshalb wurde ihnen mitgeteilt, sich ans Innenministerium der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik in Kiew zu wenden.

Dort zeigte es sich, daß die Amtspersonen des Ministeriums auf ihr Kommen vorbereitet waren, denn nachdem diese drei Zeugen Jehovas ihre Petition unterbreitet hatten, wurden ihnen von der Regierung gewisse Vorschläge gemacht:

Wollen Jehovas Zeugen in der Armee dienen?

Wollt ihr euch an den Wahlen der Sowjetbehörden beteiligen?

Wollt ihr euch jedem Erlaß des Staates unterwerfen und mit anderen Religionsorganisationen zusammenarbeiten? ...

Die Vertreter der Zeugen Jehovas durften das Büro des Innenministeriums zwar verlassen, aber innerhalb weniger Tage drang man in ihre Wohnungen ein, sie selbst wurden durchsucht und später zu langen Gefängnisstrafen verurteilt."

Weiter erfährt man, dass am 1., 7. und 8. April 1951 "die Kommunisten eine große Säuberungsaktion durchführten. Jene Tage werden Jehovas Zeugen in Rußland nicht vergessen. An jenen drei Tagen wurden nämlich alle Zeugen Jehovas, die in der westlichen Ukraine, in Weißrussland, Bessarabien, in der Moldau, in Lettland, Litauen und Estland aufgetrieben werden konnten - mehr als siebentausend Männer und Frauen - verhaftet und weggeführt. Es wurde ihnen nicht gestattet, Kleider oder Nahrungsmittel mit zu nehmen. Ganze Familien wurden auf Fuhrwerken nach Bahnstationen abtransportiert, dort in Viehwagen verfrachtet und weit weg verschickt. Alle diese Verhaftungen erfolgten bei Nacht, und wenn man bis 7 Uhr früh nicht alle Zeugen Jehovas zusammengetrieben hatte, wartete man wieder bis zur Dunkelheit an jenem Tage."

Argentinisches Verbot

Das Argentinische Peron-Regime wurde im September 1955 gestürzt. Dies wiederum ist für "Erwachet!" in seiner Ausgabe vom 8. 2. 1956 Anlass genug, unter der Überschrift "Eine 12jährige Diktaturherrschaft endet", etwas über dieses Land zu schreiben. Was man zu berichten weis, klingt für die WTG nicht übermäßig erfreulich. Seit 1948 hatte sie verstärkt ihre Gileadmissionare auch nach Argentinien gesandt. Die Jahre zuvor, dümpelte ihr Werk dort eher so vor sich hin. Ablesbar auch an der dortigen Verkündigerzahl, die für für

1938 auf 128;

1945 auf 320,

1947 auf 647 und

1948 auf 927 beziffert wurden.

In den Jahren vor 1945 war das dortige Werk keinesfalls nur "glatt" vonstatten gegangen. Ersichtlich auch an der Angabe:


"Die ersten 'Schmerzen' in der Entwicklung des Werkes in Argentinien kamen in den frühen dreißiger Jahren: Streitigkeiten um Persönlichkeiten und Menschenverehrung traten zutage. Als der 'neue Name', Jehovas Zeugen, angenommen und das 'Wahlältesten-System' aufgegeben wurde, fielen einige ab und verließen die Organisation. Einmal wurden Unterschriften gesammelt, um Bruder Rutherford zu ersuchen, Bruder Muñiz als Zweigdiener abzusetzen. Einige, die unterschrieben hatten, kehrten später um und anerkannten die Ernennungen der theokratischen Organisation. Die Gruppen in Mendoza und Rosario erlitten zu verschiedenen Zeiten ähnliche Rückschläge."

Übrigens, auch Deutsche waren dort missionarisch tätig. Genannt werden Josef Bahner und auch Josef Niklasch. Letzterer ist ja auch noch besonders durch seine Rezitation des: "Ich bleibe standhaft" in dem gleichnamigen WTG-Video bekannt geworden.

Eine Odyssee hat sicherlich Niklasch hinter sich. Hauptamtlich in WTG-Diensten stehend, schon in deren Büros in Prag und Haarlem (Niederlande) während der Nazizeit, führten die widrigen politischen Verhältnisse schließlich im Jahre 1940 auch zu seiner Inhaftierung. Er überlebte aber diese Zeit. Nach 1945 dann im WTG-Büro Magdeburg tätig, hat es ihn dann offenbar - auf WTG-Anweisung - zeitweilig nach Argentinien verschlagen. Ab 1956 war er dann wieder nach Deutschland zurückgekehrt.

Das 1972er ZJ-Jahrbuch weiß zu berichten:
"Schließlich, im August 1950, wurde das Werk der Zeugen Jehovas offiziell verboten. Aus Resolution 351 des ministeriellen Erlasses wird als Grund angegeben, daß 'die Organisation [der Zeugen Jehovas] gegen die geheiligten Prinzipien der Magna Charta sei, indem sie Lehren verbreite, die gegen die bewaffneten Streitkräfte und gegen den Respekt seien, der dem nationalen Symbol gezollt werden sollte'. Immer und immer wieder haben Jehovas Zeugen durch ihre Vertretung im Lande um ihre Anerkennung nachgesucht, damit sie die gute Botschaft vom Königreich ungehindert predigen könnten, wie dies von der argentinischen Verfassung gewährleistet wird, doch bisher ohne Erfolg."

Als Drahtzieher im Hintergrund bezichtigt die WTG die katholische Kirche, was durchaus einige Plausibilität hat. Immerhin meint sie triumphieren zu können, dass trotz dieser Verbots-Umstände, ihr Werk dort weiter voran ging, ersichtlich auch an der Zahlenangabe. Zum Zeitpunkt der Verbotsaussprechung 1135 Verkündiger. Sechs Jahre später: 3865.

Gemessen an den Verbotskonditionen der Ostblockländer, scheint es aber in Argentinien relativ lasch gehandhabt worden zu sein. Ersichtlich, dass man im 1972er Jahrbuchbericht auch davon berichtet. 1956 habe man im Lande (Argentinien) mit dem Druck des "Königreichsdienstes" und sonstiger WTG-Formulare begonnen.

1958 attackierte man dann die argentinische Regierung mit weltweit versandten Protestbriefen, die eine Verbotsaufhebung forderten. Dazu notiert die WTG:
"Obwohl der Standpunkt der Regierung negativ blieb, indem sie sich auf den Erlaß 416 vom Jahre 1959 bezog, der den früheren Erlaß 351 vom Jahre 1950 stützte, wurde doch den Männern, die in Argentinien an der Macht sind, ein ganz vorzügliches Zeugnis gegeben."

Andererseits erfährt man:

"Bruder Knorr hatte versuchsweise den Entwurf für ein neues Zweigbüro vorbereitet, der später überarbeitet wurde, um ihn den städtischen Bauvorschriften anzupassen. Als diese Pläne von der städtischen Behörde in Buenos Aires und von Bruder Knorr schließlich genehmigt wurden, begann die Arbeit am neuen Gebäude. Das war im Oktober 1961. Bis zum Oktober des folgenden Jahres, konnte es bezogen werden."

Das spricht dann wohl doch eher für ein Detailverbot. Aber keineswegs für ein Gesamtverbot im Stil der Ostblockländer. Auch die nachfolgenden Verkündigerzahlen aus Argentinien weisen kontinuierliche Zuwächse auf, wie sie auch etliche andere Staaten aufweisen.

Zur Zeiten der Militärjunta in den siebziger Jahren, gab es dann in Argentinien 1976 ein erneutes Verbot. Dazu verwendet die WTG die Formulierung

"Aber das Werk der Zeugen Jehovas in Argentinien stand bereits seit 1950 unter Verbot. Sollte das bereits verbotene Werk nochmals verboten werden? Die Antwort kam unverzüglich. ..."

Man muss es wohl nochmals wiederholen. Solch drastische Auswirkungen wie die Ostblockverbote, hatten die argentnischen Verbote wohl nicht. Die WTG überlebte auch diese "Nadelstiche".

Griechenlands Geistlichkeit verschafft den Zeugen Jehovas Publicity

Griechenland, namentlich seine orthodoxe Kirche, ist seit jeher als ein Ort der Intoleranz bekannt. Insofern teilt „Erwachet!" in seiner Ausgabe vom 22. 10. 1956 nichts prinzipiell neues mit. Seitens der WTG besteht da ohnehin ein weinendes und ein lachendes Auge; ersichtlich auch an der Artikelüberschrift: „Die Intoleranz der orthodoxen Geistlichkeit - ein Bumerang". Das „lachende Auge" der WTG dabei offenbart sich besonders in dem Aspekt, dass der sich ihr entgegenstellende Widerstand, letztendlich eine Beförderung ihrer „Verkündigung" bewirkte. Es war schon immer so, dass auch eine negative Publicity (wie in diesem Fall) letztendlich doch eben Publicity ist. Das mit dem „tieferhängen" oder einfach zur Tagesordnung übergehen, diesen Publicity-Süchtigen, eigentlich wirkungsvoller begegnet werden könnte. Das hatte sich offenbar bei der Geistlichkeit Griechenlands noch nicht herumgesprochen. Man muss wohl noch hinzufügen. Dieser Blackout lässt sich wohl nicht „nur" im Falle der griechischen Geistlichkeit nachweisen.

Wie denn die griechische Geistlichkeit in die bereit gestellte Falle hineintappte, darüber liest man in der genannten "Erwachet!"-Ausgabe im geschönten WTG-Deutsch:

„Ein hervorragendes Beispiel von religiöser Intoleranz in unserer Zeit lieferte die orthodoxe Geistlichkeit Griechenlands, besonders in der Zeit vom August 1955 bis zum Juni 1956.

Im April 1955 haben Jehovas Zeugen die Broschüre 'Christenheit oder Christentum - was ist 'das Licht der Welt'?' in Millionen Exemplaren auf der ganzen Welt verbreitet. Einige Monate später ließen sie diese Broschüre samt einem Begleitschreiben allen Geistlichen sowie den Redakteuren von Zeitungen und Zeitschriften zukommen. Dies geschah auch in Griechenland, wo 7830 Exemplare an Geistliche und 764 an Redakteure gesandt wurden.

Die Mehrzahl der Redakteure ließ die Broschüre und ihre Botschaft unbeachtet. Ein einziger Redakteur übergab das ihm zugestellte Exemplar der Polizei und erklärte, dies sei ein widerrechtlicher Versuch, Proselyten zu machen. (Proselytenmacherei ist nach dem griechischen Gesetz strafbar). Das Gericht entschied jedoch, daß das Zustellen dieser Broschüre keine Verletzung des Gesetzes über die Proselytenmacherei darstelle und daher nicht gesetzlich zu bestrafen sei.

Die Pfarrer und Prediger der kleineren Sekten Griechenlands unternahmen keine Schritte gegen die Verbreitung dieser Broschüre. Jedoch die Geistlichen der griechisch-orthodoxen Kirche verhielten sich anders. Vom August 1955 bis zum Juni 1956 mußten sich 450 Zeugen Jehovas vor Gericht verantworten, weil sie eine oder mehrere dieser christlichen Broschüre an orthodoxe Geistliche gesandt hatten. Die Unduldsamkeit der orthodoxen Geistlichkeit hat sich auch als Bumerang für sie ausgewirkt, weil durch diese Gerichtsfälle großes Interesse an der Broschüre 'Christenheit oder Christentum' - 'Was ist das Licht der Welt'?' hervorgerufen wurde. Auch konnte vor den Gerichten des Landes und vor Regierungsbeamten ein noch nie dagewesenes Zeugnis gegeben werden. Jehovas Zeugen haben sich sehr gefreut, daß sie dieses Zeugnis geben durften, obschon es sie viel Zeit gekostet hat, sie Mißhandlungen auf sich nehmen und 180.000 Drachmen … für Anwaltskosten und Geldstrafen auslegen mußten."

Allerdings, man sollte auch den aggressiven Grundtenor seitens der Zeugen Jehovas, dabei nicht außer Acht lassen. So, wenn man etwa in der November-Ausgabe 1956 des internen Blattes der Zeugen Jehovas (jetziger Titel „Unser Königreichsdienst") liest:

„Unser Auftrag zu predigen, gilt für alle 24 Stunden des Tages, und zwar an jedem Tag, solange wir leben … Die Zeit, die wir für den Weg zur Arbeit und zurück benötigen, ist unsere Zeit, ebenso die Mittagspause. Benutzt diese Augenblicke, um mit euren Arbeitskollegen zu sprechen, mit euren Mitreisenden zu sprechen. Unterhaltet euch unterwegs mit den Reisegefährten. Sprecht beim Fassen von Treibstoff mit dem Tankwart. Gebt bei euren Einkäufen dem Kolonialwarenhändler Zeugnis, wenn es auch nur ein kurzes sein mag. Überlaßt ihm einen Traktat oder eine Zeitschrift. Predigt, wenn Vertreter vorsprechen. Predigt, wenn der Milchmann kommt. Predigt, wenn Freunde euch besuchen!"

Quasi als „Munition" für diese Strategie, diente nun auch noch die Aktion mit genannter Broschüre.

Schon die gewählte Titelwahl der Broschüre „Christenheit oder Christentum …„ offenbart diese Aggressivität. Durchaus noch in Nachfolgewirkung der Rutherford-These: Religion sei Gimpelfang und Erpressung. Mit eben nur „einer Ausnahme"; eben der Rutherford-Variante von „Religion". Verwiesen sei dabei auch auf das Interne Blatt der Zeugen Jehovas (damals noch „Informator" benannt. Jetzt „Unser Königreichsdienst"). Letzteres schrieb beispielsweise in seiner deutschen Ausgabe für April 1955:

„Grosser Feldzug mit neuer Broschüre beginnt!

Wir haben 15.312.000 in 19 Sprachen 'Christenheit oder Christentum - was ist das Licht der Welt?'

Am Sonntag, dem 3. April, sollten in der ganzen Welt mehr als 10.000 öffentliche Vorträge gehalten werden. Beginnt mit der Verbreitung der Broschüre, sobald sie freigegeben. Gebt die 20 Exemplare, die ihr im Anschluss an den öffentlichen Vortrag am 3. April erhaltet, möglichst schnell ab, und bezieht dann weitere zum Verbreiten. Jeder Verkündiger wird bestrebt sein mindestens 30, und jeder Pionier 100 solcher Broschüren zu verbreiten."

Die Mai-Ausgabe 1955 genannten Blattes jubelt:

„Unsere Pressen drucken weiter neue Broschüre. Täglich treffen Bestellungen für über 100.000 ein!"

Und die August-Ausgabe 1955 bringt dann das eigene Selbstverständnis dergestalt auf den Punkt:

„'Jehovas Zeugen führen Krieg'! Dies mag für einige befremdend klingen, aber nicht für Gottes Diener".

In der Februar-Ausgabe 1956 liest man in einem Rückblick dann:

„Der April-Feldzug des letzten Jahres mit der Broschüre 'Christenheit oder Christentum - was ist 'Das Licht der Welt'?' war ein auffallender Erfolg. Allein im April wurden in der Bundesrepublik mehr als 1.226.000 Exemplare verbreitet, und viele neue Höchstzahlen sowie schöne Zunahmen wurden erzielt."

Stalin abgewertet

Das Revue passieren lassen im Rückblick des Jahres 1955, kann man eigentlich nicht verantwortlich vornehmen, wenn man ein Ereignis übergehen würde, dass sich in jenem Jahre in der Sowjetunion zutrug. Westliche Medien haben es durchaus gebührend gewürdigt. Die des Ostens hingegen, hielten es mehr mit dem totschweigen. Gerade aber das, was versucht wird unter den Teppich zu kehren, entfaltet nicht selten, seine spezifische Eigendynamik. So war es wohl auch in diesem Fall. Es verwundert überhaupt nicht, dass auch "Erwachet!" in seiner Ausgabe vom 8. 4. 1956 dieses Ereignis eine Notiz wert war. Man kann weiter gehen und noch sagen. Es wurde sachlich darüber berichtet. Insofern habe ich da keinen wesentlichen Dissens. Nur eine Gedankenassoziation drängt sich mir dabei doch auf, der man selbstredend in "Erwachet!" nicht begegnet.

Der Stalinismus wurde just in jenem Jahre, formal vom Thron gestoßen. Böse Zungen indes meinen, er lebt in einer variierten Form fort, und zwar in jener Organisation, die da die Zeitschrift "Erwachet!" herausgibt.

Vielleicht nicht in der Form des politischen; sehr wohl aber in der Form des "Endzeit-Stalinismus". Die buchstäblichen Stalinisten, mussten nun ihr Credo, dass die "Partei immer recht habe", in der Form eines Lippenbekenntnisses zu Grabe tragen. Mehr als ein Lippenbekenntnis war es ohnehin nicht. Auch bei den Zeugen Jehovas wird man, wenn man es darauf anlegt, ähnliche Lippenbekenntnisse finden, die genau nur das sind. Und nicht einen Zoll mehr.

Nun aber zu dem "Erwachet!"-Bericht.

Unter der Überschrift "Stalin abgewertet" las man in dieser Ausgabe:

"In Moskau fand der 20. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion statt, an dem rund 1300 Delegierte teilnahmen, die 8 Millionen Mitglieder vertraten. In seinem Rechenschaftsbericht äußerte sich Parteisekretär Kruschtschew u. a. auch über das Thema der Koexistenz. Er sagte, daß zwischen der von der Sowjetunion vorgeschlagenen 'Politik der Koexistenz' und dem Sieg des Kommunismus in der Welt kein Widerspruch bestehe. Es handle sich um zwei verschiedene Sachen; im ersten Fall denke man an die Beziehungen zwischen den Staaten, im zweiten Fall habe man es mit einer ideologischen Frage zu tun. Die Sowjetunion werde auf ihre ideologischen Ziele niemals verzichten. Sie sei davon überzeugt, daß der Sozialismus in der Welt triumphieren werde. Es gebe aber mehrere Wege zur Erreichung dieses Zieles. Es sei nicht nötig, zur Gewalt zu greifen, man könne auf parlamentarischem Weg zum Erfolg gelangen.

'Das Hauptziel unserer Bemühungen ist der Ausbruch des Sozialismus aus den Grenzen eines Landes und seine Umwandlung in ein Weltsystem.'

Ganz besonders wurde hervorgehoben, daß die Sowjetunion nach den Grundsätzen Lenins bestimmt werde.

Als sensationell wurde die Rede Mikojans, eines der Vizeministerpräsidenten empfunden. Er verwarf gewisse Thesen Stalins, verurteilte scharf den um Stalin aufgezogenen Persönlichkeitskult und stellte fest, daß man 20 Jahre lang keine kollektive Führung im Sinne Lenins gehabt habe. Dies habe sich äußerst negativ ausgewirkt. Mikojan wandte sich auch scharf gegen die sowjetischen Geschichtsbücher, 'in denen einige Leute verherrlicht, andere aber überhaupt nicht erwähnt werden.' Verdiente Kommunisten seien sogar später als Volksfeinde bezeichnet worden.

- Dieser 20. Kongreß hat demnach mit Stalin abgerechnet. Der Stalin-Mythos wurde zergliedert. Statt den toten Diktator zu verherrlichen, legte man sein Sündenregister vor. Damit wird die Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands wieder umgeschrieben."

"Erwachet!" lies es nicht bei diesem relativ neutralem Bericht bewenden. In der Ausgabe vom 22. 9. 1956 legt man nochmals kräftig nach. Es ist eines, eine politische Meinung zu haben, die dem Kontrahenten keineswegs "gefallen" muss. Ein anderes ist es jedoch, wird diese dezidierte Meinung über eine internationale Organisation verbreitet, die vorgibt "neutral" zu sein. Hierzu muss man sagen: Es gibt dabei nur zwei Varianten. Entweder man steht zu der Meinung, was durchaus zuzugestehen ist. Dann aber kann man nicht mehr rechtmäßig für sich in Anspruch nehmen, "neutral" zu sein. Oder man hält sich bewusst, noch dazu als internationale Organisation, aus diesem Glatteis-Gebiet heraus. Genau das aber tat die Zeugenorganisation nicht. Sie konterkarierte damit einmal ihren ihre Phrase, angeblich "neutral" zu sein.

Unter der Überschrift "Und wieder stürzt ein Götze" führte "Erwachet!" unter anderem aus:

"... In der vergangenen Monaten ist nun auch der Götze Stalin mit großem Getöse zu Boden gestürzt.

Noch vor wenigen Jahren schien es, die Kommunisten könnten ihren Götzen nicht genug mit Lob überhäufen. Stalin war für sie der Quell der Weisheit, 'der größte Mensch auf diesem Planeten', 'der größte Führer der ganzen Menschheit', 'der genialste Wissenschaftler', 'das größte Genie der Menschheit', 'der weiseste Prophet', ja, und. sogar 'die Sonne des Weltalls'! Aber das wurde über Nacht anders, Der Götze Stalin, einst die Sonne der Kommunisten, stürzte krachend zu Boden und sein Licht erlosch.

Seine Bilder sind aus den Kunstgalerien entfernt worden. Institutionen und Organisationen, die seinen Namen trugen, werden umgetauft, die Geschichte der kommunistischen Partei Rußlands wird. umgeschrieben, aber diesmal nicht auf seinen Befehl. Allein in der 70 000 Propagandisten mit der Aufgabe betraut worden, den Stalin-Mythos zu zerstören Ukraine sind. Viele Personen, die Stalin im Zuge der Säuberungsaktionen in Rußland und den Satellitenländern umgebracht oder abgesetzt hatte, werden rehabilitiert und als Helden oder Märtyrer gepriesen, und ihre Bilder sind wieder in den Museen ausgestellt!

In ihrer offiziellen Erklärung über die Entthronung Stalins schrieb die Zeitung 'Prawda' unter anderem: 'Weil es ihm (Stalin) an Bescheidenheit fehlte, wies er die Huldigungen und Ehren, die man ihm darbrachte, nicht zurück, sondern förderte diesen Kult noch in jeder Art und Weise. Im Laufe der Zeit nahm dieser Persönlichkeitskult monströse Formen an und schadete der Sache sehr.' Über Nacht ist Stalin ein Monstrum geworden. - New York Times, 28. März 1956.

Keine Kritik an Stalin scheint jetzt streng genug zu sein; ohne Zweifel ist sie auch völlig berechtigt. Er gilt nicht mehr als das militärische Genie, das den zweiten Weltkrieg gewann, sondern wird jetzt beschuldigt, Hunderttausende von russischen Soldaten unnötig in den Tod gejagt zu haben, weil er die Sowjetunion nicht rechtzeitig auf den Angriff der Nazis vorbereitet habe; er habe nicht für die notwendige Ausrüstung gesorgt und, die Meinung seiner Armeeführer mißachtend, militärische Operationen befohlen, die verheerende Mißerfolge gewesen seien. Er wird auch beschuldigt, im Jahre 1937 viele Führer der russischen Armee und Tausende von schuldlosen Offizieren ermordet zu haben; durch die Beseitigung Tausender Industrieller die russische Wirtschaft nahezu gelähmt zu haben; ein Feigling gewesen zu sein, der vor den anrückenden Deutschen aus Moskau geflohen sei; ein Sadist gewesen zu sein, der sich daran ergötzt habe, Menschen zu quälen, bis sie das gestanden hätten, was er habe hören wollen. Auch sei Stalin, was - in den Augen der Kommunisten - am schlimmsten sei, kein echter Kommunist gewesen.

Man hört zahllose Vermutungen ...

Oder geschah es, weil die russischen Führer erfahren haben, daß Stalin jahrelang ein zaristischer Spitzel gewesen ist? Diese Anklage erhob einer der jetzt im Ausland lebenden höchsten Offiziere der NKWD, der gefürchteten russischen Geheimpolizei. Er sagte, daß die Entdeckung dieser Tatsache die führenden russischen Generäle im Jahre 1937 veranlaßt habe, die Beseitigung Stalins zu planen, Stalin habe jedoch davon gehört und sie auf Grund der Anklage, mit Deutschland zusammengearbeitet zu haben, beseitigen lassen. Gleichzeitig habe er alle, die davon wußten oder davon hätten wissen können, auf die Seite schaffen lassen - nicht weniger als 5000 Offiziere. - Life , 23. April 1956."

Es kann hier nicht darum gehen, den Details von Stalins Biographie im Einzelnen nachzugehen. Es fragt sich jedoch, was ein halbes Jahrhundert später, davon als gesichertes Wissen, beispielsweise in Lexika dazu eingegangen ist. Und da scheint mir, als ein Beispiel, dass die Unterstellung "Stalin habe auch eine Phase als zaristischer Spitzel" gehabt, eben nur eine Unterstellung ist; aber in keiner Weise je bewiesen wurde. Die "Wikipedia" beispielsweise legt sich in ihrem Stalin-Artikel dazu auf die Linie fest:

"Zwischen dem September 1936 und dem Dezember 1938 wurden schätzungsweise etwa 1,5 Millionen Menschen umgebracht. Umstritten bleibt in der Forschung, inwieweit die Verfolgungen von zum Teil treuen Anhängern einen rationalen Kern hatten, oder ob man von reinen Wahnvorstellungen Stalins reden muß."

Siehe auch: Kommentarserie 1956 zusammengefaßt

Der nächste Jahrgang   1957

Notizen aus "Informator" 1956

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