Vor (mehr als) 50 Jahren

Was 1907 Wahrheit war

Acta Pilati

Der 1851 geborene Theologieprofessor Paul W. Schmiedel, veröffentlichte im Jahre 1924, zuerst in der "Neuen Zürcher Zeitung"; danach auch noch in Broschürenform, eine Abhandlung, die er dem Titel gab: "Pilatus über Jesus bei den Ernsten Bibelforschern. Eine Fälschung aufgedeckt".

Geht man diesem Fakt näher auf den Grund, reichen die Wurzeln dessen gar bis ins Jahr 1907 (als einer relevanten Zwischenstation) zurück.

Just im Jahre 1907 veröffentlichte die "Aussicht" einiges dazu (S. 470f.).

In Stichpunkten zur "Aussicht" noch. Der deutsche "Wachtturm" (seit 1896 erscheinend), hatte um die Jahrhundertwende einen Erscheinungsknick. Sein Absatz war nicht so, wie Russell sich das gewünscht hatte. Und zeitweilig sah es so aus, als würde er die deutsche Ausgabe ganz "einschlafen" lassen. Einige Russell-Jünger in der Schweiz, die für Russell auch an der Übersetzung seiner "Schriftstudien" tätig geworden waren, bedauerten das auch. Und sie entschlossen sich, ab Oktober 1902 in das entstandener Vakuum tätig zu werden; mit der Herausgabe ihrer Zeitschrift "Die Aussicht".

Noch in der ersten Auflage des weltbekannten Lexikon's "Die Religion in Geschichte und Gegenwart" (1909 erschienen), wird noch wie Selbstverständlich, beim Bibelforscherthema auch auf "Die Aussicht", als ihnen zugehörig, verwiesen.

Dann aber, ab 1904, entschloss sich Russell wieder "das Geschäft doch lieber alleine machen zu wollen". Ab 1904 war die Herausgabekrise des deutschen "Wachtturms" dauerhaft überwunden.

Allerdings hatte er eben etwas zu spät reagiert. Auch die "Aussicht" erschien einstweilen weiter. Vielfach waren jene die vom Russell'schen Gedankengut beeindruckt waren, Abonnenten beider Zeitschriften ("Zions Wachtturm" und "Die Aussicht"). Der Konkurrenzkampf sollte sich erst in späteren Jahren zugunsten des "Wachtturms" entscheiden. Um 1907 war die Sachlage durchaus noch ungeklärt.

Just in der angegebenen Stelle des Jahrganges 1907 der "Aussicht", leitete deren Redaktion einen "Acta Pilati" überschriebenen Artikel mit der redaktionellen Einleitung ein:

"Aus unserm Leserkreis ist uns kürzlich dieses Schriftstück zugegangen mit der Bitte, dessen Inhalt zu prüfen und wenn dazu geeignet, in der 'Aussicht' erscheinen zu lassen."

Letzterem Anliegen kam die "Aussicht" offenbar nach.

Dieser Hintergrund ist allerdings dem eingangs genannten Theologieprofessor Schmiedel, entgangen. Letzterer stellte darauf ab, dass deutsche Bibelforscher, namentlich der Fritz Christmann zeitweilig (1915) verantwortlicher Redakteur des deutschen "Wachtturms". Das auch Christmann eine eigene Broschüre "Acta Pilati" als Herausgeber herausgebracht hatte. Auf die nun, nahm Schmiedel ganz offenkundig Bezug.

Über diesen Christmann vermag die WTG allerdings nur die dürre Auskunft zu geben:

"Aber nun ist Bruder Binkele, (im ersten Weltkrieg) wie Ihr wissen werdet, nach Amerika zurückgekehrt. Wir möchten die deutschen Geschwister benachrichtigen, daß nunmehr alle Angelegenheiten der Gesellschaft durch ein Komitee von drei Brüdern geregelt werden sollen, und zwar durch die Brüder Ernst Haendeler, Fritz Christmann und Reinhard Blochmann. . . ."

Von Dauer war diese Regelung wohl nicht. Ersichtlich auch an dem, was bereits im Buch "Geschichte der Zeugen Jehovas. Mit Schwerpunkt der deutschen Geschichte", bezüglich Christmann notiert wurde:

"Am 24. Juni 1916 konnte man im 'Volksboten' (Das zweite "Standbein" der frühen Bibelforscher in Deutschland) das nachfolgende Inserat von Christmann lesen: 'Wachtturmleser.

In meinem und der Wachtturmgesellschaft Interesse bitte ich Geldbeträge, die für das Bibelhaus Barmen bestimmt sind, nicht mehr auf mein Postscheckkonto Amt-Cöln Nr. 23377 einzusenden.

Fritz Christmann"

Man begegnet dem Namen Christmann in der deutschen Bibelforschergeschichte auch weiterhin. Insbesondere als Herausgeber der deutschen Varianten der Edgar-Schriften. Zum Beispiel Edgar "Der Sozialismus und die Bibel". Letztere von der WTG schon relativ früh publiziert (1913) und danach nicht mehr, war in späteren Jahren dann allerdings die alleinige Domäne der Christmann und Co.

Noch deutlicher wird seine Rolle, zieht man die frühe deutsche Oppositionsbewegung zur WTG, die "Wahrheitsfreunde-Bewegung" mit in die Betrachtung ein. Wenn auch zeitgenössische kirchliche Apologeten diese "Wahrheitsfreunde" über alle Maßen hochjubelten (getreu deren Motto: "Die Feinde meiner Feinde; sind auch meine Freunde"). So kann dieser Umstand nicht darüber hinwegsehen lassen. Das auch die "Wahrheitsfreunde" kritisch bewertet werden müssen. Und das schon vor 1933 ihnen der "Atem" ausgegangen war.

Bezüglich dieser Gruppierung vielleicht noch ein paar Zitate aus "Geschichte der Zeugen Jehovas ..."

"In Deutschland gaben einige aus diesen Kreisen seit etwa 1923 auch eine Zeitschrift heraus, die sich 'Der Wahrheitsfreund' nannte.

In einer Ausgabe aus dem Jahre 1925 dieses Blattes wurden drei Personen als verantwortliches Redaktionskollegium genannt: Fritz Christmann; Franz Egle und Ewald Vorsteher. Letzterer ist als der Kopf des Unternehmens anzusehen.

Sieht man sich diese Zeitschrift an, kann man sich des Eindruckes eines gewissen rechthaberischen Getues nicht erwehren.

Insonderheit fällt Vorstehers Steckenpferd auf, in Bezug auf 1925 'genauer' zu rechnen und so für ähnliche Erwartungen 1926 zu postulieren. Aus heutiger Sicht drängt sich die zynische Frage auf, wer bei dieser ganzen 1925/26 Rechnerei denn nun den 'Regen' und wer denn nun die 'Traufe' repräsentiert.

Einer aus dem genannten Redaktionskollegium (Egle) zog es denn auch nach einiger Zeit wieder vor, vom Regen in die Traufe zu wechseln. Oder meinetwegen auch von der Traufe in den Regen. Als die drei noch zusammen die Redaktion ihres Blattes betrieben, da gaben sie unter der Überschrift 'In letzter Stunde' auch einen Sonderdruck heraus. Auch er spart nicht an Polemik. Er offenbart aber zugleich, dass eine wirkliche Abnabelung vom WTG-Gedankengut durch Vorsteher nicht erfolgt ist. In seiner Polemik lässt Vorsteher auch mal ein paar frühere Endzeiterwartungen Revue passieren. Er kann es sich nicht verkneifen darzulegen, dass er mit seinem 1926 Datum mehr 'Recht' hätte."

Soviel also zu den Rahmenbedingungen

Nun mag es angebracht sein, etwas dazu zu sagen, was denn nun der genannte Schmiedel in seiner eigens verfassten Broschüre, zum Thema "Acta Pilati" mitzuteilen hat. Dazu nachstehend ein paar Auszüge daraus:

"Das ungewöhnliche Interesse, dass die 'Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher mit ihrer überall verkündigten Lehre auf sich zieht, mit dem nächsten Jahre oder mit einem der nächsten Jahre werde nach den Weissagungen der Bibel die selige Endzeit auf Erden beginnen, wird es rechtfertigen, wenn wir eine Broschüre ein wenig betrachten, die von den Ernsten Bibelforschern in der Schweiz verbreitet wird und in der Buchhandlung zu Barmen in der Rheinprovinz erschienen ist, die auch andere Literatur der Ernsten Bibelforscher ankündigt und vertreibt.

Der Titel lautet: 'Acta Pilati, Prozeß und Hinrichtung von Jesus Christus. Von Prof. Tischendorf, dem Auffinder des Codex Sinaiticus, für echt erklärt', 2. Ausgabe 1919. Verlag von F. Christmann, Barmen, Unterdörnerstraße 76.

Auf Seite 3 steht weiter als Teil der Ueberschrift: 'Amtliches Protokoll von Pontius Pilatus, Statthalter von Judaä, an Tiberius Cäsar in Rom. Eine getreue Abschrift der Protokolle, die unter alten Handschriften im Vatikan zu Rom gefunden wurden. "

An dieser Stelle mag der Text von Schmiedel erst einmal eine Unterbrechung erfahren. Es mag noch mal die genannte "Aussicht" zitiert werden, die in ihrer Einleitung lang und breit, auf die vorgebliche Textgeschichte einging. In der "Aussicht" las man dazu:

"Vorab verschiedenes ... zur Aufklärung, wie die Handschrift gefunden wurde und an die Öffentlichkeit gelangte.

An den geneigten Leser!

Es war im Jahre 1856, während ich in De Witt (Missouri) lebte, daß ein Herr Namens H. C. Whydaman während eines Eistreibens sich einige Tage in meinem Hause aufhielt. Er war ein Deutscher und einer der gelehrtesten Männer, denen ich je begegnete und dabei liebenswürdig und zugänglicher Natur. Während seines Bleibens erzählte er mit, er habe 5 Jahre in Rom verweilt und die meiste Zeit davon im Vatikan, wo er eine Bibliothek gesehen, die 560.000 Bände enthalte, wovon einige mit den ersten erfundenen Druckertypen gedruckt wären. Er sagte mir, daß er die Akten und Protokolle von Tiberius und darunter die sogenannten 'Akta Pilati' gesehen, enthaltend Verhaftung, Prozeß und Hinrichtung des Jesus von Nazareth; er bemerkte aber, daß es nicht viel beitrage zur allgemeinen Lehre des Christentums. Er sagte mir, er denke, daß er eine Abschrift davon erhalten könne.

Nachdem Herr Whydaman fort war, erinnerte ich mich dessen, was er mir betreffend dieser Protokolle gesagt und dachte es wäre sehr interessant, eine solche Abschrift zu bekommen, wenn es auch nichts zur gegenwärtigen Lehre des Christentums beitrage, wäre es doch eine gewisse Bestätigung. Nachdem Herr Whydaman schon einige Monate fort war, suchte ich seine Spur aufzufinden, wie folgender Briefwechsel zeigen wird.

De Witt, Caroll Co. Mo, 22. Sept. 1856

Mr. Henry C. Whydaman, New York City.

Geehrter Herr! Nachdem Sie mein Haus letztes Frühjahr verließen, dachte ich fortwährend über das nach, was Sie mir betreff den Akten von Pilatus mitteilten, welche Sie im Vatikan gelesen, während Sie in Rom waren. Wenn Ihnen gefällig, möchte ich gerne eine Abschrift dieser Protokolle, wenn die Kosten nicht zu hoch sind. Würden Sie sich freundlichst mit einigen Ihrer alten Freunde in Rom, auf welche Sie sich verlassen könnten, in Verbindung setzen und sich womöglich eine Abschrift verschaffen und wenn ja, was würden ungefähr die Kosten sein, eine solche zu beschaffen? Ich wäre Ihnen sehr verbunden und will Sie für Ihre Mühe und Ausgaben gerne bezahlen.

Hochachtend Ihr ergebener

W. D. Mahan.

Mr. W. D. Mahan.

Geehrter Herr! Ihren Brief zu Händen von Herrn Whydaman erhalten. Diene Ihnen zur Nachricht, daß er nach Deutschland zurückgekehrt ist. Ihr Brief wurde ihm nachgeschickt.

Ihr ergebener

C. C. Vaniberger.

Den 2. März 1857.

Rev. W. D. Mahan.

Werter Herr! Mit der freundlichsten Hochachtung gedenke ich Ihrer Gastfreundschaft während meines Aufenthaltes bei Ihnen in Amerika. Sein Sie versichert, daß alles, was irgend ich für Sie tun kann, mir zum großen Vergnügen gereichen wird. Ich habe Pater Freelinhusen geschrieben, einem Mönche von großer Gelehrsamkeit in Rom, welcher Oberaufseher im Vatikan ist. Ich machte das Gesuch in meinem Namen, da ich glaube, sie würden daselbst nicht Willens sein, ein solches Dokument in die Hände des Publikums zu geben. Sobald er antwortet, werde ich Ihnen wieder schreiben.

Ihr gehorsamster Diener

W. C. Whydamann.

Westfalen (Deutschl.), den 27. November 1857.

Rev. W. D. Mahan, De Witt, Mo.

Geehrter Herr! Pater Freelinghufen hat meinem brieflichen Gesuch betreffend der Abschrift, welche Sie wünschen, entsprochen. Er teilt mir mit, daß die Schrift sehr fein sei und in lateinischer Sprache, wie ich Ihnen sagte und das Pergament so alt und schmutzig, daß er genötigt wäre für den größten Teil ein Glas zu gebrauchen. Er kann es mir nur in lateinischer Sprache liefern, weil er nicht englisch versteht. Er will es tun für 35 Darikis, welches in amerikanischer Münze 62,44 Dollar (ca. Fr. 320) beträgt. Wenn Sie diesen Betrag schicken wollen, werde ich das Dokument meinem Schwager C. E. Vaniberger senden, er wird es für eine Kleinigkeit ins englische übersetzen.

Hochachtungsvoll Ihr C. Whydaman.

Chluicothe Mo, den 8. Februar 1858.

Mr. H. C. Whyhaman.

Werter Herr! Besten Dank für Ihre Güte und seien Sie versichert, wenn ich Erfolg habe, werde ich mich Ihnen gegenüber immer verpflichtet fühlen für ihre Mühe. Einschließend eine Anweisung an die ausländische Wechselbank in New-York für 62,44 Dollar. Lassen Sie die Arbeit gefälligst machen und bitten Sie Pater Freelinhusen um eine getreue Abschrift des Originals. Senden Sie dieselbe an H. Vaniberger zum übersetzen und ich werde dafür bezahlen. Er hat meine Adresse

Ihr ergebener W. D. Mahan.."

Danach folgen noch ein paar weitere Briefauszüge über den technischen Ablauf der Sache. Aus diesem Bericht wird deutlich, dass über amerikanische Kreise, das ganze auch auf die deutschsprachigen Bibelforscher in der Schweiz und Deutschland "übergeschwappt" ist.

Nun wieder zu dem Theologieprofessor Schmiedel und seinem Votum in der Sache zurückkehrend. Letzterer schreibt weiter:

"Hier ist nun schon das erste eine bare Unmöglichkeit. Wäre eine so unvergleichliche Geschichtsquelle wie die Akten und Protokolle des Kaisers Tiberius in Rom seit Mitte des vorigen Jahrhunderts zugänglich, so hätten sich die Forscher längst darauf gestürzt und sie wäre aller Welt bekannt. Statt dessen erfahren wir das erste Wort über sie durch unsere Broschüre."

Weiter meint Schmiedel:

"Wir besitzen aus alter Zeit einen anerkanntermaßen gefälschten 'Brief des Pilatus' über Jesus, gefälscht schon deshalb, weil er an den Kaiser Claudius gerichtet ist, der die Regierung erst im Jahre 37 antrat, während Pilatus nur bis 36 Statthalter war."

Zum inhaltlichem meint Schmiedel:

"Nun soll doch aber der ganze Bericht des Pilatus nicht bloß zur Bestätigung der Evangelien im allgemeinen, sondern sogar zum Beweis dafür dienen, daß jedes Wort der ganzen Bibel genau so, wie es im Urtext lautet vom heiligen Geist eingegeben sei."

Zum inhaltlichen dieser Christmann-Broschüre wurde schon einmal rekapituliert:

"Was den eigentlichen Text der von Christmann abgedruckten Acta Pilati an Tiberius Cäsar, Kaiser in Rom anbelangt, so ist es dem unbefangenen Beobachter klar, dass es sich hier um eines der üblichen legendenhaften Märchen ohne wissenschaftliche Bedeutung handelt. Dazu zur Veranschaulichung eine Kostprobe:

'Als ich (Pilatus) eines Tages beim Platze von Siloae vorbeiging, sah ich daselbst ein großes Gedränge von Leuten. Ich entdeckte in der Mitte einer Gruppe einen jungen Mann, der gegen einen Baum sich lehnend, ruhig und sanft zur Menge sprach. Es wurde mir gesagt, dies wäre Jesus von Nazareth. Das konnte ich leicht genug erraten, so groß war der Unterschied zwischen ihm und seinen Zuhörern. Ein goldenfarbiges Haar und Bart gaben seiner Erscheinung ein himmlisches Aussehen.'

Auf den legendenhaften Charakter kommt auch Schmiedel zu sprechen, wenn er bezüglich des zweiten Broschürenteiles anmerkt:

"Daß dies der Zweck der Broschüre ist, zeigt ihr zweiter Teil, der nicht mehr von Pilatus handelt, sondern die Überschrift trägt: 'Eine harte Nuß für Leugner der göttlichen Eingebung (Inspiration) der Schrift. ... den Inhalt bilden Berechnungen von Iwan Panin, durch sieben seien teilbar die Zahl der Wörter und ebenso der Buchstaben in Matth. 1, 1-11, die Summe der Zahlenwerte, welche den Buchstaben in Matth. 1, 1-17 entsprechen, wenn man sie als Zahlzeichen betrachtet, ferner die Zahl der Wörter des griechischen Lexikons, die in Matth. 28 benutzt werden und in Kapitel 1 - 27 nicht, oder im ganzen Matthäusevangelium und im übrigen Neuen Testament nicht, usw. usw.

... Das könne nur durch Inspiration, also durch wörtliches Diktat des heiligen Geistes so geworden sein.

Welche würdige Beschäftigung für ihn, beim Diktieren fortwährend darauf zu achten, das alles auf Teilbarkeit durch sieben herauskam!

Übrigens verrät uns Panin nicht, an welchen Abschnitten er seine Kunst vergeblich probiert hat."

Zu dem mit als Galionsfigur benutzten Tischendorf, merkt Schmiedel noch mit an:

"Nun aber Tischendorf! Der hochberühmte Tischendorf hat doch laut des Titelblatts unserer Broschüre die Akten des Pilatus für echt erklärt. Die in der Broschüre abgedruckten. Die hat er gar nicht gekannt; sonst hätte er sie ebenso selbstverständlich wie die anderen herausgegeben. Er hat nämlich in seinem Evangelica apocrypha 1853 und noch vollkommener in der zweiten Auflage von 1876 alles nach den besten Quellen herausgegeben, was von Akten des Pilatus erreichbar war.

Das sind nun aber ganz andere Akten des Pilatus, griechisch nicht lateinisch, obendrein mit der Angabe sie seien aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt. Erklärt denn nun aber Tischendorf auch nur diese Akten des Pilatus für echt? Er hält es für ausgemacht, dass sie von einem Christen nicht zu lange nach der apostolischen Zeit als ein Werk frommen Betrugs verfasst seien. Also, wo hat nun Tischendorf etwas von den Akten des Pilatus für echt erklärt?"

Man geht wohl nicht fehl in dem Urteil. Der erste Teil der Christmann-Broschüre dient nur dazu, mittels berühmter Namen ein Ehrfurchtsgefühl zu erwirken. Eigentlich geht es Christmann doch nur darum seine Panin-Thesen wirkungsvoll zu verkaufen.

Auch daraus noch einige Zitate:

'So ist nun auch bereits seit einer Reihe von Jahren ein der großen theologischen Welt ganz unbekannter, treuer Liebhaber des göttlichen Wortes, Iwan Panin, im stillen an der mühevollen Arbeit gewesen, aus dem äußeren Aufbau der einzelnen Bausteine und Stückchen, d. h. den einzelnen Buchstaben, Wörtern, Sätze, Abschnitte und Büchern der Bibel beider Testamente herauszureihen, dass diesem ganzen Wunderbau ein großer einheitlicher Bauplan eines unfehlbaren. göttlichen Geistes zugrunde liegen, der in seiner buchstäblichen Konstruktion den unwiderleglichen Beweis seines göttlichen Herkommens bis in die letzten Kleinigkeiten an sich trage.'

Dann referiert Christmann diesen Panin mit den Worten:

"Die 17 ersten Verse des Neuen Testamentes enthalten das Geschlechtsregister Jesu Christi. Es werden in den ersten 11 Versen im ganzen 49 verschiedene Wörter gebraucht, dass sind 7 x 7, oder sieben Zeiten. Daraus erhellt, dass diese Genealogie aufgebaut ist auf einem kunstvollen Plan von siebenen. Unter all den Hunderten von Abschnitten im Evangelium des Matthäus ist nun aber nicht ein einziger, der nicht dieselben auffallenden Merkmale an sich trägt."

Dieses Beispiel beleuchtet wie kein zweites schlaglichtartig, in welchem Umfeld die frühe Bibelforscherbewegung anzusiedeln ist. Die Tatsache, dass die Wachtturmgesellschaft sich später in nur halbherziger Weise von Christmann absetzte, ändert nichts daran.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass man bei den Bibelforschern apokalyptischen Berechnungen en gro begegnet. Es wird aber zugleich deutlich, dass ihr philosophisch-weltanschauliches Grundgerüst, einer ernsthaften Diskussion nicht wert ist.

Zwischen ihren Theorien und denen eines Astrologen oder eines Kaffeeesatzlesers, besteht kein qualitativer Unterschied.

Diese Organisation hat nur insofern Glück gehabt, dass sie als indirekter Nutznießer der großen Krisen unseres Jahrhunderts (der beiden Weltkriege) usw. agieren kann. Und niemand kann garantieren, dass es nicht weitere Krisen dieser Art gibt und geben wird. Davon lebt Religion, solange es Menschen gibt!

Exkurs:

Nach eigenen Angaben entstand die seit Herbst 1902 in Thun (Schweiz) erscheinende Zeitschrift "Die Aussicht" deshalb, dieweil der deutsche "Zions Wachtturm" zu jener Zeit einen nicht zu übersehenden Schwächeanfall erlitten hatte. Russell war zu jener Zeit nahe daran, den deutschen WT einschlafen zu lassen. Erschienen ist er zu jener Zeit ohnehin nicht mehr.

Zur "Aussicht" kann man auch vergleichen
Bitterer Rückblick

Als nun Schweizer Kreise begannen, die "Aussicht" zu starten, war er dann in der Tat hochgeschreckt und revidierte seine Politik. Das nur die "Aussicht" Sprachrohr seiner Deutschsprachigen Jünger werden würde, wollte er doch nun nicht zugestehen.

Im Vorfeld des Beginnes der "Aussicht" hatten deren Macher durchaus bei Russell sondiert, ob sie denn nun den Namen "Zions Wachtturm" weiterführen dürften. Nur eben in eigener redaktioneller und wirtschaftlicher Verantwortung. Dazu bekamen sie aus Pittsburgh ein knallhartes Nein zu hören.

Nur dann, wenn sie sich ausdrücklich verpflichten, nur Übersetzungen des englischen "Zion's Wachtower" und sonst nichts zu bringen, sei das möglich.

Jene Kreise welche dann die "Aussicht" herausbrachten, sind in organisatorischer Hinsicht keineswegs mit den heutigen Zeugen Jehovas vergleichbar. Das war durchaus ein "loser Haufen". Was sie zusammenhielt, war die Wertschätzung für Russells "Schriftstudien" und die darin ausgebreiteten Thesen.

Ergo wurde der Entschluss gefasst.
Die gestellte Bedingung aus Pittsburgh könne man nicht annehmen, man wolle aber freundschaftlich verbunden bleiben, und dokumentierte dies auch durch die Übernahme diverser Watchtower-Artikel in deutscher Übersetzung.

Etwa 1904 begann Russell seine ursprüngliche 1910-These zu revidieren.
Dazu kann man auch vergleichen
Rückblick auf das Jahr 1910
Dort: 1910 zu den Akten gelegt
Darüber war man auch in "Aussichts-Kreisen etwas konsterniert. Wortführer dabei ein gewisser J. Brenner, Buchdrucker seines Zeichens. Von ihm veröfffentlichte nun die "Aussicht" im August 1904 einen Artikel, der diese Konsterniertheit gegenüber Russell zum Ausdruck brachte. Im eigenen redaktionellen Geleitwort zu diesem Artikel findet sich auch der Satz:

"Uns selbst hat diese Rechnung sehr interessiert, der in Br. R(ussell).s Zeitrechnung enthaltene Fehler scheint fast auf der Hand zu liegen"

Tenor desselben. Wenn die 1910-These nun auf den Müllhaufen geworfen wird. Wer garantiert, dass sich Russell's übrige Thesen, insbesondere die für 1914, nicht ebenfalls als "Müll" erweisen?!

Da jene Kreise nicht nur Russell-Literatur lasen sondern sich auch andernorts "sachkundig" machten, entging es ihnen nicht, dass insbesondere Russell's 606 v. Chr.-Datum, auf ziemlich wackligen Füßen steht.

Zwar bekam Russell auch in der "Aussicht" die Chance zur Gegendarstellung. Allein liest man seine Ausführungen aufmerksam, zieht er sich auf die Grundthese zurück.
Seine Endzeitthesen seien quasi ein aus vielen Mosaiksteinchen zusammengesetztes "Kunstwerk". Die Entfernung nur eines kleinen Mosaiksteinchens bedeute zugleich, das gesamte "Kunstwerk" bricht zusammen. Das könne und wolle er natürlich nicht zugestehen. Da überdies das Datum 1914 noch in der Zukunft läge, solle man halt "abwarten und dann Tee trinken".

Damit waren denn Russell's Kritiker im "Aussichtskreis" einstweilen paralysiert.

Noch war es also nicht soweit, dass man deswegen "das Tischtuch" zerschnitt.

Etwa 1909 erreichte auch die "Aussicht"-Kreise eine Meldung aus dem fernen Australien. Dort residierte als Russell's Statthalter (nachdem er sich analoge Sporen davor schon in Deutschland und Großbritannien erworben), Russells Schwiegersohn, E. C. Henninges, als dortiger WTG-Häuptling (Ehemann von Russell's Stieftochter Rose Ball).

Aus meiner Sicht ist das, was dieser Henninges nun vortrug, billiges theologisches "Hinterhofkeller-Gezänk". Wer da nun recht oder nicht recht hatte, wissen die "Götter" (und die wissen es wahrscheinlich auch heute noch nicht).
Jedenfalls hatte dieser theologische Disput Folgen. Aus Pittsburgh kam dazu nur ein entschiedenes "Unterwerfen - aber keine Diskussion" herüber.

Solcherart in die Enge gedrängt, machte Henninges das Spiel nicht mit. Wenn also Pittsburgh fordert "Entweder - oder", dann entschied sich Henninges für das "Oder". Mit anderen Worten. Er machte nun seinen von der WTG unabhängigen Laden auf.

Die Kenntnis dieses Schisma gelangte auch in die Schweiz. Und in gewisser Hinsicht war das nun auch für die "Aussichts"-Kreise eine Art Initialzündung, nun auch ihrerseits über das "Zerschneiden des Tischtuches", näher nachzudenken.

An dieser Stelle mag dieser Rückblick abgebrochen werden. Bevor es zu diesem Schisma auch der "Aussichts"Kreise kam, hatten selbige schon einmal im besonderem Furore gemacht. Hatten sie doch einen merkwürdigen Text ("Aussicht" August 1907) einmal veröffentlicht, welcher vorgab, ein Lobgsang auf Jesus zu sein. In der "Aussichts"-Ausgabe vom Mai 1910, wurde dann in der Form einer Kurznotiz, erneut die Werbetrommel für jenen dubiosen Text gerührt. Im "Wachtturm" jedenfalls ist ihnen in der Sache keineswegs widersprochen worden. Wohl aber von "gestandener Theologenseite".

Ohne die in der "Aussicht" dargestellte abenteuerliche Übermittlungsgeschichte, sei dieser Text einmal kommentarlos vorgestellt. Kommentarlos deshalb, weil ich seine Diktion keineswegs teile. Aber bilde sich jeder sein eigenes Urteil dazu:

"Akta Pilati"
an Tiberius Cäsar, Kaiser in Rom.
Edler Herrscher, Gruß!
Die Vorfälle letzter Tage in meiner Provinz waren solcher Art, daß ich dachte, die Einzelheiten zu berichten, wie sie sich zutrugen. Ich würde nicht überrascht sein, wenn im Laufe der Zeit dieselben das Schicksal unserer Nation ändern würden. Es scheint, als ob die Götter kürzlich aufhörten, uns gnädig zu sein. Beinahe bin ich versucht zu sagen, verflucht sei der Tag, an dem ich Valerius Flacus in der Regierung Gelingen gab. Bei meiner Ankunft in Jerusalem nahm ich Besitz vom Prätorium und befahl, ein köstliches Mahl zu bereiten, zu welchem ich die Vornehmen in Galiläa, den Hohepriester und sein Gefolge einlud. Zur festgesetzten Stunde erschien aber nicht einer der Geladenen. Dies war eine Beschimpfung meiner Würde.

Nach einigen Tagen geruhte der Hohenpriester, mir einen Besuch zu machen. Sein Benehmen war feierlich ernst, aber höhnisch. Er gab vor, daß ihm und seinen Leuten verboten sei, am Tische eines Römers zu sitzen, wegen ihrer Religion. Ich dachte es wäre schicklich, seine Entschuldigung anzunehmen. Aber von diesem Augenblick an war ich überzeugt, daß sich die Besiegten als Feinde der Eroberer erklären.

Es scheint mir, daß von allen eroberten Städten Jerusalem am schwierigsten zu regieren ist. Das Volk war so unruhig, daß ich jeden Augenblick eine Empörung befürchtete. Dieselbe zu unterdrücken, hatte ich nur ein einziges Centurian, eine Handvoll alte Soldaten. Ich ersuchte den Präfekten von Syrten um Verstärkung, worauf er mir mitteilte, daß er selbst schwerlich genug Truppen habe, um seine eigene Provinz zu verteidigen. - Ein unauslöschlicher Eroberungsdurst für unseres Kaiserreiches Ausbreitung, übers Vermögen, die eroberten Gebiete dann auch zu behaupten und zu verteidigen, ist, fürchte ich, der Sturz unserer edlen Regierung. -

Unter den verschiedenen Gerüchten, welche mir zu Ohren kamen, weckte namentlich eines meine Aufmerksamkeit. Ein junger Mann, wurde mir gesagt, erschien in Galiläa und predigte in vornehmer Ausdrucksweise eine neue Lehre im Namen Gottes, welcher ihn gesandt habe. Zuerst war ich beunruhigt, daß seine Predigten das Volk gegen die Römer aufhetzen, aber bald verlor ich diese Befürchtung. Jesus von Nazareth sprach eher als Freund der Römer, als der Juden.

'Als ich (Pilatus) eines Tages beim Platze von Siloae vorbeiging, sah ich daselbst ein großes Gedränge von Leuten. Ich entdeckte in der Mitte einer Gruppe einen jungen Mann, der gegen einen Baum sich lehnend, ruhig und sanft zur Menge sprach. Es wurde mir gesagt, dies wäre Jesus von Nazareth. Das konnte ich leicht genug erraten, so groß war der Unterschied zwischen ihm und seinen Zuhörern. Ein goldenfarbiges Haar und Bart gaben seiner Erscheinung ein himmlisches Aussehen. Er schien ungefähr 30 Jahre alt. Nie sah ich so süße, ruhige heitere Gesichtszüge. Welch ein großer Unterschied zwischen ihm und seinen Hörern mit ihren schwarzen Bärten und gebräunter Haut.

Nicht willens, ihn durch meine Gegenwart zu stören, ging ich meines Weges, bedeutete aber meinem Sekretär, sich der Gruppe anzuschließen und zu horchen. Mein Sekretär hieß Maulius. Er war ein Enkel des Hauptverschwörers, welcher in Eturia lagerte, Catiline erwartend. Maulius war ein alter Einwohner Judäas und kannte die hebräische Sprache wohl. Er war mir ergeben und meines Vertrauens würdig. Ins Pretorium eintretend traf ich Maulius, der mir die Rede, welche Jesus bei Siloe gehalten, wiederholte. Nie habe ich im Pettico noch in den Philosofen etwas gelesen, was sich mit den Grundsätzen von Jesus vergleichen ließe.

Einer der zahlreichen aufrührerischen Juden in Jerusalem fragte ihn, ob es gesetzlich richtig sei, dem Kaiser Tribut zu geben. Jesus antwortete: Gieb dem Kaiser was dem Kaiser gehört und Gott was Gott gehört. Es war in Anbetracht seiner Weisheit in seinen Reden, daß ich dem Nazarener so viel Freiheit gewährte. Es lag ja in meiner Macht, ihn zu verhaften und nach Pontus zu verbannen, aber dieses wäre ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit, welche die Römer immer auszeichnete. Dieser Mann war weder ein Aufständiger noch ein Verführer. Ich gewährte ihm Gunst und Schutz, vielleicht ohne daß er es wußte.

Er hatte Freiheit zu handeln, zu sprechen, zu versammeln, aus dem Volke Schüler zu erwählen, unbeschränkt durch irgend eine prätorianische Verweisung. Sollte es jemals geschehen, sage ich, daß die Religion unserer Väter von der Religion Jesu verdrängt würde, was die Götter verhindern mögen, so wird es auf Grund dieser edlen Duldung sein, daß Rom ihre früheste Entwicklung förderte, während ich elende Kreatur das Werk dessen war, was die Hebräer Vorsehung nennen und wir Schicksal. Aber diese unbedingte Freiheit, welche Jesus bewilligt wurde, reizte die Juden, nicht zwar die Armen, aber die Reichen und Mächtigen.

Es ist wahr, daß Jesus streng gegen die letzteren war. Es geschah meiner Meinung nach aus politischen Gründen, daß ich die Freiheit des Nazarener nicht beschränkte. Schriftgelehrte und Pharisäer, würde er ihnen sagen: Ihr seit eine Brut von Vipern, ihr gleicht bemalten Grüften. Zu andern Malen würde er hohnlächeln über die Almosen der Angesehenen, ihnen sagend, daß die kleine Gabe der Witwe köstlicher ist in den Augen Gottes.

Täglich wurden neue Beschwerden über erlittene Beschimpfungen durch Jesus im Prätorium vorgebracht. Ebenso wurde ich benachrichtigt, daß ihm ein Unglück widerfahren könnte, daß es nicht das erste Mal wäre, daß Jerusalem diejenigen gesteinigt hätte, welche sich Propheten nannten und wenn das Prätorium Gerechtigkeit verweigerte, würde beim Kaiser Beschwerde eingereicht. Trotzdem wurde meine Haltung durch den Senat gutgeheißen und mir nach Beendigung des persischen Krieges Verstärkung versprochen. Zu schwach, einen Aufstand niederzuwerfen, entschloß ich mich, Maßnahmen zu treffen, welche die Ruhe in der Stadt herzustellen versprachen, ohne das Prätorium einer entwürdigenden Schwäche oder Nachgiebigkeit auszusetzen.

Ich erbat von Jesus schriftliche eine Unterredung im Prätorium. Er kam. Sie wissen, daß in meinen Adern spanisches, vermischt mit römischen Blut fließt, unfähig, kindische Gemütsbewegung oder Furcht zu empfinden. Als der Nazarener kam, wandelte ich in meinem Bafilie, als meine Füße wie mit eiserner Hand auf das Mormorpflaster geheftet schienen; ich zitterte an allen Gliedern, wie ein schuldiger Verbrecher; doch war er ruhig, der Nazarener, und sanft wie die Unschuld. Er kam mir nahe und mit einer Geberde schien er mir zu sagen, ich bin hier. Eine Weile betrachtete ich mit Bewunderung und Ehrfurcht dieses schöne, außergewöhnliche Bild eines Mannes; ein Bild eines Mannes, unbekannt unsern vielen Malern, welche unsern Göttern und Helden Form und Gestalt geben.

"Jesus", sagte ich endlich und meine Zunge stammelte, ich habe dir die letzten 3 Jahre unbegrenzte Freiheit der Rede zugestanden und bereue es nicht, Deine Worte sind wie die eines Weisen. Ich weiß nicht, ob du entweder Sokrates oder Plato gelesen hast. Aber dieses weiß ich, daß in deinen Gesprächen eine majestätische Einfachheit ist, welche dich weit über diese Philosophen erhebt. Der Kaiser ist davon unterrichtet und ich, sein geringer Diener in diesem Land bin glücklich, dir diese Freiheit gewährt zu haben, welcher du so würdig bist. Dennoch darf ich dir nicht verhehlen, daß die durch deine Reden mächtige eingefleischte Feinde erwuchsen. Sokrates hatte seine Feinde und er fiel als Opfer ihres Hasses. Die deinigen sind doppelt erbittert gegen dich, wegen deinen Reden gegen sie und über mich sind sie böse wegen der dir gewährten ausgedehnten Freiheiten. Diese eben klagen mich an, mit dir in geheimer Verbindung zu stehen, zum Zwecke, die Hebräer ihrer kleinen bürgerlichen Rechte zu berauben, welche Rom ihnen noch gelassen. Meine Bitte (ich sage nicht mein Befehl) ist, daß du in Zukunft umsichtiger bist und milder hinsichtlich der Erweckung des Stolzes deiner Feinde. Zuletzt wiegeln sie die dumme Bevölkerung gegen dich auf und zwingen mich, die Werkzeuge des Richters anzuwenden.

Der Nazarener erwiderte Pilato ruhig:
"Fürst der Erde, deine Worte sind nicht von wahrer Weisheit, Sage zum Sturzbach: stehe still inmitten deiner Bergesheimat, damit du nicht die Bäume des Tales entwurzelst. Der Sturzbach wird dir antworten, daß er den Gesetzen des Schöpfers folgen muß. Gott allein weiß, wohin der Sturzbach fließt. Wahrlich, ich sage dir, bevor die Rose von Scharon blüht, soll das Blut des Gerechten vergossen sein." Dein Blut soll nicht vergossen werden, antwortete ich mit Gemütsbewegung. Du bist kostbarer in meiner Hochachtung wegen deiner Weisheit als alle die rebellischen und stolzen Pharisäer, welche die Freiheit mißbrauchen, welche die Römer ihnen beließen, sich verschwören gegen den Kaiser und legen unsere Güte als Furcht aus. Die frechen Schufte sind es nicht gewahr, daß der Wolf der Tberia sich zuweilen in Schafspelz kleidet. Ich werde dich schützen gegen sie. Mein Prätorium ist dir als Zufluchtsort offen. Es ist ein geheiligter Ort.

Jesus schüttelte sorglos sein Haupt und sagte mit einer Anmut und göttlichem Lächeln, wenn dieser Tag kommen wird, dann ist keine Stätte für den Sohn des Menschen, weder auf noch unter der Erde. Die Zuflucht des Gerechten ist dort oben, indem er zum Himmel zeigte. Das was in den Büchern der Propheten geschrieben steht, muß erfüllt werden.

"Junger Mann" sagte ich milde, du nötigst mich, meine Bitte in einen Befehl zu kleiden, die Sicherheit der Provinz, welche meiner Hut anvertraut, erfordert es. Du mußt mehr Mäßigung beobachten in deiner Rede. Übertritt nicht meine Befehle, die du kennst. Möge das Glück dich behüten. Lebe wohl!

Fürst der Erde, erwiderte Jesus, ich bin nicht gekommen, Krieg auf die Erde zu bringen, sondern Friede, Liebe und Wohltun. Ich bin am selbigen Tage geboren, an welchem Augustus Cäsar der römischen Welt Friede gab. Verfolgung kommt nicht von dir, ich erwarte sie von andern und werde ihr begegnen in Gehorsam, nach dem Willen meines Vaters, welcher mir den Weg gezeigt hat. Halte daher zurück deine weltliche Klugheit. Es ist nicht in deiner Macht, das Opfer an der Schwelle des "Tempels der Versöhnung" zu verhaften. Dies sagend verschwand er wie ein leuchtender Schatten hinter den Vorhängen des Basile.

Die Feinde Jesu gelangten bald darauf mit einer Adresse zu Herodes, welcher derzeit in Galiläa regierte, um sich Rache zu verschaffen am Nazarener. Hätte Herodes seiner eigenen Neigung gefolgt, er hätte Jesus sofort hinrichten lassen. Aber stolz auf seine königliche Würde fürchtete er sich eine Tat zu begehen, welche sein Ansehen beim Senate vermindern könnte. Herodes kam eines Tages zu mir ins Pretorium und sich nach unbedeutender Unterredung anschickend zu gehen, fragte er mich, was meine Meinung sei betreffend Jesus. Ich erwiderte, daß mir Jesus als einer der größten Propheten erscheine, welche große Nationen zuweilen erzeugen. Daß seine Lehren keineswegs gotteslästerlich seien und die Absicht Roms wäre, ihm volle Redefreiheit zu lassen, welches seine Handlungen auch rechtfertige. Herodes lächelte boshaft und ironisch grüßend verließ er mich.

Das große Fest der Juden war nahe und es war beabsichtigt, sich diese Gelegenheit zu Nutzen zu ziehen, bei dem allgemeinen Frohlocken, welches sich immer zeigt bei den Feierlichkeiten eines Passahfestes. Die Stadt war erfüllt mit einer Menge, welche den Tod des Nazareners verlangte. Meine Kundschafter berichteten mir, daß der Schatz des Tempels verwendet worden sei, um das Volk zu bestechen. Die Gefahr wurde drückend. Ein römisches Centurion wurde beschimpft. Ich schrieb dem Präfekt von Syrien, mir 100 Fußtruppen und ebenso viele Berittene zu schicken, er lehnte ab. Ich sah mich selbst, mit einer Hand voll Veteranen, zu schwach, um den Aufruhr zu unterdrücken und keine Wahl blieb übrig, als sie gewähren zu lassen.

Sie brachten Jesus gefangen und der aufrüherische Pöbel, vom Prätorium nichts befürchtend, glaubte mit ihren Führern, daß ich noch winke zu ihrem Tun und brüllten immerfort: "Kreuzige, kreuzige ihn". Drei mächtige Parteien hatten sich gegen Jesus vereinigt, erstens die Herodianer und die Saduzäer, deren aufrührerische Haltung aus doppelten Beweggründen entsprang. Sie haßten den Nazarener und sind des römischen Jochs überdrüssig. Sie konnten mir nie verzeihen, daß ich in die heilige Stadt einzog mit Bannern, welche das römische Wappen trugen und obgleich ich in dieser Beziehung einen fatalen Fehler beging, erschien ihnen die Gotteslästerung weit weniger abscheulich. Ein anderer Groll war in ihrem Busen entzündet. Ich schlug nämlich vor, einen Teil des Tempelschatzes für das allgemeine Wohl, zur Errichtung von Gebäuden zu verwenden. Mein Vorschlag machte finstere Gesichter.

Die dritte Partei, die Pharisäer, waren die erklärten Feinde von Jesus. Sie ertrugen mit Bitterkeit die strengen Vorwürfe, welche der Nazarener drei Jahre lang gegen sie schleuderte, wo immer er hinging. Zu schwach und feige, selbst zu handeln, enthielten sie sich der Streitereien der Saduzäer und Herodianer. Neben diesen drei Parteien hatte ich gegen die gewissenlose und ruchlose Bevölkerung zu kämpfen, welche immer bereit ist, sich einem Aufstand anzuschließen, um aus der Unordnung und Verwirrung, welche daraus entstehe, zu gewinnen. Jesus wurde vor den Hohenpriester geschleppt und zum Tode verurteilt. Es war dann, daß der Hohepriester Calaphas eine spottende Handlung von Unterwürfigkeit ausführte. Er sandte seinen Gefangenen zu mir, sein Urteil zu bestätigen und die Hinrichtung von Jesus zu erwirken. Ich antworte ihm, daß, weil Jesus ein Galiläer sei, die Angelegenheit vor des Herodes Gerichtsbarkeit gehöre. Der listige Schleicher heuchelte Unterwürfigkeit und beteuerte, er ziehe vor, die Sache dem Statthalter des Kaisers zu überlassen. Er übergab also das Schicksal des Mannes in meine Hand. Bald hatte mein Palast das Aussehen einer belagerten Burg. Jeden Aufenblick nahm die Zahl der Aufständigen zu, Jerusalem war überfutet mit Volkshaufen aus den Gebirgen und von Nazareth. Ganz Judäa schien in die heilige Stadt zu strömen. -

Ich hatte ein Weib genommen, ein Mädchen von den Gauls, welche sagte, sie könne in die Zukunft sehen. Weinend warf sie sich mir zu Füßen und schrie: "hüte dich", siehe zu, berühre den Mann nicht, denn er ist heilig. Letzte Nacht sah ich ihn in einer Vision. Er ging auf den Wassern, er flog auf den Flügeln des Windes, er sprach zum Ungewitter, zu den Fischen des Sees, alles war ihm untertan und gehorchte ihm. Siehe! Der Gießbach am Berge Kidron fließt mit Blut, die Standbilder des Kaisers sind in Dunkel gehüllt. Die Säulen des Interiums sind gewichen und die Sonne in Trauer gehüllt, wie eine Vestalin in der Gruft. O! Pilatús, Übles erwartet dich, wenn du nicht auf die Bitte deines Weibes hörst. Drohe mit dem Fluch des römischen Senates und mit den Streitkräften des Kaisers. Während sie sprach, ächzte die Marmortreppe unter dem Gewicht der Menschenmenge.

Der Nazarener wurde mir zurückgebracht. Ich ging, gefolgt von meiner Garbe, nach der Gerichtshalle und fragte das Volk in strengem Tone: Was ist euer Begehr? Antwort: der Tod des Nazareners! Für welches Verbrechen? - Er hat Gott gelästert, er hat den Untergang des Tempels prophezeit, und nennt sich selbst der Sohn Gottes, "Messiah", König der Juden! Hierauf erwiderte ich: Römisches Recht bestraft diese Beschuldigung nicht mit dem Tod; aber: "Kreuzige ihn, kreuzige ihn", brüllte der unnachgibige Pöbel.

Das Geschrei der sinnlosen Menge erschütterte den Palast bis auf die Grundfesten. Da war nur einer, welcher ruhig schien in der großen Menge; es war der Nazarener. Nach vielen fruchtlosen Versuchen, ihn vor der Wut der erbarmungslosen Verfolger zu schützen, ergriff ich in diesem Augenblick eine Maßnahme, welche mir das einzige Mittel schien, sein Leben zu retten. Ich befahl ihn zu geißeln. Dann ein Waschbecken verlangend, wusch ich meine Hände in Gegenwart der Menge, damit meine Mißbilligung zu dieser Tat bekundend. Aber vergebens. Es war sein Leben, nach dem die Elenden dürsteten.

Oft in unsern bürgerlichen Vorkommnissen habe ich die Leidenschaftlichkeit der Menge mit angesehen. Aber nichts konnte mit diesem gegenwärtigen Ausbruch verglichen werden. Es möchte wahrhaftig gesagt werden, daß bei dieser Gelegenheit alle Schreckgestalten des Hades in Jerusalem versammelt waren. Der Haufe schien nicht zu gehen, sondern zu schweben und sich zu drehen wie in einem Wirbel, daherrollend wie lebendige Wellen, vom Portal des Prätoriums bis zum Berge Zion, rufend, schreiend, brüllend, wie solches nie gehört wurde, selbst in den Aufständen von Panonia, nach beim Getümmel im Forum.

Um die sechste Stunde dämmerte es und dunkelte wie im Winter, wie beim Tode des großen Julius Cäsar. Es war gleich der Finsternis im März. Ich, der Statthalter einer aufrührerischen Provinz, lehnte gegen eine Säule im Basilik, ängstlich die schreckliche Dunkelheit betrachtend. Diese Teufel von Barbaren hatten den unschuldigen Nazarener zur Hinrichtung geschleppt. Alles um mich her war wie ausgestorben. Jerusalem hatte seine Bewohner ausgespien, durch die Pforte des Begräbnisses, welche zur Schädelstätte führte. Eine Luft der Oede und Traurigkeit umhüllte mich. Meine Leibwache hatte sich den Berittenen und dem Centurion angeschlossen, um einen Schatten von Macht zu entfalten und bestrebt, Ordnung zu halten. Ich war allein gelassen und mein brechendes Herz ermahnte mich, was im gegenwärtigen Augenblick geschah, welcher eher zu der Geschichte der Götter gehörte als zu der der Menschen.

Ein lautes Geschrei wurde von Golgatha her vernommen, welches, getragen vom Winde, einen Todeskampf anzukündigen schien, welches sterbliche Ohren nie gehört. Dunkle Wolken ließen sich auf der Zinne des Tempels nieder und verbreiteten sich über die Stadt, alles wie mit einem dunklen Schleier verhüllend. So schrecklich waren die Zeichen am Himmel und auf der Erde, daß die Seherin (Areopagitin) soll gerufen haben: Entweder ist der Schöpfer der Natur leidend oder das Weltall fällt zusammen.

Gegen die erste Stunde der Nacht warf ich meinen Mantel um und ging nach der Stadt hinunter gegen die Pforte Golgathas. Die Menge kehrte heim, immer noch aufgeregt, es ist wahr, aber düster, schweigsam und wie verzweifelt. Das, wovon sie Zeugen gewesen, hat sie mit Schrecken und Gewissensbissen erfüllt. Ich sah auch meine kleine römische Schar trauernd vorüberziehen. Der Standartenträger hatte seinen Adler verhüllt zum Zeichen von Gram und Trauer und ich hörte einige Soldaten befremdliche Worte sprechen, aus denen ich jedoch nicht klug werden konnte. Andere wieder erzählten sich Wunderdinge, ähnlich denjenigen, welche die Römer siegen machte durch den Willen der Götter. Gruppen von Männern und Frauen hielten manchmal stille und schauten zurück nach dem Berge Golgatha, in Erwartung von dort her neue Wunder zu sehen. Ich kehrte zurück nach dem Prätorium, traurig und in mich gekehrt.

Die Treppe hinaufsteigend, die noch befleckt vom Blute des Nazareners, fand ich einen alten Mann in gebückter Stellung, und hinter ihm einige Frauen in Tränen. Er warf sich mir zu Füßen und weinte bitterlich. Es ist mir schmerzlich, einen alten Mann weinen zu sehen. Vater, fragte ich milde, wer bist du und was ist deine Bitte? Ich bin Joseph von Arimatha sagte er und bin gekommen, von dir auf meinen Knien um Erlaubnis zu bitten, Jesus von Nazareth zu begraben. Deine Bitte ist dir gewährt, sagte ich ihm und befahl gleichzeitig Manilus, einige Soldaten mitzunehmen zur Mithülfe des Unternehmens und auch um eine Entweihung des Leichnams zu verhüten. - Einige Tage nachher wurde die Gruft leer gefunden und seine Jünger verkündeten im ganzen Land, Jesus wäre von den Toten auferstanden, wie er es vorher prophezeit habe. -

Am Ende verblieb mir noch die Pflicht, dir diese beklagenswerten Ereignisse zu übermitteln. Ich tat es während der Nacht, welche auf dieses traurige Ereignis folgte und endigte gerade den Bericht, als der Tag hämmerte. In dem Moment war es, als ich den Ton von Hörnern vernahm, "die Göttin der Jagd" (Dianamarsch) spielend. Die Augen nach der Cäsarspforte, sah ich eine Abteilung Soldaten und hörte in einiger Entfernung Cäsars Marsch verklingen. Es war die ersehnte Verstärkung, 2000 erlesene Truppen, welche um ihre Ankunft zu beschleunigen, die ganze Nacht hindurch marschierten! - Es war beschlossen bei den Göttern, schrie ich, meine Hände ringend, daß die große Ungerechtigkeit geschehen sollte, daß zum Zwecke der Verhütung der gestrigen Taten Truppen "heute" kommen sollten. Grausames Verhängnis, wie spielst du oft mit Angelegenheiten der Sterblichen! Es war nur zu wahr, was der Nazarener ausrief, am Kreuze sich winden: "Es ist vollbracht!"
Pontius Pilatus, Statthalter von Judäa.

Noch ein Exkurs:

Ein anderes Beispiel jener heiligen Einfalt war etwa die Vermarktung einer einst im Mittelalter Konjunktur habenden Schrift mit dem Titel „Acta Pilati" ebenfalls durch Kreise aus dem Umfeld der frühen Bibelforscherbewegung.
Im Jahre 1901 publizierte in der Zeitschrift „Neue kirchliche Zeitschrift" mal ein Herr Ludwig Couard einen instruktiven Aufsatz, den er betitelte
„Altchristliche Sagen über das Leben Jesu".
Darin referiert er umfänglich aus besagten „Acta Pilati" oder Pilatusakten".
Siehe auch:
http://de.wikipedia.org/wiki/Nikodemusevangelium
Der Reiz der Darstellung von Couard liegt meines Erachtens darin. Er zitiert nicht unbedingt den wörtlichen Text, bietet aber eine Beschreibung des Inhaltes in eigenen Worten, die sich gleichwohl auf den Ursprungstext stützt.
Er geht auch der Entstehungsgeschichte jener Schrift nach, bemerkt, sie bestehe eigentlich aus zwei Teilen, die dann erst von Tischendorf wieder getrennt wurden.
Diese eher wissenschaftlichen Details mögen an dieser Stelle übersprungen werden.
Aber namentlich seine Referierung des zweiten Teils (welcher die Kapitel 18 bis Kapitel 26) enthält, sei an dieser Stelle einmal näher vorgestellt.
Er ist ein Schlaglicht über die Geistes-Naivität (oder meinetwegen auch blühende Fantasie), bei der die Gebrüder Grimm noch vor Neid erblassen können, welche das Christentum zu früheren Zeiten (und nicht „nur" zu früheren Zeiten) beseelt.
Diese völlig unwissenschaftliche Weltbild ist dem Christentum wesenseigen. Sich da nur die Rosinen etwa beim Disput in Sachen Evolution herauszupicken. Über die Naivität des christlichen Weltbildes in Gesamtheit nicht zu reden, ist eine Einstellung der widersprochen werden muss.
Vorhang auf für die Detailzitierung vorgenannten Aufsatzes, namentlich die zweite Hälfte aus den „Pilatusakten" betreffend (an dieser Stelle geringfügig gekürzt):

„Der dunkle Hades wird plötzlich von einem hellen Licht durchleuchtet. Da erheben Adam und alle Patriarchen und Propheten ihre Stimmen und geben ihre Freude über das göttliche Licht Ausdruck, welches ihnen in der Finsternis aufgegangen ist. Jesaias tritt auf und erinnert an seine Weissagungen von diesem Licht; Simeon erzählt, wie er das Jesuskind auf den Armen getragen habe, Johannes berichtet über Jesu Taufe im Jordan, und Seth verkündigt auf Adams Befehl, wie er an den Pforten des Paradieses für seinen kranken Vater zu Gott um Öl vom Baume der Barmherzigkeit gefleht und vom Erzengel Michael den Bescheid erhalten habe, daß erst nach 5500 Jahren, wenn der Sohn Gottes auf die Erde gekommen und im Jordan getauft sein würde, dieser mit dem Öle der Barmherzigkeit alle Gläubigen salben werde.
Während nun alle diese Frommen frohlocken, tritt der Teufel auf und sucht den

„alles verzehrenden und unersättlichen"

Fürsten des Totenreiches gegen den kommenden Erlöser aufzureizen.
Er teilt ihm mit, daß ein gewisser Jesus von jüdischer Herkunft der sich Gottes Sohn nenne, aber ein Mensch sei, der den Tod fürchte, ihm in der oberen Welt viel Böses gethan habe.

„Er verfolge meine Diener, und die Menschen, welche ich krumm, blind, lahm, aussätzig oder sonst krank gemacht hatte, heilte er durch sein bloßes Wort, und viele, welche ich schon für das Begräbnis vorbereitet hatte, machte er durch sein Wort wieder lebendig."

Der Hadesfürst entgegnet ihm,

einem so Mächtigen könne doch niemand wiederstehn, und wenn er gehört habe, daß Jesus den Tod fürchte, so hätte dieser das sicherlich nur gesagt, um ihn zu verlachen und zu verhöhnen und ihn mit seiner mächtigen Hand gefangen zu nehmen.

Doch der Teufel erwidert ihm,

er fürchte Jesum nicht, er habe die Juden gegen ihn aufgestachelt, und diese hätten ihn gekreuzigt und mit Essig und Galle getränkt; er solle sich nur bereit halten, um Jesum, wenn er zu ihm käme, gefangen zu nehmen.

Diese letztere Möglichkeit bezweifelt jedoch der Hadesfürst;

Jesus habe ihm schon viele entrissen, die der Teufel ins Grab gebracht - wie sollte er ihn denn nun wohl bewältigen können?
Erst jüngst habe er einen gewissen Toten mit Namen Lazarus, heruntergeführt, aber kurze Zeit darauf habe ihn ein anderer durch die Kraft seines bloßen Wortes wieder aus seinem Reiche entrissen, und er glaube, er sei dieser andere derselbe, von dem er spreche.

Er trägt daher Bedenken ihn bei sich aufzunehmen, damit er nicht alle Toten verliere, und beschwört deshalb den Teufel, Jesum nun ja nicht zu ihm zu führen.
Während der Teufel so mit dem Hadesfürsten redet, erschallt es draußen wie mit Donnerstimme:

„Machet" die Thore weit und die Thüren in der Welt hoch, daß der König der Ehren einziehe!"

Da gebietet der Hadesfürst dem Teufel:

„Geht heraus, wenn du mächtig bist und stelle dich ihm entgegen",

und seinen Geistern gibt er den Befehl:

„Machtet fest und stark die ehernen Thore und legt an die eisernen Riegel und meine Schlösser und steht alle auf der Wacht; denn wenn er hier hereinkommt, wehe, dann nimmt er uns gefangen."

Doch seine eigenen Unterthanen lehnen sich gegen ihn auf.

„Öffne" rufen ihm die Patriarchen zu, „daß der König der Ehren einziehe!"

Und David und Jesaias treten auf und erinnern an ihre Weissagungen, David an den Adventsplan, in dem er diese Stunde vorher verkündigt habe, und Jesaias an sein nun erfülltes Wort: „Er wird den Tod verschlingen ewiglich".

Da tönt es abermals von draußen: „Machet die Thore weit und die Thüren in der Welt hoch, daß der König der Ehren einziehe!"

Erzitternd fragt das Totenreich: „Wer ist derselbe König der Ehren?"

Und von draußen her antwortet jubelnd der Lobgesang der Engelchen: „Es ist der Herr, stark und mächtig, der Herr mächtig im Streit."

Da zerbrechen die ehernen Thore und die eisernen Riegel zerspringen, da fallen allen Toten die Fesseln ab, und triumphierend tritt der Menschensohn in der durch sein Erscheinen hell erleuchteten Hades ein. Der Fürst des Totenreiches erklärt sich für besiegt, und der König der Ehren läßt den Satan und den Hadesfürsten von seinen Engeln in Fesseln legen.
Obwohl selbst gebunden, verhöhnt der Hadesfürst den gefesselten Satan, der den Herrn der Herrlichkeit zu töten meinte und nun selber vernichtet ist.
Christus aber führt den Adam und alle Gläubigen des Alten Bundes zu sich, und alle Kniee beugen sich ihm, ja, sie alle stimmen ein neues herrliches Lied zum Preise des Herrn an, bis dieser sie im Triumph an die Pforte des Paradieses führt.
Dort begegnen ihnen zwei alte Männer. Gefragt, wer sie seien, da sie den Tod nicht gesehen hätten und nicht in die Unterwelt gekommen seien, erwidert ihnen der eine:

„Ich bin Henoch, der Gott gefiel, und dieser ist Elias, der Thisbiter. Bis an das Ende der Zeiten werden wir leben und alsdann von Gott abgesandt werden, um dem Antichrist zu widerstehen. Wir werden zwar von ihm getötet werden, aber nach dreien Tagen wieder auferstehen und in den Wolken dem wiederkommenden Herrn entgegengeführt werden."

Während diese noch reden, erscheint ein gebeugter Mann mit einem Kreuz auf der Schulter.
Auf die Frage, wer denn er sei, gesteht er, daß er der Schächer am Kreuze sei, dem der Heiland auf seine Bitte hin das Paradies verheißen habe. Die Verheißung wird ihm erfüllt und unter Jubel und Frohlocken ziehen nun die Erlösten in das Paradies ein.

Zu Panin noch. Es verwundert überhaupt nicht, dass analoges auch schon auf den Islam übergeschwappt ist.

Dazu kann man auch vergleichen:

Parsimony.3832

Parsimony.3825

"Es könnte sein, oder auch nicht"

Motto:

Wenn der Hahn kräht auf dem Mist. Ändert sich das Wetter; oder es bleibt so wie es ist

Auch der Kreis um die "Aussicht" fieberte dem Jahre 1914 zu. Aufmerksam bis gierig beobachtete man alle Äußerungen, die Russell zu diesem Thema abgab. Im Jahre 1907 meinte die "Aussicht" diesbezüglich wieder einmal fündig geworden zu sein. In eigener Übersetzung aus dem englischen 'Watchtower' informierte man darüber, was nun der "allerletzte Schrei" in Sachen 1914 sei. In der November-Ausgabe 1907 der "Aussicht (S. 491) gibt es dazu einen umfänglichen "Wissenschaft und Glaube betreffend Zeitrechnung" überschriebenen Artikel, der im nachfolgenden näher vorgestellt sei:

"Ein lieber Bruder fragte kürzlich: Können wir absolut sicher sein, daß die Zeitrechnung, wie sie in den Bänden von 'Milleniums Tagesanbruch' dargestellt - richtig ist? Daß die Periode der Ernte anno 1874 begann und im Jahre 1914 enden wird in einer weltenweiten Trübsal und Revolution, wodurch all die gegenwärtigen Ordnungen und Einrichtungen gestürzt werden, um dem gerechten Reiche des Königs der Herrlichkeit und seiner Braut, der Kirche Platz zu machen?

Als Antwort hierauf bestätigen wir, was wir schon öfters in den Bänden, Wachttürmen und Briefen und auch mündlich hervorgehoben haben, nämlich, daß wir für unsere Berechnungen nie eine unfehlbare Richtigkeit beanspruchen, wir haben nie behauptet, daß sie Wissenschaft seien, noch auch daß sie auf unbestrittenen Beweisen, Tatsachen und Kenntnissen beruhen; wir haben aber allezeit hervorgetan, daß sie auf Glauben sich stützen. Wir haben die Beweisgründe so klar als möglich dargelegt, ebenso die Schlußfolgerungen des Glaubens, die wir daraus ziehen und haben andere eingeladen, davon so viel oder so wenig anzunehmen, als ihr Herz und Verständnis fassen und unterstützen kann.

Viele haben diese Beweisführungen geprüft und angenommen, während andere sie nicht unterstützen können. Diejenigen, welche sie im Glauben zu erfassen vermochten, scheinen dabei besondere Segnungen empfangen zu haben, nicht bloß bezüglich prophetischer Harmonie, sondern auch in andern Teilen der Gnade und Wahrheit. Wir haben die nicht verurteilt, welche nicht sehen konnten, aber uns mit denen gefreut, die durch ihre Glaubensübung besondere Segnungen empfingen: 'Selig sind eure Augen, daß sie sehen und eure Ohren, daß sie hören.'

Es ist nun möglich daß solche, die 'Tages-Anbruch' gelesen haben, unsere Schlußfolgerungen noch verstärkten und dann also weitergaben; wenn sie das aber taten, so geschah es auf ihre eigene Verantwortung hin. Wir haben mit Nachdruck empfohlen und tun es heute noch, daß Gottes Kinder das aufmerksam lesen, was wir dargeboten haben - die Schriftstellen, deren Anwendung und Auslegung - und dann ihr eigenes Urteil bilden. Wir versteifen uns nicht auf unsere Ansichten als unfehlbar, noch schlagen oder beschimpfen wir solche, die nicht mit uns übereinstimmen, sondern betrachten alle an das teure Blut geheiligten Gläubigen als 'Brüder'. Im Gegenteil werden wir aber von denen geschmäht und geschlagen, die mit uns differieren, weil sie nicht willkommen heißen, wenn sie mit Hammer und Zunge einen Splitter zu entfernen suchen, welche sie in unserm Auge des Verständnisses entdeckt zu haben glauben. Es sind unsere Kritiker, die ihrerseits gewöhnlich auf Unfehlbarkeit Anspruch machen. Wir gehen aber weiter, der Apostel Rat und Beispiel befolgend:

'Ich glaube, darum rede ich' - ob nun andere hören, oder sich weigern zu hören. Ist das nicht im Einklang mit dem Geist Christi? ...

Es gibt aber solche, die, wenn sie an einen wenig bedeutenden Punkt stoßen, über welchen sie differieren, nun meinen, das ganze Erntewerk müsse überworfen oder wenigstens eingestellt werden, bis der betreffende Punkt zu ihrer vollen Zufriedenheit erledigt werde. Solche machen allem Anschein nach aus Maulwurfshügeln Berge und vergessen, daß - wenn die gegenwärtige Bewegung unter dem Volk Gottes überhaupt unter der Leitung und Aufsicht des Herrn vor sich geht - der Herr selbst verantwortlich ist und nicht sie - und daß man ihm wohl zutrauen darf, daß er Zweck und Ziel seines Planes nach seinem Gefallen zu erreichen vermag, ohne dabei weder den Buchstaben noch den Geist seiner Gebete zu verletzen.

Zurückkommend auf die Anfrage betreffend die Chronologie führen wir von 'Millenium-Tages-Anbruch' Bd. II Seite 37 folgendes an:

'wenn wir nun mit der Frage - Wie lange ist's her seit der Erschaffung Adams? - den Anfang machen, dürfen wir zuversichtlich sein, daß der welcher die Prophezeiungen gab mit der Bestimmung, daß sie in der Zeit des Endes verstanden werden sollte, in seinem Worte auch die nötigen Daten vorgesehen habe, die es uns ermöglichen, diesen Prophezeiungen ihren richtigen Platz anzuweisen. Wer jedoch diese Dinge so deutlich zu finden erwartet, daß sie schon den bloß oberflächlichen Leser oder gar den unaufrichtigen Zweifler überzeugen, der wird sich getäuscht finden. Gottes Zeichen und Zeitläufe sind so gegeben, daß sie zu dieser unserer Zeit nur die zu überzeugen vermögen, welche Gottes eigentümliche Verfahrensweise durch ihr Vertrautsein mit ihm verstehen können. Dazu ist diese Auskunft erteilt worden, 'auf daß der Mensch Gottes sei vollkommen - zu jedem guten Werke - völlig geschickt (ausgerüstet) 2. Tim. 3:17. Solche wissen gar wohl, daß sie auf allen Wegen, auf die der Vater sie hinführt, im Glauben wandeln müssen und nicht im schauen.

Allen denen aber, die so zu wandeln bereit sind, hoffen wir bei jedem Schritt gewisse Aussprüche Gottes - für den vernünftigen Glauben eine sichere Grundlage - bieten zu können.

Im gleichen Kapitel hoben wir auch hervor, daß manche Kettenglieder der Chronologie in der heiligen Schrift und Weltgeschichte 'ohne Zusammenhang, unterbrochen, übereingreifend und so verwickelt' seien, 'daß wir von ihnen zu keinen bestimmten Schlußfolgerungen kämen. Wir würden also - wie andere - genötigt sein, uns zu sagen, daß man über diesen Gegenstand nichts bestimmtes wissen könne, wäre es nicht, daß das Neue Testament uns diesen Mangel ersetzt.' (Siehe Seite 47). Auf diese Weise suchen wir darzulegen, daß die Chronologie nicht auf Tatsachen aufgebaut ist, sondern daß sie nur durch Glauben empfangen werden kann.

Wir empfehlen aber wiederum ein frisches Betrachen des ganzen Bandes. Wenn dann einige trotz dieser Anregungen ihren Glauben an unsere Chronologie verlieren werden, so wird doch durch dieselben bei vielen andern der Glaube und derselbe mächtiglich gestärkt. Wir erinnern aber aufs neue daran, daß die schwachen Glieder der Chronologie von verschiedenen andern Weissagungen ergänzt werden, welche sie auf so merkwürdige Weise unterstützen und bestätigen, daß der Glaube an die Richtigkeit der Chronologie fast zur Wissenschaft wird.

Die Veränderung um ein einziges Jahr würde die Harmonie wunderschöner Parallelen ganz zerstören, weil ein Teil der Weissagungen auf die Zeit vor Christo zurückgreifen und andere auf die Zeit nach Christo, während wieder andere auf beide sich beziehen. Wir glauben, daß Gott jene Weissagungen 'zu seiner Zeit' verstanden haben wollte; und wir glauben, daß wir sie nun verstehen - und sie sprechen zu uns eben durch diese Chronologie. Wird nicht gerade dadurch die Chronologie bestätigt? Für den Glauben freilich, sonst aber wohl nicht. Unser Herr erklärte: 'Die Verständigen werden es beachten'; er ermahnte uns zu wachen, damit wir erkennen mögen; und diese Chronologie ist es auch, die uns überzeugt (wer sie im Glauben empfängt und zu fassen mag), daß das Gleichnis von den 10 Jungfrauen jetzt in Verwirklichung begriffen ist, daß der erste Ruf im Jahre 1844 wahrgenommen wurde, während der zweite: 'Siehe, der Bräutigam' seit 1874 vernommen worden ist.

Dieser Chronologie und keiner andern schreiben wir zu, daß wir aufgeweckt wurden und unsere Lampen reinigten, in Übereinstimmung mit dem Apostelwort: 'Ihr aber, Brüder sei nicht in Finsternis, daß euch der Tag wie ein Dieb ergreife.' Wenn unsere Chronologie nicht zuverlässig ist, dann haben wir keine Idee, wo wir stehen im Strome der Zeit und wann der Morgen anbrechen wird. Bischof Usher setzt nach seiner Chronologie das Ende der 6000 Jahre um ein ganzes Jahrhundert ferner in die Zukunft und würde damit alle die prophetischen Anwendungen zunichte machen, die wir erkannt haben und dadurch gesegnet worden sind. Und wenn wir sagen: 'Unsere' Chronologie, so meinen wir damit bloß die, welche wir gebrauchen - die biblische Chronologie, die aller Kinder Gottes Eigentum ist, so viele ihrer sie wertschätzen.

Tatsächlich ist sie denn auch in der gleichen Form schon lange vor uns gebraucht worden, gleichwie auch verschiedene Weissagungen, deren wir uns bedienen, von den Adventisten - wenn auch zu andern Zwecken gebraucht worden sind; so sind auch verschiedene Lehren, die wir unterstützen und die uns so neu und frisch scheinen, in dieser oder jener Form schon lange verkündigt und verfochten worden wie z. B. 'Erwählung', 'Freie Gnade', 'Wiederherstellung', 'Rechtfertigung', 'Heiligung', 'Auferstehung', 'Verherrlichung'.

Das Werk, in welchem unsere bescheidenen Talente zu gebrauchen es dem Herrn gefallen hat, ist weniger ein Werk ursprünglichen Neuschaffens, sondern ein Werk des Wiederaufbauens, des Geraderichtens und Harmonierens. Das Wort Gottes, die große Harfe von der so wunderbare Musik ertönt, war in verschiedener Beziehung verstimmt. Die eine Denomination schlug diese, die andere eine andere Seite - Erwählung, Freie Gnade, Taufe, Wiederkunft Christi, Zeitprophezeiungen usw. Eine jede Kirchenpartei hat ihre eigene Saite schwirren lassen, bis vielen wegen der Disharmonie ihr 'Spiel' verleidete, so daß sie es aufgaben. Es kam aber die vom Herrn bestimmte Zeit, da die alte Harfe wieder in Stand gestellt werden sollte, für den Gebrauch seiner treuen Nachfolger. In welchem Maß der große Meister sich nun irgend jemandes unter uns bediente - sei er beim Stimmen der Harfe oder beim Aufmerksam machen 'seiner Brüder' auf die Schönheit ihrer melodischen Töne, die sie zur Verherrlichung des Allmächtigen von sich gibt - laßt uns ihm für das genossene große Vorrecht danken und es gebrauchen. 'Daß wir diese Harmonie gerade zur rechten Zeit, gemäß unserer Chronologie, haben erkennen dürfen - gerade zu der Zeit, die der Herr verhieß, indem er erklärte, daß er dann zu denen, welche auf sein Anklopfen bereitwillig öffnen würden, eingehen werden, um mit ihnen 'das Abendbrot zu essen'; daß er 'sich gürten und aufstehen werde, um ihnen zu dienen' (Luk. 12:37) - diese Tatsache ist uns ein Beweis, daß wir die Zeitrechnung betreffenden Weissagungen, so wie wir sie verstehen, richtig sind. Dem großen Diener seiner Kirche bringen wir darum unsern Dank für das übereinstimmende helle Licht gegenwärtiger Wahrheit - und müssen wir nicht gestehen, daß die Chronologie, die mit diesem Lichte so viel zu tun hat, auch von Ihm stammt?

Laßt uns nun aber einen all unsern Erwartungen ferne stehenden Fall betrachten: Angenommen, das Jahr 1915 geht vorüber ohne Veränderung und Störung der jetzigen Weltordnungen und -Zustände, den Beweis lassend, daß 'die Auserwählten' nicht alle 'verwandelt' worden und auch ohne, daß das natürliche Israel zu den Gnaden des Neuen Bundes wiederhergestellt wäre (Röm. 11; 12, 15). Was dann? Wäre damit nicht die Unrichtigkeit unserer Chronologie bewiesen? Jawohl, ganz sicherlich! Und würde das für uns nicht eine große Enttäuschung bedeuten? Ohne Zweifel würde es!

Damit wäre alle Harmonie gründlich zerstört in bezug auf die 'parallelen Heilszeitordnungen', das Doppelte Israel's, die Jubeljahrrechnung, die Weissagungen Daniels von den 2300 Tagen und von dem Zeitpunkt, genannt 'die Zeiten der Nationen' und von den 1260, 1290 und 1335 Tagen, deren letzte so trefflich den Anfang der 'ernte' bezeichnen mit den Worten: 'O, der Glückseligkeit dessen, der da wartet und erreicht 1335 Tage!'

Keine dieser Weissagungen wäre fürderhin anwendbar. Welch ein Schlag wäre das! Sicherlich wäre dadurch eine Saite unserer 'Harfe' gänzlich zerstört!

Aber, liebe Freunde, vergessen wir nicht, daß dabei doch noch all die andern harmonisch gestimmten Saiten unserer Harfe blieben und das ist's, dessen sich keine andere Versammlung von Gotteskindern rühmen könnte. Wir können dennoch einen so großen und erhabenen Gott anbeten und verherrlichen, dem kein anderer zu vergleichen ist. Wir würden fortfahren, uns der großen Erlösung in Christo Jesu, 'dem Lösegeld für alle', zu freuen. Wir sähen ferner auch die Wunder des 'verborgen gewesenen Geheimnisses', die Gemeinschaft mit unserem Erlöser in 'seinem Tode' und auch in 'seiner Auferstehung' zur 'Ehre, zur Herrlichkeit und Unsterblichkeit' - zur göttlichen Natur.

Geliebte, wenn es sich also erweisen sollte, daß unsere Chronologie ganz falsch ist, so dürfen wir immerhin bekennen, daß Sie uns trotzdem auf jeden Fall viel Vorteil und Segen gebracht hat. Wenn das Entdecken und Erreichen unserer herrlichen Hoffnungen und die schon gegenwärtigen Freuden in dem Herrn uns andererseits solch eine Täuschung kosten sollte, wie manche unserer Freunde für uns fürchten, so könnten wir trotzdem uns freuen und diesen Preis noch billig achten. Wenn der Herr es zur Prüfung der 'Jungfrauen' für nötig fände, auf der 'Posaune der Zeitrechnung' einen falschen Ton zu erlauben, so laßt uns das getrost annehmen als einem von 'all den Dingen, die zum Besten derer mitwirken müssen, welche ihn lieben und nach seinem Vorsatz berufen sind'. Laßt uns aber doch bedenken, daß das zweite Erwachen der 'Jungfrauen' im Gleichnis kein Irrtum war. Der Bräutigam kam, die 'klugen Jungfrauen' hatten den nötigen Glauben, ihm zu begegnen; den andern, weltlich klügeren gebrach es an Glauben und sie verpaßten die der Brautklasse gewährten hohen Ehren, obwohl sie später 'Gespielinnen' der Braut werden durften an 'der Hochzeit des Lammes.'

Das beste Heilmittel für einen verdorbenen Glauben an die gegenwärtige Wahrheit, ist ein sorgfältiges, gebetsvolles, nochmaliges Prüfen der in 'Tages-Anbruch' enthaltenen Darlegungen. Sollte sich das als falsch erweisen, so wüßten wir nichts anderes als Ersatz zu empfehlen. Vergessen wir aber nicht, daß Gott auf das Vorhandensein gewisser Bedingungen acht gab, bevor es uns mit diesem Lichte betraute, und daß wir jene Bedingungen, jenen Geisteszustand unterhalten müssen, um in diesem Lichte bleiben zu können. Wenn also irgend ein Teil des Lichtes dunkel werden will, so lasset uns allererst uns fragen: 'Komme ich meinem Bündnis der Selbstübergabe an den Herrn auch wirklich nach?' Und wenn wir dann irgendwelche Lauheit bei uns entdecken, so dürfen wir glauben, das Geheimnis, die Ursache unserer Schwierigkeit gefunden zu haben, und nichts Besseres haben wir dann zu tun, als die Sache im Gebet vor den Herrn zu bringen."

Eine gescheiterte Ehe

Bereits in der Februar-Ausgabe 1907 des „Zions Wachtturm" konnte man die Vorankündigung lesen:

„Sie Aprilnummer wird, so der Herr will, eine Antwort des Br. Russells auf grobe Verleumdungen gegen ihn bringen; wir bitten die lieben Freunde, die durch solche beunruhigt worden sind, 'nicht zu richten vor der Zeit', ohne daß 'die Liebe zeichnet Böses nicht zu, freut sich nicht der Ungerechtigkeit.'"

Genannte April-Ausgabe beginnt dann schon mit einem bemerkenswerten Satz:

„Diese Ausgabe ist nicht für allgemeine öffentliche Verbreitung bestimmt; sie diene Freunden, die Einwendungen der von Unwahrheiten Vergifteten zu beantworten."

Noch ein optischer Unterschied. Umfasst die deutsche Ausgabe des „Zions Wacht Turm" zu jener Zeit in der Regel 16 Seiten; so jedoch hat diese Ausgabe einen Umfang von 32 Seiten!

Offenbar sah Russell sich genötigt, sich umfassend zu verteidigen. Ersichtlich auch an dem Satz:

„Gerne hätte ich vor der Versammlung geschwiegen, so wie ich der Welt gegenüber meinen Mund nicht aufgetan habe; nun finde ich aber meine persönlichen Angelegenheiten mit dem 'Erntewerk' so eng verknüpft, daß es mir zur Pflicht wird, den Gliedern des Leibes Christi, mit denen ich so eng verbunden bin, die nackten Tatsachen wissen zu lassen."

Man ahnt es schon. Es handelt sich um Russell's Eheschwierigkeiten. In einem Rückblick stellt er deren Kulmination wie folgt dar:

„Im Jahre 1878 fiel mein Mitarbeiter in der Herausgabe der Zeitschrift („Herald of Christ Kingdom") vom Glauben an das Erlösungswerk Christi ab, was in den Spalten des Blattes zu einer Auseinandersetzung führte … Mein Mitarbeiter beanspruchte die kleine Druckerei, die ich angeschafft hatte, und eignete sie sich einfach an. Dies führte zur Herausgabe des jetzigen Journals 'Zions Wachtturm und Verkünder der Gegenwart Christi'. … Der Anfang der Herausgabe verzögerte sich bis zum Juli des Jahres 1879, weswegen ich einige Monate ununterbrochen in Allegheny sein mußte. … Eine größere Anzahl kam dadurch mit der Wahrheit in Berührung. Unter diesen war ein Frl. Frances Ackley, die innerhalb drei Monaten meine Frau wurde. … Dreizehn Jahrelang war sie die in jedem Sinne des Wortes aufmerksamste und treueste Frau.

Kurz nach eine Reise nach Palästina und Ägypten (den Pyramiden) über Großbritannien, Deutschland, Italien, die Schweiz und Frankreich, die für uns beide sehr nützlich und erfreulich war, schien Frau Russell unter einen verhängnisvollen Einfluß zu kommen, von dem ich zur zeit nichts ahnte. Während unserer Abwesenheit schien der Widersacher einen Geist der Streit-, Ehr- und Ruhmsucht unter einigen hervorgerufen zu haben, die ehedem jedes Anzeichen von Treue zur Wahrheit gezeigt hatten. 'Frauenrechts'- und anarchistische Ideen schienen mit im Spiele zu sein. Der Sauerteig wirkte nicht öffentlich doch sicher, und die Folge war eine Art Verschwörung seitens einiger, dem Werke zu schaden …

Später erfuhr ich auch, daß gleichzeitig der Versuch gemacht worden war, meiner Frau den Samen der Disharmonie mittels 'Frauenrechtsgedanken' und Schmeicheleien ins Herz zu säen."

Folgt man den weiteren Ausführungen, stand Russell wieder einmal vor dem Problem, dass seine Autorität nicht absolut anerkannt wurde. Die Opponenten meinten zur Begründung dabei auch auf tatsächliche oder vermutete Ungereimtheiten in Russells Haushalt verweisen zu können. Offenbar müssen diese Anwürfe ein solchen Umfang gehabt haben, dass selbst Russell eine ihn entlastende schriftliche Stellungnahme seiner Frau dazu nachdruckt.

Rückblickend bleibt allerdings die Frage offen, inwieweit dieser „Persilschein" nicht bloß ein Lippenbekenntnis war. Anfangs noch vermied ja auch Frau Russell, den offenen Bruch. Wie es in ihrem Inneren aussah, wäre eine andere Frage. Erfahrungsgemäß kulminieren Konflikte dieser Art nicht „über Nacht". Sie haben in der Regel eine längere Vorgeschichte. Das dürfte auch in diesem Fall so gewesen sein.

Offenbar spielte der Aspekt Money nicht unwesentlich mit herein. Wie bereits ausgeführt, meinte Russell zu seiner Verteidigung selbst aus den schriftlich formulierten „Persilscheinen" seiner Frau zitieren zu können. Da soll Frau Russell unter anderem zu Papier gebracht haben:

„Herr Adamson sagt auch, mein Mann verbiete das Heiraten usw. … Diese Behauptung ist so unwahr als die anderen … Dann behauptet Herr Adamson, Herr Russell habe ihm geschrieben, er möchte sein Testament so machen, daß sein Geld der Traktatkasse zufließe und seine Frau nichts davon bekomme …

Die Sache verhält sich so: Herr A. schrieb Herrn Russell ungefähr so: Ehe ich heiratete, war meine jetzige Barschaft schon dem Herrn geweiht; bei meinem Tode möchte ich nicht, daß davon etwas auf meine Frau oder ihre Verwandten übergehe; es soll in die Traktatkasse fließen.

Hierauf erwiderte Herr Russell, daß Frau Adamson nicht ignoriert werden möchte, daß sie als Frau eine berechtigte Forderung habe; wenn er sie einerseits seine Frau nenne, so verdiene sie Berücksichtigung, gleichviel, ob sie in religiöser Beziehung außer Harmonie sei, wie es Frau A. seinen Vorstellungen nach damals war. Er riet ihm, daß, falls er sich entschließe, irgend einen Teil seines Besitztums der Traktatkasse zu vermachen, es unter den obwaltenden Umständen im Interesse des häuslichen Friedens weise sei, Frau A. davon nicht in Kenntnis zu setzen. …"

Offenbar war Herr Adamson, ob dieser Antwort, wohl nicht sonderlich erbaut. Ersichtlich auch daran, das er das ganze öffentlich machte, sodass selbst die Russell's sich in der Rolle der sich nun verteidigen müssenden, wiederfanden.

Das die Verteidigungen der Frau Russell für ihren Mann in der Öffentlichkeit, wohl nicht das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben waren, erschließt sich auch aus dem Umstand, dass Russell sich nun beklagt:

„Erst deutete sie an, daß, wie am menschlichen Leibe, zwei Ohren, zwei Hände, zwei Füße usw. seien, dies richtig genug 'die zwei eins' darstellen könne - sie und ich eins in der Ehe, im Geist und im Herrn. Da hörte der Ehrgeiz (eine Pflanze die schnell wächst) aber nicht auf. Innerhalb eines Jahres war Frau Russell zu dem Schluß gekommen, daß der letzte Teil der Stelle (Matth. 24, 48-51) nicht nur eine Warnung sei, sondern auch tatsächlich in Erfüllung gehen werde - er bedeute, daß ihr Mann diese Beschreibung erfüllen und sie infolgedessen seine Stelle einnehmen würde - als 'jener Knecht' in der Darreichung der Speise zu rechter Zeit. Das war in dem Jahre 1896. In Übereinstimmung damit hielt sie bald ihre Persönlichkeit als Hilfsredakteur im Wachtturm nicht genügend hervorgehoben. Sie wünschte, daß unter jedem Artikel, den sie schreibe, ihr Name erscheine. Ich sagte ihr, daß damit ihr Name als Hilfsredakteur gestrichen würde. Gut, meinte sie, das bedeute doch nicht viel, da niemand wissen könne, welche Artikel sie geschrieben habe. Gleichzeitig bedeutete sie, ihre Artikel müßten unverändert erscheinen.

Ich war mit allem einverstanden, machte aber darauf aufmerksam, daß die Wachtturmleser annehmen würden, ich habe meine Frau zurückgesetzt und aus dem Hilfsredakteur einen einfachen Korrespondenten gemacht. Zudem, wenn ich in ihren Artikeln keine redaktionellen Korrekturen vornehmen dürfe, würden manche gar nicht im Wachtturm erscheinen, weil es leichter sei, sie selbst zu schreiben, als mit vielen Korrekturen an sie zurückgehen zu lassen."

Der Konflikt eskalierte nun dergestalt, dass Russell beschloss das Volumen des „Wachtturms" von 12 auf 16 Seiten pro Ausgabe zu erhöhen. Das aber war nur die formale Sache der Angelegenheit. Bislang hatte Frau Russell vieles was Russell diktierte, sozusagen als seine Sekretärin, zu Papier gebracht. Nun aber beschloss Russell, die Umfangserweiterung als Vorwand nutzend, eigens einen Stenographen einzusetzen, der diese Diktate dann in die Langschrift umsetzte. Faktisches „Nebenergebnis" dabei. Frau Russell wurde so vom weiterer inhaltlicher Einflussnahme auf den „Wachtturm" ausgebootet.

Die Konflikte spitzten sich weiter zu. Charakteristisch dafür auch die Russell-Sätze:

„Frau Russells nächster Schritt war, mich so zu belästigen, daß es mir fast unmöglich wurde, mit der Arbeit voran zu kommen. … In dieser Zeit wurde sie mit einer sehr lästigen Krankheit behaftet, die viel von meiner Zeit in Anspruch nahm, und die bereitwilligst auf Kosten jeder anderen Rücksicht geopfert wurde, gleichzeitig hoffend, daß, was ich als eine Züchtigung vom Herrn betrachtete, zu ihrem Besten dienen möchte."

Man lasse sich nochmal die Vokabel von der Krankheit als „einer Züchtigung des Herrn" auf der Zunge zergehen, und man hat ein handgreifliches Beispiel, auf welchem Tiefpunkt diese Ehe bereits angekommen ist. Wie unschwer erratbar, war der Zustand „nicht mehr reparabel" erreicht. Beide Seiten kämpften nun mit „Hauen und stechen" wo immer es nur ging. Symptomatisch dafür auch die Testaments-Veränderung, die Russell nunmehr vornahm. Ursprünglich war seine Frau darin als Begünstigte ausgewiesen. Nun aber, wie Russell wörtlich im „Wachtturm" schreibt:

„Dies ist jetzt nicht mehr der Fall. Ich habe bereits alles, was ich besitze, außer meine Kleider, der Wachtturm-, Bibel- und Traktatgesellschaft übertragen."

Über die Eskalationsschritte der nunmehr enterbten Frau Russell liest man im „Wachtturm" noch:

„Am 9. November (1897) mußte ich verreisen, und sorgte ich dafür, daß sie bis zu meiner Rückkehr die Gesellschaft einer Schwester hatte. Dies war ihr recht; sie ging aber nachher fort - nach Chikago -, ohne mir die geringste Kenntnis zu hinterlassen. Ich wußte zwei Wochen lang nicht, wo sie sich aufhielt. … Später … wollte sie zu mir in Allgeheny zurückkehren. Ich verweigerte ihr diese Rückkehr … Im Januar 1898 kehrte sie nach Allegheny zurück - zu ihrer Schwester; und sie, ihre Schwestern und Freunde unternahmen nun einen Feldzug der Beschimpfung jeglicher Art."

Russell stellt die Sache so dar, als habe er nach einer gewissen Zeit, seiner Frau dann ein komfortables Haus zur Verfügung gestellt. Zitat:

„Das Haus hatte zehn Zimmer, und so hatte sie ein ziemliches Mietseinkommen von Schlafgängern. In der Hoffnung, daß eine Sinnesänderung in Aussicht sei, besuchte ich sie jeden Donnerstag abend, etwa fünfmal, als sie sagte: 'Mein Gemahl, ich befürchte, daß die Nachbarn und Schlafgänger es sonderbar finden, daß Du jeden Donnerstag herherkommst'. Der Wink genügte; ich stellte die Aufmerksamkeit ein. … Ich sah, daß die Suche nach der verschwundenen Liebe zwecklos war. Darnach wünschte sie mich nur zu sehen, wenn Reparaturen und weitere Möbel nötig waren."

Im Jahre 1903 soll Frau Russell, nach der Darstellung von Russell, gar ein eigenes Traktat drucken lassen haben, in der sie ihrem theoretisch ja noch Ehemann, öffentlich „verleumdete".

„Sie sandte diese an alle Wachtturmleser, deren Adressen sie bekommen konnte und ganze Bündel wurden an Prediger verschiedener Städte gesandt, wo nach den Wachtturmanzeigen die 'Pilger'-Brüder Versammlungen abhielten; ein Brief begleitete jedes Bündel und forderte den Prediger auf, die Traktate auf der Post abzuholen, die Versammlung der Tages-Anbruch Leute aufzusuchen und jemand dort diese Traktate verteilen zu lassen."

Damit war der Konflikt endgültig in die Öffentlichkeit gebracht. Ein weiteres „deckeln" war nunmehr nicht mehr möglich. Keine Eskalation ist wohl ohne weitere Eskalationsschritte denkbar. So wohl auch in diesem Fall.

Zitat:

„Ich gewann die Überzeugung, daß meine Unterstützung aufhören müsse, setzte meine Schwester als Verwalterin der Wohnung ein, reservierte ein Zimmer für Frau Russell und sorgte für ihre Kost. Das Resultat war eine Aufregung: Frau Russell, ihre Verwandten und Schlafgänger entfalteten eine solche Störung, daß meine Schwester genötigt war, die Polizei zur Hilfe zu rufen, während Frau Russell und ihre Freunde die Sache in der Presse nach Kräften verdrehten."

Was nun eigentlich schon lange überfällig war, trat nun doch noch ein. Der Fall landete vor Gericht. Nicht zum Vorteil für Russell dabei war auch der Umstand, dass Frau Russell für ihre Interessen einen Rechtsanwalt engagiert hatte. Da wurde nun erst recht in den „Tiefsten der Tiefen" gegraben. Und vor Gericht kamen zusätzliche Aspekte mit zu Sprache. Einer davon derjenige, den Russell in die Worte kleidete:

„Frau Russell brachte als weitere Klage 'ein zu intimes Verhältnis zwischen ihrem Manne und einer gewissen Schwester mit Namen Rose, die im Jahre 1888 ein Glied des Russellschen Haushalts wurde. Der Versuch auf Seiten Frau Russells und ihres Anwaltes, den Schein zu erwecken, daß ein sträfliches Verhältnis bestanden habe, war so augenfällig, daß das Gericht mit der Frage unterbrach, wenn die Anschuldigung ein straffälliges Verhältnis bedeute, warum das nicht zu einem Teil der Klage gemacht worden sei, und warum Rose in dem Prozess nicht Mit-Angeklagte sei. Alsdann sprachen sie es ab, daß die Klage ein sträfliches Verhältnis betreffe, sondern bedeute, daß Rose auf Herrn Russells Knie gesessen, und er sie geküßt habe. Frau Russell schwur auch, daß sie eines Nachts in Roses Zimmer gegangen sei und Herrn Russell an ihrem Bette sitzend und ihre Hand haltend angetroffen habe. …

Am folgenden Tage erklärte Herr Russell auf dem Zeugenstand, daß Rose und ihr Bruder Charles Glieder des Haushaltes und Kontorgehilfen waren … Rose war von Aussehen noch Kind … Sie mag im Jahre 1888 älter als 13 Jahre gewesen sein. Ihr Bruder kam zuerst zu uns, und dann Rose; er aber starb bald nachher. …

An demselben Abend sprach er (Russell) mit seiner Frau über Rose, und daß sie sich seit dem Tode ihres Bruders sicherlich einsam fühle und daß es eine Pflicht sei, ihre Interessen etwas sorgfältiger wahrzunehmen.

Frau Russell stimmte dem bei, und es wurde gemeinsam abgemacht, daß Rose hinfort als adoptierte Tochter angesehen und behandelt werden sollte. Dies wurde Rose in unserer Gegenwart mitgeteilt. …

Was Frau R's Behauptung betrifft, daß sie ihren Mann eines Nachts in Roses Zimmer angetroffen habe, an ihrem Bette sitzend und ihre Hand haltend, sagte Herr R., daß er sich dessen nicht erinnere, daß er aber, da er ein wenig Medizin verstehe, in Krankheitsfällen von allen Familienangehörigen in Anspruch genommen worden sei: Frau R., ihre Mutter, ihre Schwestern und deren Kinder waren es gewohnt, zu Herrn R. zu kommen, der eine für alle freie Hausapotheke hatte, schlimme Fälle aber an einen praktischen Arzt verwies. Herr R. nahm an, daß dies ein Notfall gewesen sei, bei welcher Gelegenheit es Roses Puls gezählt habe. "

Weitere Beispiele des „waschens dreckiger Wäsche" wie in solchen Gerichtsverfahren nicht unüblich, kann man auch noch diesem Artikel entnehmen, die aber hier übersprungen seien.

Paton

Noch etwas gibt es zu dieser WT-Ausgabe zu sagen. Der deutsche „Wachtturm" erschien bekanntlich erst ab 1897 (in eingeschränkten Umfange im Vergleich zum englischen Original). Da gab es in letzterem im Jahre 1894 einen „Erntesichtungen" überschriebenen Artikel. Der nun wird in dieser Ausgabe mit nachgedruckt. In der Substanz beschreibt er Russell's Wege zum Adventismus, seine zeitweilige Zusammenarbeit mit diesbezüglichen Kreisen, seine dann erfolgte „Selbstständigmachung", die Konflikte um Barbour usw. Weitere Bereiche dieser Ausführungen, kann man in der Substanz auch im Band 7 der „Schriftstudien" später noch nachlesen. Dort sind aber diese Details eher aufgesplittet. Zugeordnet vermeintlich „passenden" Bibelstellen, die man „auslegt".

Einen Aspekt, so scheint mir, begegnet man im Band 7 indes nicht so deutlich; wenn man ihm überhaupt „begegnet". Das wären dann die Konflikte die Russell auch mit Paton hatte, einem der eigentlichen Urväter der „Schriftstudien". In diesem „Erntesichtungs„-Artikel kommt Russell nun auch auf Paton mit zu sprechen. Ein paar diesbezügliche Auszüge daraus:

„Während eines Teiles dieser Feuerprobe (Konflikte mit Barbour), …wurde uns die ernste Mitwirkung von Mr. Paton zuteil, der bis zum Sommer 1881 ein geschätzter Mitarbeiter … war … Da das Buch 'Die drei Welten' seit einiger Zeit vergriffen war, so erschien es ratsam, eine neue Auflage davon oder aber ein neues Buch ähnlichen Charakters herauszugeben. Mr. Paton erklärte sich bereit, dasselbe für die Presse fertigzustellen, während Mr. Jones sich erbot, alle Kosten für den Druck und die Buchbindertätigkeit zu tragen, und Mr. Paton so viele Exemplare des Buches zu geben, wie er verkaufen könne, als eine Entschädigung für die Mühe der Schriftleitung: ich hingegen sollte das Buch ausgiebig und kostenfrei im 'Wachtturm' annoncieren, da durch meine Empfehlung die Nachfrage nach dem Buch und eine Wiedereinbringung des verausgabten Betrages sowie eines Ueberschusses gewährleistet sei. … Nicht nur erklärte ich mich damit einverstanden, sondern leistete auch eine Beihilfe zu Mr. Patons persönlichen Auslagen in Verbindung mit der Herausgabe und zahlte überdies auf sein Ansuchen hin, auch einen Teil der Druckerrrechnung.

Für mich allein schloß die Herausgabe des Buches 'Tages Dämmerung' betitelt, schließlich mit einem finanziellen Verlust ab, während Schreiber und Herausgeber beide finanziellen Nutzen davon hatten, indem ich zur Bekanntgabe des Buches alles durch wiederholte Annoncen getan hatte."

So zog es Russell dann perspektisch vor, weitere Geschäfte lieber auf eigene Rechnung zu machen. Wie schon beim Fall Barbour bildeten theologische Sophistereien den vorgeschobenen äußeren Grund dafür.

Titelbild des "Herald[ of the Morning" Oktober 1875

http://www.manfred-gebhard.de/Herald.jpg

 Siehe auch die Nennung Patons im Titelbild des "Herald"

Was zu erwarten war, trat ein. Die religiöse Konkurrenz ließ sich Russells nun offenbar gewordene Eheschwierigkeiten nicht entgehen. Und was auch noch zu erwarten war, trat ebenfalls ein. Diesbezügliche Veröffentlichungen wurden von Russell's Organisation mit Presserechlichen „Berichtigungen" traktiert. Beispiele dafür kann man auch im deutschen „Zions Wacht Turm" vom Juni 1907 (S. 105) nachlesen. Da wird ausgeführt:

„Der Sendbote, - Organ der deutschen Baptisten Nord-Amerikas", vom 13. März d. J. , bringt unter „Editiorelles" folgende Berichtigung:

„Vor einiger Zeit berichteten wir, daß Rev. Chas. T. Russell, der Gründer der als „Russelliten" oder „Tagesanbruchsleute" bekannten Gemeinschaft und Verfasser ihres weiterverbreiten Buches „Tagesanbruch", sowie Editor der Zeitschrift „Wachtturm", von seiner Frau auf Scheidung verklagt worden sei und daß das Gericht ihr die begehrte Scheidung gewährt habe. Das ist soweit richtig. Es stellte sich aber heraus, daß die von der Presse verbreitete Angabe, daß die Scheidung auf Grund schwerer moralischer Vergehungen, deren seine Frau ihn beschuldigt haben soll, ohne daß er ihre Beschuldigungen widerlegt hätte, gewährt worden sei, grundlos ist. Es wurden von Frau Russell keine Beschuldigungen moralischer Vergehungen gegen ihren Mann erhoben. Die Scheidung wurde gewährt aus dem Grunde, weil die Geschworenen glaubten, daß die beiden, wenn auch kein gerechter Grund zur Scheidung vorlag, doch glücklicher sein würden, wenn sie voneinander getrennt lebten. Während wir mit den Lehransichten von Rev. C. T. Russell nicht übereinstimmen, wollen wir doch gerecht sein gegen ihn und widerrufen daher die von uns gemachte, anderen Blättern entnommene Andeutung, daß bei dem Scheidungsprozeß moralische Vergehungen seinerseits zutage gefördert worden seien."

Als weiteres Presseorgan wird zitiert:

„Der Christliche Apologete, - Deutsches Organ der Bischöflichen Methodistenkirche" vom 17. April d. J. bringt unter „Editiorelle Notizen" „Eine Berichtigung:"

„In der Ausgabe des „Christlichen Apologeten" vom 16. Mai 1906 haben wir einige Äußerungen bezüglich des Rev. C. T. Russell von Allgeheny, Pa, gemacht, welche schwer auf seinen moralischen Charakter reflektieren. Es wurde behauptet, daß in dem Ehescheidungsprozeß, welcher von seiner Frau gegen ihn angestrengt wurde, ihre Zeugenaussagen von ihm nicht widerlegt worden seien. In dem „Apologeten" vom 20. Juni desselben Jahres erschien ebenfalls eine Einsendung von einem unserer Korrespondenten, welche auf diese Behauptungen Bezug nahm. Es wird uns nun mitgeteilt, daß Rev. C. T. Russell in diesem Verhör keines moralischen Vergehens beschuldigt wurde und daß in bezug auf die Angelegenheiten zwischen ihm und seiner Frau er seine Integrität in jeder Beziehung aufs positivste behauptet habe und fernerhin, daß seine Frau auf dem Zeugenstand ebenfalls aufs bestimmteste behauptet habe, daß ihr Mann ein sittlich reiner Mensch sei und daß sie in dieser Beziehung keinerlei Klage gegen ihn zu erheben habe. Herr Russell behauptet, daß die Reflektionen gegen ihn auf eine indirekte Weise in das Verhör hereingezogen wurden und nur auf Hörensagen beruhten. - Da es uns ferne liegt, in diesen Spalten irgend eine Tatsache mißrepräsentieren zu wollen, und besonders nicht, wenn der moralische Charakter irgend einer Person dadurch affiziert wird, so sind wir gern bereit diese Berichtigung zu machen, und bedauern, daß wir in Gemeinschaft mit einer Anzahl Zeitschriften die Berichte der weltlichen Presse mißleitet wurden, welche zur Zeit zuverlässig erschienen, aber seitdem sich als falsch herausgestellt haben."

Auch in die deutsche Kirchenpresse waren diese Berichte über Russell „übergeschwappt", was auch die nachfolgende Klage aus dem vorgenannten „Wachtturm" deutlich macht:

„Wir freuen uns, den lieben Lesern des Wachtturms diese beiden Berichtigungen unterbreiten zu können, von denen man, wo es nötig ist, den geeigneten Gebrauch machen wolle. Wir warten schon längere Zeit darauf, daß „Der Gärtner" von Witten, „Licht und Leben" von Schwerte von Bayern, der „Zionspilger" von Langnau, der „Wahrheitszeuge" von Cassel, „Der Säemann" von Elberfeld, „Philadelphia" von Stuttgart, das „Allianzblatt" von Blankenburg, das „Barmer Sonntagsblatt", „Das Volk" von Siegen und Berlin, der „Christliche Volksbote" von Basel und das „Berner Tageblatt" eine ähnliche Berichtigung bringen, sintemal sie in ähnlicher Weise die schändlichen Verleumdungen nachgedruckt haben. Am 19. April haben wir sie auf die obige Berichtigung des „Sendboten" aufmerksam gemacht und ihnen gleichzeitig die Aprilnummer des Wachtturms gesandt und sie gebeten, eine Berichtigung zu bringen und uns ein Exemplar der Nummer des lattes zugehen zu lassen, in welcher die Berichtigung erfolgt. Wie gesagt, bis dato (d. 25. Mai) haben wir noch keine Silbe gehört, doch hoffen wir, daß die Berichtigung demnächst bald erfolgen wird, was wir den Lesern des Wachtturms dann gerne mitteilen."

In der August-Ausgabe 1907 konnte der deutsche „Zions Wacht Turm" dann mitteilen:

„Erfreulicherweise können wir mitteilen, daß das 'Allianzblatt' von Blankenburg. 'Philadelphia' von Stuttgart und der 'Brüderbote' von Bayern eine Berichtigung betr. obiger Angelegenheit gebracht haben im Sinne derjenigen Berichtigungen, die wir in der Juninummer des Wachtturms auf Seite 105 abdruckten."

Mißmutig muss der WT aber auch registrieren:

„'Licht und Leben' hingegen, redigiert von Pastor Wilh. Busch, hat in schändlicher Weise in der Mainummer die Sache nur zu verschlimmern gesucht."

Auch in den nachfolgenden Jahren erwies sich besonders „Licht und Leben" als einer der potentesten Gegner der Russelliten innerhalb der deutschsprachigen Kirchenpresse. Dazu kann man auch vergleichen:

19082Kaiser

19092Geiges

19092Licht

Übrigens pflegte die Russell-Bewegung bezüglich „Licht und Leben" zurückzuschießen. Das Jahr 1907 war jenes Jahr in welchem die damals neu aufgekommene „Pfingstbewegung" die Gemüter bewegte. Auch der „Wachtturm" äußerte sich zur ihr ablehnend. Auch „Licht und Leben" nahm aber zu ihr auch Stellung. Und genau diese Stellungnahme glaubt nun „Zions Wacht Turm" in seiner Ausgabe vom Dezember 1907 in der Form eines Leserbriefes „aufspießen" zu sollen. Man liest da:

„Die sektiererische Bewegung im Bezirk Kassel … die Gemüter verwirrte, hat, wie bekannt, das königl. Konsistorium in Kassel zur Stellungnahme gegen die Sektierer veranlaßt. Man sollte nun meinen, daß alle kirchlich Gesinnten das Vorgehen des Konsistoriums freudig begrüßen und unterstützen würden. Weit gefehlt. So schreibt der Herausgeber der … Wochenschrift 'Licht und Leben', Pastor Dr. Busch, in der letzten Nummer seines Blattes über diese Bewegung:

'Was sollen wir sagen zu dieser ganzen Sache? Die große Gegnerschaft kann uns nicht bestimmen, ein absprechendes Urteil zu fällen. Namentlich das wütende Geschrei der judoliberalen Blätter spricht uns eher für die Sache, als dagegen. Wir glauben, daß die Bewegung allerdings eine große, tiefgehende Erweckung ist, die der Herr geschenkt hat. Dafür wollen wir ihm dankbar sein. Es ist ja allerdings am bequemsten, wenn solche außerordentlichen Erscheinungen auftreten, sie einfach abzutun mit krankhaften Verirrungen, Suggestion, Hysterie usw. Aber gerecht ist das nicht! Wir glauben ganz bestimmt, daß hier heilige Kräfte auf dem Plane sind. Wo Sünden bekannt und ausgeliefert werden, da ist Gott der Herr mit seinem Geiste wirksam. Je mehr wir dieser Überzeugung sind, desto ernstlicher wünschen wir, daß nicht möchte Gottes Geisteswerk durch Menschen gehindert werden.'

Und dazu kommentierte dann der Schreiber des abgedruckten Leserbriefes:

„Man könnte den Dr. Busch mit seinem frommen Wunsche sich selbst überlassen, wenn nicht sein Blatt 'Licht und Leben' als die köstlichste Geistesnahrung von der orthodoxen Geistlichkeit nicht allein im Erscheinungsgebiet Kassel, sondern durch ganz Deutschland, auch in der Rheinprovinz, eifrig durch Küster, Diakonissen, Diakonen und Schulkinder verbreitet würde. Und mit diesem 'Licht und Leben' soll die evangelische Kirche erbaut werden."

Die bösen Agnostiker

Ein kirchlicher Apologet aus den 1920er Jahren wählte einmal bei seiner Bewertung der Bibelforscher den sinnigen Vergleich. Sie stellten sich ihm dar als Leute, die das Klavier erst in Stücke hauen und anschließend sagen, auf dem vorfindlichen Trümmerhaufen die herrlichsten Lieder spielen zu können. Diese Wertung erfolgte auch unter dem Gesichtspunkt, dass Russell's Ablehnung der Lehre einer Feuerhölle oder auch einer unsterblichen Seele, für die kirchlichen Leute nicht hinnehmbar erschien.

Nicht so sehr im deutschen Kulturkreis, wohl aber dem der USA, gab es für kirchliche Kreise einen besonderen "Buhmann". Robert Ingersoll sein Name. Auch Russell polemisierte in seinen "Schriftstudien" gegen ihn. Zu Ingersoll kann man unter anderem vergleichen

http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Green_Ingersoll

http://www.kirchenkritik.de/zitate/ingersoll.html

Aber wie gesagt nicht nur er. Auch weite Teile der übrigen religiösen Konkurrenz taten ein ähnliches. Indes im Detail unterschied sich diese Kritik an Ingersoll durchaus beträchtlich. Im deutschen "Zions Wacht Turm" vom Januar 1907 gibt es nun einen "Eine Antwort auf Robert Ingersoll's Angriffe auf das Christentum" überschriebenen Artikel. Formal greift Russell darin auch Ingersoll an. Dies jedoch auf eine Art und Weise, die bei seiner religiösen Konkurrenz unwillkürlich die Gedankenassoziation an das zerstörte Klavier weckt. Welches "liebliche Lied" Russell indes aus diesem Trümmerhaufen trotzdem glaubt hervorzaubern zu können. Zur Veranschaulichung dessen, ein paar Zitate aus diesem Artikel.

Einleitend liest man:

"In seiner einst gehaltenen 'Weihnachtspredigt' stellte Mr. Robert Ingersoll das Christentum ernstlich zur Rede und veranlaßte beträchtliche Aufregung in religiösen Kreisen. Der Prediger Buckley, Dr. theol., von der Methodisten-Kirche in New York erklärt, daß der Kern von Mr. Ingersolls Weihnachtspredigt in drei Angriffen liegt, welche er auf das Christentum macht, und welche Dr. Buckley 'drei riesige Lügen' nennt. Sie lauten wie folgt:

Erstens: 'Das Christentum kam nicht mit einer Botschaft großer Freude, sondern mit einer Botschaft ewigen Kummers.'

Zweitens: 'Es (das Christentum) hat die Zukunft mit Furcht und Flammen erfüllt und Gott zum Hüter eines ewigen Zuchthauses gemacht, bestimmt zum Aufenthalt für fast alle Menschen.'

Drittens: 'Nicht zufrieden damit, es (das Christentum) hat Gott der Macht, zu vergeben, beraubt.'"

Nach dieser Einleitung geht es weiter mit der Aussage:

"Einige Freunde Christi, der Bibel und wahren Christentums bitten dringend, daß dieser moderne Goliath eine Antwort erhalten durch einige Kiesel der Wahrheit aus unserer Schleuder - gerichtet nicht gegen einen großen und anscheinend ehrenhaften Mann, sondern gegen das System von Irrtümern, welches er, ohne Zweifel ehrenhaft, unterstützt; und zur Verteidigung der Wahrheit und der schüchternen und zweifelnden Kinder Zions - 'rechter Israeliten.'"

Russell zieht sich nun auf die Linie des vermeintlichen Urchristentums zurück, das im Widerspruch zum zeitgenössischen Christentum stände:

"Indem wir die Behauptung umkehren, wollen wir darlegen, 1. daß das Christentum nicht mit einer Botschaft ewigen Kummers kam, und 2. daß es mit guter Botschaft großer Freude kam, welche allem Volke werden soll".

Oberwasser wähnt Russell schon darin zu haben, dass seiner Meinung nach, der Begriff "ewige Pein" im Neuen Testament nicht vorkomme. Seine Ablehnung der Höllenlehre weiter im Detail ausbreitend, glaubt er schon dadurch, nicht von den Vorhalten Ingersolls tangiert zu sein.

"Als die zweite riesige Lüge in Mr. Ingersolls Rede bezeichnet Dr. Buckley seine Behauptung, daß 'es (das Christentum) die Zukunft mit Furcht und Flammen erfüllt und Gott zum Hüter eines ewigen Zuchthauses gemacht hat"

Dazu Russell:

"Wir setzen, daß Dr. Buckleys Einwendung nicht ist, daß das Christentum, sondern daß Gott die Zukunft mit Furcht und Flammen erfüllt habe. Aber in diesem Punkt müssen wir Mr. Ingersoll zustimmen."

Und weiter Russell:

"Die Tatsache kann nicht bestritten werden, daß die Zukunft für die zivilisierte Welt voller Furcht ist -, entweder Furcht für sie selbst oder für ihre Freunde. Aber nach ... Prüfung der heiligen Schrift finden wir, daß Gott nicht verantwortlich ist für diese Furcht, noch kam das Christentum mit einer Botschaft, solche Furcht zu erzeugen."

Seine langatmigen Ausführungen gipfeln eigentlich in einer These, nämlich der.

Russells Christentum sei nicht mit dem der religiösen Konkurrenz identisch. Und weil dem so sei, fühle er sich auch nicht von den Ingersoll'schen Anwürfen berührt.

Russell bietet also in die Praxis umgesetzt, das erstaunliche Beispiel dafür, wie man es fertig bringt, sich zu waschen, ohne dabei nass zu werden!

Die bösen Agnostiker (2)

„Und willst Du nicht mein Brüder sein - so schlage ich Dir den Schädel ein." Das ist - leider - ein alter Erfahrungswert. Graduell abgestuft (nicht unbedingt in der allerkrassesten Variante) begegnet man dem auch (nicht nur) in christlichen Kreisen. Äußert sich bei letzteren das auch nicht immer in vordergründigen Handgreiflichkeiten; so sieht es auf der Ideologie-Ebene schon erheblich anders aus. Wer da nicht im eigenen Trott mitmarschiert , „müsse" ein schlechter, vor allem moralisch schlechter Mensch sein. So die unausgesprochene - nicht selten aber auch ausgesprochene - Diktion.

Letztendlich war auch Russell keine Ausnahme von dieser Regel. Auch er hatte so seine zeitgenössischen „Lieblingsfeinde", die er auch ziemlich unverblümt als solche bezeichnete. Einer den er da „festnagelte"; sowohl in seinen „Schriftstudien" als auch im „Wachtturm" war der „Agnostiker Robert Ingersoll".

Indes durchaus bemerkenswert, dass auch Russell an dem Umstand nicht vorbei kam, dass dieses Klischee wohl doch nicht ganz mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Einem Bespiel dafür begegnet man auch in der deutsche Ausgabe des „Zions Wacht Turm" vom Juni 1907. Unter der Überschrift „Der Wein falscher Lehre" präsentiert er eine seiner „Bibelauslegungen". Zwar ist das Thema Alkohol darin nicht sein Hauptthema. Da es aber schon in der Überschrift mit zum tragen kommt, spart er es aber auch nicht grundsätzlich aus. Und dabei meint er (eigentlich ohne Not. Er hätte auch ebensogut auf dieses Beispiel verzichten können), auch auf den Robert Ingersoll mit zu sprechen kommen zu sollen.

Im genannten WT liest man:

„Die Schrift kennt zweierlei Trunkenheit, und weist auf deren böse Folgen hin. Es wäre durchaus ungerecht, die berauschenden Getränke für allen Schaden der Welt verantwortlich zu machen, wiewohl der Alkohol unstreitig einer der schlimmsten Feinde der Menschheitsgeschichte ist. Er ist nach den neuesten Forschungen der wesentliche Träger der wärmenden, anregenden Tätigkeit des Blutes aller Wesen (den Menschen inbegriffen); aber die Natur scheint für die richtige Menge in den Organismen schon vorgesorgt zu haben, so daß jede Vermehrung, Zufuhr desselben schädlich ist. Wir hören gerne junge Leute, insbesondere junge Männer bezeugen, daß noch kein berauschendes Getränk über ihre Lippen gekommen. Das macht freilich noch nicht Heilige aus ihnen, aber es beweist, daß sie in diesem Stück verständig urteilen. Wer keinen Alkohol geniest, dem kann der Alkohol nichts anhaben.

Der bekannte Agnostiker (Ungläubige) Robert Ingersoll sagt: „Ich halte dafür, daß der Alkohol entsittlichend wirkt auf alle, die damit zu tun haben: auf die, welche ihn herstellen, auf die, welche ihn verkaufen, und auf die, welche ihn trinken. Auf seinem Wege aus der Schnapsfabrik bis in die Hölle des Verbrechens und der Schande erniedrigt dieser Strom alles, was mit ihm in Berührung kommt. Niemand kann das mit ansehen, ohne einen Widerwillen gegen die mörderische Flüssigkeit zu bekommen. Man zähle nur auf beiden Ufern des Stroms die Opfer. Die Selbstmörder, die Irrsinnigen, die Verarmten, die Unwissenden, die Verzweifelnden, die Kinder, welche weinenden, jammernden Müttern an den abgebrauchten Röcken hangen und um Brot betteln, die begabtesten Männer, die in den Kot hinabgezogen, überhaupt an die Millionen Menschen, die ihre Kraft daran vergeudet, mit Schlangen zu kämpfen, welche dieser Teufelstrank ihrer Einbildungskraft vorgegaukelt. Dazu alle Armenanstalten, alle Gefängnisse (wir möchten beifügen: alle Armenquatiere der großen Städte, alle Irrenanstalten, alle Bordelle, Matrosenkneipen usw. usw. der Übers.) - wie kann es da noch einen denkenden Menschen geben, der nicht mit Vorurteil erfüllt wird gegen diesen schrecklichen Alkohol!"

Reformierte Kirchenzeitung

Einer Reflexion der Russell'schen Eheschwierigkeiten kann man auch in der Nr. 21/1907 der "Reformierten Kirchenzeitung" begegnen. Dort nimmt ein gewisser Rohleder unter der Überschrift "C.T. Russell" das zum Anlass, um mal ein paar Anmerkungen zum Bibelforscher-Thema zu machen, das ja zu dieser Zeit mindestens, noch relativ neu für Deutschland war. Bevor darauf eingegangen wird, sei noch aus einem anderen Artikel der gleichen Ausgabe der "Reformierten Kirchenzeitung" zitiert. Er hat zwar, vordergründig, überhaupt nichts mit dem Bibelforscher-Thema zu tun. Indirekt sagt es jedoch durchaus einiges aus über das "Geistesklima", in dem diese "Reformierte Kirchenzeitung" sich bewegt.

Dort kommentiert ein gewisser Kolfhaus:

"Wir in Deutschland haben noch nicht die scharf zugespitzten kirchlichen Verhältnisses des Nachbarlandes (Einfügung: damit ist Frankreich gemeint). Unser Liberalismus hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sich bisher noch nicht offen als Feind des Christentums hingestellt, er hält meistens noch mit einiger Pietät an der Kirche der Reformation fest und hat sich bisher von kirchlicher Sitte und Anstand nicht lossagen wollen. Aber auch der deutsche Liberalismus ist dem Gesetz unterworfen, daß verneinende und zerstörende Geistesbewegungen die Urbanität der Form und die Pietät gegenüber dem geschichtlich Gegebenen immer mehr einbüßen, je kraftloser sie sich fühlen an innerem Gehalt. So war es auf politischem Gebiet mit den Revolutionsparteien der französischen Revolution, so auf kirchlichen z. B. aus jüngster Vergangenheit mit den freiprotestantischen oder freireligiösen Gemeinden.

Sonst besaß bei uns im Westen der Liberalismus so viel kirchlichen Anstand, daß er sich bei Kirchenwahlen zurückhielt in dem richtigen Gefühl, daß Leute, die selbst nicht zur Kirche gehen, auch nicht in die Leitung der Gemeinde hineingehören. Die letzten Kirchenwahlen in Solingen und Köln zeigten uns den kirchlichen Liberalismus Arm in Arm mit der Sozialdemokratie, und ein sich selbst "evangelisch" nennendes Gemeindeblatt stand jubelnd daneben und frohlockte über den glänzenden Sieg."

Das also ist das geistige Level der "Reformierten Kirchenzeitung".

Da müsste man ja - oberflächlich betrachtet - nun annehmen, die Russell-Bewegung würde von ihr freudig begrüßt. Weit gefehlt indes. Gerade relativ Geistesverwandte Kreise, erweisen sich als die untereinander am streitsüchtigsten. Das sieht man schon beim Fall der Publizistik der Zeitschrift "Licht und Leben". Dieweil die Bibelforscher eben im selben Ungebildeten Niveau "grasen" und offenbar erfolgreich "grasen" ist man auf sie nicht gut zu sprechen. Mit Abstrichen registriert man nun ähnliches in der "Reformierten Kirchenzeitung". Letztere meinte nun in dem angekündigten Artikel:

"Der Herausgeber von "Zions Wachtturm" ist in Allegheny in Nordamerika ist durch Schwurgerichtsurteil von seiner Frau Marie Frances, geb. Ackley, geschieden worden. Die Schuld liegt aber nach den Ausführungen der Aprilnummer des Wachtturms weitaus und vor allem auf seiten Frau Russell, Sie war schon lange Mitarbeiterin des Wachtturms, eigentlich Mitredakteurin. Sie glaubte aber immer, sie sei doch nicht weit genug im Vordergrund. Sie wollte schließlich den Wachtturm allein redigieren. Als ihr Mann das nicht zugab, griff sie ihn öffentlich an. Erst mietete er ihr, als sie sich später von ihm trennte, eine Wohnung mit 10 Zimmern. Später setzte er ihr 40 Dollar für ihren Unterhalt aus.

Eine Zeit lang war Frau Russell stark für die Bestrebungen der Frauenrechtlerinnen eingenommen. Dann aber meinte sie immer, ihr Mann sei der Knecht in Matth. 24, 45-61. Und zwar glaubte sie, als er ihr die Leitung des Wachtturms nicht ganz überließ, er werde diese Stelle insofern erfüllen, als er als der ungetreue Knecht verworfen werde und - sie dann an seine Stelle zu treten berufen sei.

Schließlich reichte sie eine Scheidungsklage ein, indem sie auch seine eheliche Treue zu verdächtigen suchte. Die Untersuchung hat aber dargetan, daß es sich um völlig nichtige Beschuldigungen handelt, die alle sofort wieder aus dem Gerichtsprotokoll gestrichen wurden. Allerdings hat sich dabei auch ergeben, daß ein eigentliches eheliches Leben zwischen beiden nicht bestanden hatte. Sie hätten ihre Ehe nach 1. Kor. 7 Vers 1 und 30 geführt. Doch habe das, versicherte Russell, in ihrer Macht gestanden.

Die Geschworenen sprachen die Scheidung aus, weil sie glaubten, "daß keine Hoffnung auf eine Wiederaussöhnung vorhanden sei und daß sie beiden Parteien Gutes erzeigen würden, wenn sie sich für eine Scheidung entschliessen." Russell ließ durch seinen Rechtsvertreter Einspruch erheben. Er sei nicht dagegen, daß seine Frau eine Scheidung bekomme, wohl aber habe er protestiert, weil ihre Klage eine wahrheitswidrige und verleumderische war."

Nach dieser relativ sachlichen Darstellung, hängt Rohleder dann noch eine Zusammenfassung und Kommentierung der wesentlichen Russell-Lehren an. Sie stellen sich ihm wie folgt dar:

...Für die Gottlosen beginnt nach Russell eine neue Prüfungszeit. Sünder, die (nach Jes. 65,20) noch 100 Jahre widerstreben, sollen dann verflucht werden. Das bedeutet aber nach Russell nicht Verdammnis oder Hölle, sondern Vernichtung. Das stimmt weder mit der Schrift, noch mit den sonstigen Kundgebungen und Erfahrungen der neueren Zeit überein. Der Hauptertrag der spiritistischen Hochflut der Neuzeit ist doch wohl der Beweis, daß es Wesen außer dem Leib gibt, die aber nicht himmelwärts gravitieren, sondern erdgebunden oder unselig sind."

Zumindest nach der unmaßgeblichen Meinung eines Rohleders. Und abschließend äußert letzterer dann noch:

"In Russells Büchern herrscht Buchstabendienst, der den Geist tötet. Am bedenklichsten aber ist wohl, daß er den Ernst der göttlichen Strafgerechtigkeit abschwächt oder ganz aufzuheben scheint."

Letztere etwas verklausuliert formulierte Bemerkung, zielt dann ja wohl besonders auf das Mißfallen kirchlicher Kreise hin, dass Russell sich als potenter Ablehner der Höllenlehre erwies. Das aber ging für diese Kreise ans "Eingemachte". Deshalb und nur deshalb, sind auch sie sauer auf den Scharlatan Russell.

Im Vollrausch

„Reformation oder Untergang der sozialen Ordnung". Mit dieser plakativen Überschrift macht der deutsche „Zions Wacht Turm" vom Oktober 1907 an herausgehobener Stelle (ganz zum Anfang dieser Ausgabe) auf. Offenbar glaubt man, damit einen entscheidenden Nerv der aktuellen Tagespolitik beschrieben zu haben.

In der Sache wird eine von Dritten gemachte Aussage (also keine Eigenaussage) zitiert; gekoppelt allerdings mit der Empfehlung:

„Jeder Wachtturmleser sollte Band IV, Der Tag der Rache (später umbenannt in: Der Krieg von Harmagedon) lesen, damit er im Lichte wandele:"

Russell glaubt also sich dieser gesellschaftspolitischen Analyse anschließen zu können, ja sie selbst zu vertreten. Der entscheidende Knackpunkt erweist sich in der Frage eines möglichen Lösungsansatzes. Und da orientiert Russell in der Tat - einzig und allein - auf das vermeintliche „göttliche Eingreifen". Im Bilde gesprochen. Sein Rezept: Eine möglichst große Dröhnung mittels Alkohol, um im Vollrausch, die Geschehnisse halbwegs zu „verkraften". Das dies letztendlich eben keine Lösung ist, muss ebenfalls klar ausgesprochen werden.

Im einzelnen zitiert Russell:

„Reformation oder Untergang der sozialen Ordnung. Hierüber hielt Dr. Jakob Gould Schurman, Präsident der Cornell-Universität in den Ver. Staaten, jüngst in New York eine Ansprache. Er griff das gegenwärtige industrielle System an und erklärte, daß, wenn seitens der Kapitalisten nichts für die Tagelöhner geschähe, so würde am Ende eine soziale Revolution ausbrechen. Seine Äußerungen riefen eine Sensation hervor. Er sagte z. T.:

'Dampf, Elektrizität und das angehäufte Kapital verdrängen in unseren Tagen die kleinen Fabrikanten und Kaufleute. Die Gelegenheit für junge Männer, unabhängige Erzeugen oder Käufer und Verkäufer von Waren zu werden, wo die Geschäfte nach einem Maßstab von Millionen, anstatt von Tausenden und Hunderten von Dollar betrieben werden, ist unendlich geringer, als zur Zeit unserer Väter.

Der Tagelöhner fühlt, daß er und seine Kinder der Armut preisgegeben wird, und erhebt sich zum Aufstand gegen ein wirtschaftliches System, das so etwas ermöglicht. Er protestiert dagegen, daß das Kapital einen so großen Anteil erhält an den Produkten, die die Arbeiterschaft erzeugt. Sein Heilmittel, wenn er überhaupt ein solches hat, ist die Entäußerung des Privatkapitals im öffentlichen Interesse und die Gründung eines Sozialistischen Staates, in welchem alle Arbeiter eine Belohnung erhalten, wie sie ihnen gebührt.

Irgendwie - ich weiß nicht wie, doch irgendwie - müssen die Organisatoren, Finanzleute und leitenden Männer unserer modernen Anstalten für Produktion und Einrichtungen für Transport ein Mittel ersinnen, wodurch die Männer, von deren Arbeit sie abhängig sind, an dem Unternehmen Teilhaber werden. Die gegenwärtige Unzufriedenheit und das zum Kampfe reizende Gefühl von Ungerechtigkeit muß beseitigt werden, wenn unser Wirtschafts- und Industrie-System Bestand haben soll."

Zu dieser Zitierung kommentiert Russell dann noch:

„So sehen wir von Zeit zu Zeit, wie etliche wahrnahmen, was im Anzuge ist, wenngleich sie nicht mit uns gehen und über die Lehren der Bibel über diese Dinge in Unwissenheit sind. Sie 'verschmachten vor Furcht und Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen.' Unser Herr sagt, daß Seine Nachfolger ihre Häupter emporheben und frohlocken können, wissend, daß ihre Erlösung nahet."

Stimmungsbild

Ein Stimmungsbild wie denn die Verkündigung der frühen Russell-Organisation in Deutschland so „angekommen" ist, kann man auch einem in der August-Ausgabe 1907 abgedruckten Leserbrief entnehmen. Da berichtet ein „Kolporteur" über seine Erfahrungen beim verbreiten der Russell-Literatur während einer „Schwarzwaldreise". Und dabei gibt er unter anderem auch die folgende Charakteristika ab:

„Die Leute befinden sich hier in einer sehr aufgeregten trostlosen Lage und sind sehr revolutionär gesinnt. Vom Christentum wollen sie nichts mehr wissen, infolge dieser brutalen Aussperrung der Arbeiter von seiten der Unternehmer. Auch die Bürgersleute sind sehr aufgeregt darüber, und die Arbeiter sind in Not. Die Geschäftsleute müssen auch darunter leiden, und merkt man an allem, daß das Ende vor der Tür ist. … Man findet die Leutlein heraus, die diese Freudenbotschaft mit Freudigkeit aufnehmen. Doch nur unter den armen Leuten sind sie zu finden, denn reichere Leute, Geschäftsleute und Bodenbesitzer wollen vom Reiche Gottes nichts wissen, das auf Erden aufgerichtet wird. Sie lachen höchstens, wenn man davon redet, oder weisen einem barsch die Türe. …

Einen Stadtschein zum Verkauf der Traktate habe ich noch von keiner Behörde erhalten, doch hat der Herr mir andere Wege gezeigt. Ich verkaufe die Traktate nicht direkt, sondern gebe sie den Leuten. Fragen sie, was dieselben kosten, so weise ich darauf hin, daß ich dankbar bin, wenn sie freiwillig einige Pfennige beisteuern, zumal ich durch den Verkauf der Bücher nicht imstande bin, meinen Lebensunterhalt zu decken. Ich erhalte dann 10, 15, 20, 25 u. 30, ja einmal erhielt ich schon 50 Pfg. Sonst gebe ich die Blätter gratis. Ich komme so zu meinem Tagelohn und decke meinen Unterhalt. Man muß wohl den ganzen Tag laufen, und ist es ja keine leichte und bequeme Arbeit …"

Wie das "Nadelöhr" sich wandelte

Gemäß der Neuen Welt Übersetzung liest man in Matthäus Kap. 19:

"Jesus aber sprach zu seinen Jüngern: „Wahrlich, ich sage euch, daß es für einen Reichen schwierig sein wird, in das Königreich der Himmel einzugehen. Wieder sage ich euch: Es ist leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in das Königreich Gottes einzugehen." Als die Jünger das hörten, zeigten sie sich höchst erstaunt und sprachen: „Wer kann dann wirklich gerettet werden?" Jesus schaute sie an und sagte zu ihnen: „Bei Menschen ist dies unmöglich, bei Gott aber sind alle Dinge möglich."

Diese Aussage hatte wohl zu allen Zeiten den Sinn der Bibelausleger beflügelt. Auch Russell bildete keine Ausnahme von dieser Regel. So kam er etwa schon im Band 4 seiner "Schriftstudien" darauf zu sprechen, wenn er dort interpretiert:

"Wenn unter dem "Nadelöhr das Tor dieses Namens in Jerusalem gemeint ist, was wahrscheinlich ist, so besagt die Stelle, daß die Reichen, um ins Reich Gottes einzugehen, erst gebeugt und entlastet werden müssen wie die Kamele, die nachts, wenn die anderen Tore verschlossen waren, durch jenes "Nadelöhr eingelassen wurden."

In der Märzausgabe 1907 des "Zions Wacht Turm" wird das erneut von ihm thematisiert. Dort äußert er:

"Jesu Hinweis auf das Kamel und das Nadelöhr ist so zu verstehen, daß letztere eine kleine schmale Tür im Stadttor bedeuten soll. Dieses Pförtchen mannte man Nadelöhr. Wenn das Tor der Stadt bei Sonnenuntergang aus Furcht vor Räubern usw. geschlossen wurde, brauchte der Wächter nur das kleine Nadelöhr zu bewachen. Der Durchgang durch dasselbe war mit Absicht erschwert, damit das Eindringen von Feinden verhütet wurde. Es soll, wie man sagt, einem Kamel möglich gewesen sein, sich auf den Knieen hindurchzuquetschen, nachdem die Last von seinem Rücken entfernt war. Ob es sich in der Tat so verhält, läßt sich nicht mehr bestimmt feststellen. Jesu Gedankengang dabei ist wahrscheinlich folgender: Kein Reicher kann in das Reich eingehen. Das einzige Mittel, um hineinzukommen, ist arm zu werden und gar nichts mehr zu sein, - durch das Drangeben von allem. Und das schließt Reichtum aus, auch auf sozialem, politischen und finanziellem Gebiete. Also, was für eine Stellung man auch früher eingenommen hat, man muß aufhören, in seinem eigenen Namen, Würden und Besitz reich zu sein, ehe Gott einen würdig für Sein Reich erachten kann. Der Geist des Königlichen Priestertums ist der der Selbstentsagung, und nicht der Selbstsucht. …"

Russell zusammen mit seinem Sekretär Menta Sturegon beim ausbrüten seiner "Wahrheit"

http://www.manfred-gebhard.de/RuSwit.JPG

Schon seine Nachfolger Rutherford befand alsbald. Das mit dem "arm werden und gar nichts mehr zu sein." das wolle er doch lieber - zumindest für seine Person - schleunigst vergessen.

Rutherford mit Cadilac in Positur vor Beth Sarim  nach der Wiedergabe der polnischen Bibelforscher-Zeitschrift "Swit"

http://www.manfred-gebhard.de/BeSwit.jpg

Offensichtlich verdrängte aber Rutherford den Widerspruch zwischen seinen Worten und seinen Taten. Einem Beleg dafür begegnet man denn auch im "Wachtturm" vom 1. Juli 1932 S. 198 wenn er dort schreibt (oder schreiben lässt):

"Manche haben gedacht, sie könnten fortfahren, Reichtum zu erwerben durch dieselben Methoden, die das Großgeschäft anwendet und trotzdem noch in das Königreich Gottes zu kommen; aber eine solche Sache ist eine absolute Unmöglichkeit: 'Denn es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr eingehe, als daß ein Reicher in das Reich Gottes eingehe.' (Lukas 18:25). Es wäre nicht richtig, diese Worte Jesu nur auf das kleine Tor in der Mauer Jerusalems zu beziehen; die Worte meinen genau das, was sie sagen. Irgendein Mensch, der sich der Methoden des Großgeschäfts bedient, könnte unmöglich im Reiche Gottes sein."

Wohlweislich unterlässt es Rutherford aber jene nebulösen "Manche …" in seinem Text, die sich da vom "Grossgeschaft" aushalten lassen, näher zu lokalisieren. Durchaus nicht unwichtige Stimmen meinen; zu diesen "manchen" gehörte auch er selbst, höchstpersönlich, indem er sich sein Steckenpferd, eine umfängliche kommerzielle Radioverkündigung, eben von jenem "Grossgeschäft" maßgeblich finanzieren lies. Subventionsmechanismen begegnet man auch in der Gegenwart. Um nur ein Beispiel zu nennen. Die kostenlosen werbefinanzierten Zeitungsausgaben, die da allwöchentlich die Briefkästen zu verstopfen pflegen. Solche "Sponsoren" indessen handeln nicht uneigennützig. Das war auch bei Rutherford schon so.

Von Zeit zu Zeit wird da schon eine Kosten-Nutzen-Analyse durchgeführt. Offenbar fiel die für Rutherford zusehends ungünstiger aus; weshalb er denn auch in vorstehenden Worten seinem Frust einmal freien Lauf lies.

Es ist auch noch bemerkenswert, dass Rutherford, indem er sich von der Russell'schen Nadelöhr-Auslegung abwandte, diesem nicht einmal beim Namen nannte. Aber das kennt man ja auch aus anderen Beispielen; etwa seiner Kippung der Russell'schen Pyramidentheorien.

Nach 1945 war die Russell'sche Nadelöhr-Interpretation, wiederum ohne ihm beim Namen zu nennen, endgültig zu den Akten gelegt. Einem frühen Bespiel dafür begegnet man im "Wachtturm" des Jahres 1951 S. 272f. Dort liest man:

"Wir erinnern uns, dass man vor Jahren das 'Nadelöhr' so erklärte, als ob es eine kleine Tür in einem der grossen Tore Jerusalems bedeutete, so dass, wenn die Nacht hereingebrochen und die Tore verschlossen waren, man dieses Türchen öffnen und das Kamel von seiner Last befreien konnte, so dass es auf den Knieen und Schenkeln, anders gesagt: unter grossen Schwierigkeiten, durch die kleine Tür hindurchkriechen konnte.

Dann im Jahre 1940, gab George M. Lamsa seine Übersetzung 'Das Neue Testament, übersetzt aus aramäischen Originalquellen' heraus, worin Matthäus 19:24 wie folgt lautet:

'Wiederum sage ich euch: Es ist leichter für ein Seil, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in das Königreich Gottes einzugehen.'

In Lukas 18:25 aber wird in der Originalbibel ein anderes griechisches Wort benutzt, und die Neue-Welt-Übersetzung gibt somit diesen Vers wie folgt wieder:

'Es ist in der Tat leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Königreich Gottes eingehe.' Wir glauben, dass Jesus eine buchstäbliche Nahnadel und ein buchstäbliches Kamel meinte, um die Unmöglichkeit der Sache ohne die äusserste Hilfe Gottes darzustellen."

Auch bei späterer WTG-Thematisierung dieses Themas, gibt es keine Rückkehr zu Russell mehr. Etwa, wenn man in "Erwachet!" vom 22. 8. 1976 liest:

"Um zu veranschaulichen, wie schwer es ist, in das Königreich zu gelangen, sagte Jesus Christus: "Es ist leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in das Königreich Gottes einzugehen" (Matth. 19:24). Was für ein Nadelöhr war das eigentlich?

Es war das Öhr einer gewöhnlichen Nähnadel. In dem Werk 'An Expository Dictionary of New Testament Words' heißt es: "Das ,Nadelöhr auf kleine Tore anzuwenden scheint ein neuzeitlicher Gedanke zu sein; in alter Zeit findet sich davon keine Spur. Der Herr wollte mit seiner Erklärung das menschlich Unmögliche an der Sache zum Ausdruck bringen, und man braucht nicht zu versuchen, die Schwierigkeit abzuschwächen, indem man das Wort Nadel so auffaßt, als bedeute es mehr als das gewöhnliche Werkzeug."

Russell und Booth

Über einen rückblickend als "Missgriff" zu wertende Entscheidung Russell's berichtet der englische "Zions Watchtower" in seiner Ausgabe vom 15. 2. 1907.

Offenbar hatte Russell Besuch von einem Afrika-Missionar namens Joseph Booth erhalten. Der war zwar davor schon für einige andere religiöse Organisationen tätig. Nun aber glaubte er, zumindest zeitweilig, auch mit Russell ins Geschäft kommen zu können. Das Interesse war offenbar beiderseitig. Russell witterte die Chance, über Booth einen Fuß auf den afrikanischen Kontinent setzen zu können. Und so werden denn die Leser in der genannten Ausgabe des englischen ZWT darüber informiert, dass nunmehr Booth im Auftrag und mit finanzieller Unterstützung der Wachtturmgesellschaft, weiter in Afrika missionarisch tätig sein werde.

In einem rückblickenden WTG-Geschichtsbericht kommt allerdings die Ernüchterung zum Vorschein, wenn dort Booth als eine Art "religiöser Anhalter" bezeichnet wurde, der just zu jener Zeit auch bei Russell Station machte. Dazu äußert jener WTG-Bericht:

"Gegen Ende 1906 las Booth, der sich gerade in Schottland aufhielt, einige Bücher von Bruder Russell. Bald war er unterwegs nach den Vereinigten Staaten. Booth traf mit Bruder Russell zusammen, und es ergab sich eine sehr interessante und entscheidende Unterhaltung. Bruder Russell wußte sehr wenig über Booths Vergangenheit und über sein Hauptziel, Afrika den Afrikanern wiederzugeben. Er konnte auch nicht wissen, daß Booth von den Behörden und den Weißen in Njassaland als unerwünscht betrachtet wurde und daß er bereits einige Religionsgemeinschaften gebraucht hatte, um seine eigenen Pläne zu verfolgen. Außerdem war Bruder Russell daran gelegen, jemand zu finden, der ein neues weites Feld erschließen würde."

An anderer Stelle bescheinigt ihm die WTG:

"In Wirklichkeit hatten weder Booth noch Kamwana Babylon die Große, die falsche Religion, wirklich verlassen, sie wurden nie Bibelforscher oder christliche Zeugen Jehovas. Ihre Beziehungen zur Watch Tower Society waren von kurzer Dauer und nur oberflächlich."

Immerhin trat eine Folgewirkung dergestalt ein, dass eine von der WTG unabhängige "Wachtower-Bewegung" (auch Kitawala genannt) in Afrika entstand, die dort noch jahrzehntelang dominierte, bevor die WTG das "Feld" wieder für sich rekrutieren konnte. Und der Beginn alles dessen war um die Jahreswende 1906/07.

Exkurs Booth.

Im Zeitspiegel

Zitat
„Möchte es ihnen gelingen, auch das, was jene „Erntearbeiter" in Afrika niedergerissen haben, von neuem zu sammeln, zu stärken und in kirchlich geordnete Bahnen zu lenken."

Mit diesen Worten endet in der „Allgemeinen Evangelisch-lutherischen Kirchenzeitung" vom 25. 8. 1913 ein mehrteiliger Artikel unter der Überschrift „Die kirchlichen Separationen unter den Missionschristen Südafrikas", verfasst von einem Pastor namens Hentsch.
Herr Hentsch meint, die Russelliten würden in jener Gegend als sogenannte „Kirche des lebendigen Gottes" bekannt sein. Die wiederum sei identisch mit dem, was eben in Deutschland als „Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher" dahersegle.
Einleitend sucht er erst mal seinem Publikum darzustellen, wie besagte Bibelforscher sich aus kirchlicher Sicht in Deutschland darstellen würden.

Die Russelllehre beschreibt er auch mit den Sätzen, nachdem er noch hervorgehoben hat, außer zustimmende Leserbriefe, und Russellartikel gäbe es im „Wachtturm" keine anderen Meinungsäußerungen. Dann ist seine nächste Feststellung:

„Den letzten 7000-Jahrtag läßt Russell mit der Erschaffung Adams beginnen und mir der „Wiederbringung aller Dinge" nach Apg. 3,21 enden.
Die letzten 1000 Jahre davon stellen das Zeitalter der Herrschaft Christi dar.
Sie haben nach Russells biblischer Zeitrechnung 1874/75 begonnen.
Seit der Zeit besteht analog der 40 Jahre von 30 bis 70 nach Christo, die die jüdische Erntezeit darstellen, für die Christenheit eine gleichlange Erntezeit, die 1914/15 zu Ende geht.. Bis dahin müsse der „Weizen", d. h. die wahren Christen, von der Spreu, d. h. die Namenchristen geschieden sein, um mit Christo zur himmlischen Herrlichkeit erhoben zu werden."

Dann leitet er als nächstes nach Afrika über:

„Das zweifelhafte Verdienst, diese Idee den afrikanischen Missionschristen gebracht zu haben, hat ein früherer schottischer Missionar Namens Booth.
Schottische Freunde hätten ihm im Jahre 1906 während seines Heimaturlaubs das Russellsche Werk geschenkt. Er las es und glaubte schließlich, nun das allein Richtige gefunden zu haben. Die Russellschen Anschauungen begeisterten ihn so, daß er sich entschloß, das ihm übertragene kirchliche Missionsamt niederzulegen, nach Allegheny zu Russell zu reisen und ihm seine Dienste anzubieten."

Weiter geht es mit dem Bericht:

„Schon im Januar 1907 trat er, von Russell ausgestattet seine Ausreise nach Afrika an."

Dort aber, hatte er anfänglich keinen sonderlichen Erfolg. Das wiederum sollte sich alsbald dergestalt ändern:

„Russell sandte ihm nun einen farbigen Helfer nach, und schon im April 1908 konnte er von 35 gewonnenen Auserwählten ... berichten.
1909 meldete er, daß der größte Erfolg in und um Pretoria zu verzeichnen sei, ja daß einer seiner neugewonnenen Mitarbeiter, Mr. Elliott Kamwane, bereits bis zum Nyassaland vorgedrungen sei. Dort habe er bis Ende 1908 schon 9126 Erwachsene, einmal 300 an einem Tage, nach Russellschen Ritus taufen können.
An einem Orte sollten sich 700 Auserwählte, an 30 anderen zusammen 3000 befinden, die die Russellsche Bibellehre ... vorgezogen haben.
Weitere 6000 sollten dafür interessiert sein."
Selbst ein König namens Lenaika „600 Meilen nördlich von den Pretoria-Fällen, soll an Russells Vertreter sogar eine Abordnung mit der Bitte um Zusendung der sechs Bände Schriftstudien „Millenium-Tages-Anbruch" gesandt haben, wünschend, daß die neue Botschaft nicht nur von seinen Kapitänen, sondern auch von seinem ganzen Volke angenommen werden möchte."

Weiter Hentsch kommentierend:

„Das Resultat der Tatsache, daß sich überall dort, wo Russells Sendboten hinkamen, die glaubensjungen Christen in Scharen für die neue Erkenntnis begeistern ließen, war ein für die Kirchenmissionare recht empfindlicher Verlust ...
Durch die Verbreitung der Russellschen Ansicht, daß die kirchlichen Pastoren die Pharisäer seien, die ihren Gemeinden den Schlüssel der wahren Erkenntnis weggenommen haben bzw. vorenthalten, verloren die Missionare endlich auch noch allen Respekt und alle Achtung auf Seiten der Gemeindeglieder."

Schien der Erfolg der Russelbewegung einstweilen ungebrochen, sollte alsbald doch noch eine empfindliche Delle eintreten dergestalt, dass der bereits genannte Mr. Booth beschloss, die Endstation seiner Weltanschauungsreise, könnte der Russellismus noch nicht gewesen sein.
Booth trat nämlich nach diesem Bericht, als nächstes zu den Siebenten-Tags-Adventisten über.
Der Bericht geht dann mit den Angaben weiter:

„Mit Booth hatte Russell seine damals stärkste Stütze in Afrika verloren. Er sandte deshalb einen Wm. Johnston zur Untersuchung und Neuordnung der Dinge dorthin.
Auch Johnston fand viel Willigkeit zum Hören, aber noch viel mehr zu ordnen. Die Separatisten, die sich seinerzeit unter Booth und Kamwana von der Mission losgesagt hatten, wiesen auf die von ihnen mit hinübergenommenen, inzwischen teils verfallenen Kirchen und Schulen hin und forderten ordentliche Bestallung und Beihilfe für ihre Prediger, wie sie das von den Kirchenmissionaren gewohnt waren. Ebensowenig als Russell bis dahin für diese Zwecke etwas übrig gehabt hatte, ebensowenig konnte ihnen Johnston irgendwelche Aussicht auf Erfüllung ihrer Wünsche machen.
Ihnen schließlich noch, wie die Kirchenmissionare, in wirtschaftliche Beziehung mit Rat und Tat beizustehen, war ihm erst recht nicht gegeben.
Dazu hatte er weder Geld noch irgendwelchen Grad von Verständnis für die Frage, ob die in der modernen Kultur noch jungen Afrikaner wieder nackend umhergehen oder aber mit ihrer Christianisierung auch nach außen hin fortschreiten sollen."

Zu dem mit erwähnten Joseph Booth dessen eher „Endphase" bereits beschrieben wurde, gälte es noch etwas über seine „Frühphase" zu erwähnen.

en.wikipedia.org/wiki/Joseph_Booth_(missionary)

Eine programmatische Schrift letzteren („Afrika den Afrikanern"; nur Englischsprachig erschienen.

http://books.google.de/books?id=_OLLyPCZ38MC&printsec=frontcover&dq=Joseph+Booth&hl=de&sa=X&ei=bJ0KUodfytCyBuqfgQg&ved=0CDcQ6AEwAA#v=onepage&q=Joseph%20Booth&f=false

Besagtes Buch hört sich vom Titel her erst mal Antikapitalistisch an. Ob es indes dieses auch tatsächlich ist, erweist sich wohl als eine anders gelagerte Frage.

Regional spielten wesentliche Vorgänge sich dabei in jener Region ab, welche heute als Malawi bekannt ist (davor als Nyassaland).
Schon vor Booth gab es dort christliche Missionare. Namentlich die Schottische Staatskirche, hatte traditionell dort einen „Fuß in der Tür"
Indem nun Booth mit missionarischem Impetus, auch in jener Region auftauchte, muss das im Sinne der Konkurrenz, aber kaum im Sinne einer nicht vorhandenen Kooperation unter den christlichen Missionsgesellschaften angesehen werden.

Ein herausragendes Stichwort in diesem Kontext ist die „Zambesi-Industrial-Mission".
Booth entdeckte, einige weltliche Pflanzer hätten mit dem Kaffeeanbau, dort das „große Geld" gemacht. Besagtes „große Geld" wollte auch er letztendlich machen. Aber im Gegensatz zu den weltlichen Pflanzern dann mit einem frömmelnden Anstrich, und auch in Konkurrenz zur dort bereits etablierten Mission der Schotttischen Nationalkirche.
In den Jahren 1894 und 1897, kam dann auch die Deutschsprachige „Allgemeine Missions-Zeitschrift" verschiedentlich auf die Ambitionen des Joseph Booth zu sprechen. Unter Verzicht auf die konkreten Seitenangaben, in den beiden genannten Jahrgängen des vorgenannten Blattes, sei aus dessen zeitgenössische Berichterstattung einiges nachfolgend zitiert.
Vorgenanntes Blatt notierte:

„Ein Herr Joseph Booth in Natal (Durban) ... hat mit 3 anderen gebildeten Schwarzen, unter denen sich auch der Nataler Dr. med. Nembula befindet und mit 4 amerikanischen schwarzen Herren ein Komitee gebildet, welches einen Aufruf erlassen hat zur Bildung einer „Afrikanisch-christlichen Vereinigung" (African Christian Union). Diese hat den Zweck, die afrikanische Rasse zu einen zu Gebet und Arbeit, daß Afrikas Volk ein christliches Volk werde. Angestrebt wird Gleichberechtigung mit den Europäern, Afrika soll seiner Rasse erhalten werden, „Afrika für die Afrikaner" ist die Losung."

Aber so geht der Bericht weiter:

„Aber die Mittel, welche Booth und Genossen zur Erreichung des gesteckten Ziels anwenden wollen, sind so abenteuerlich, ja so ungeheuerlich, daß man nur Mitleiden mit allen haben kann, die sich durch solche Pläne berücken lassen."

Als Details werden genannt:

„Zunächst soll Amerika veranlaßt werden, jedem Neger, der nach Afrika zurückkehren will, 2000 Mark zu zahlen als Entgeld für die früher geleisteten Sklavendienste. Die Kolonialregierungen sollen angegangen werden um Schenkungen von Land, oder es soll solches käuflich erworben werden. Industrie-Centren sind anzulegen, an denen Europäer als Angestellte (Servants) die Eingeborenen in medizinischer Wissenschaft, in Plantagenbau, Astronomie, Nautik usw. unterrichten, und die Kosten dafür sollen die Afrikaner selbst aufbringen."

Zur Finanzierung des gesamten Unternehmens heisst es dann:

„Zunächst soll mit dem Aufwande von 1.400.000 Mk. eine Niederlassung auf dem Schirehochland gegründet und dazu sollen alle auf dem Schire und dem unteren Sambesi laufenden Dampfer und Frachtboote aufgekauft werden."

Dazu kann der Berichterstatter in der „Allgemeinen Missions Zeitschrift" sich doch nicht ganz den Kommentar versagen;

„Es ist nicht nötig, den Kindlichen, um nicht zu sagen kindischen Optimismus zu beleuchten, der in diesen Vorschlägen sich ausspricht."

Nun trat der Umstand ein. Die theoretischen Thesen hört man wohl, was indes ist zu ihrer praktischen Umsetzung zu sagen?
Dazu gibt es dann die Angabe:

„Booth begann damit, der Blantyre-Mission ihre begabtesten Schüler wegzufangen, um sie gegen hohen Lohn in seinen Dienst zu nehmen. Die Missionsleitung in Edinburgh beschwerte sich indessen so nachdrücklich bei der Oberleitung der „Zambesi-Industrial-Mission", daß diese Booth fallen ließ."

Damit drohten dessen Pläne zu Makulatur zu werden.
Es könne aber nicht sein, was nicht sein soll befand Booth dieserhalb. Und über seinen nächsten Schritt vernimmt man:

„Nicht zufrieden; begab er sich nach Schottland, um dort für ein neues, unter seiner Leitung stehendes Konkurrenzunternehmen Geld zu sammeln. Er ging dabei so rücksichtslos vor, daß sich der Missionsvorstand der schottischen Staatskirche bei dem Vorstande der schottischen Baptisten über ihn beschwerte, und auch die schottischen Baptisten ließen ihn offiziell fallen."

Weiter im Bericht:

„Das hat aber Booth nicht verhindert, eine „schottisch-baptistische Industrie-Mission" (Baptist Industrial-Mission of Scotland) ins Leben zu rufen, die 1896 gleichfalls in der Nähe von Blantyre ihre erste Kaffeeplantage Gowa gegründet hat."

Ergo ein Konkurrenzunternehmen, mittlerweile auch in Konkurrenz zu einem solchen, das er früher selbst mit begründet hatte.
Vielleicht hat Herr Booth darauf spekuliert: „viel Feind, viel Ehr". Bei dieser Spekulation indes, blieben dann wohl letztendlich nur die Feinde übrig!
Bis jetzt wurde aus der Berichterstattung des Jahres 1897 zitiert. Nun noch ein Zitat aus der davor liegenden Berichterstattung des Jahres 1894:

„Er brachte Samen mit für ½ Million Kaffeepflanzen, erwarb 100.000 Acker Land, suchte sich in England 26 „auserwählte Mitarbeiter" und sammelte ein Kapital von 400.000 M.- nach seinen eignen Angaben. Im nächsten Jahre schon soll jede Acker einen Reinertrag von 600 M. liefern - also zusammen die ungeheure Summe von 60 Millionen M. In immer 3 Jahren will der kühne Rechner die Pflanzung verdoppeln und so viel Geld herausschlagen, daß in 33 Jahren die ganze Welt evangelisiert werden kann. Alles nach seinen eignen Worten.
Jetzt ist er wieder auf dem Heimwege, um noch 200.000 M. Anlagekapital zu holen."

Noch ein Zitat aus dem 1894er Bericht:

„Und bei rechter Plazierung eines jeden nach seinem besten Geschick (tact) ist er gewiß, daß die ganze Maschine von selbst korrekt arbeiten wird. Keiner bekommt Gehalt, der ganze Gewinn wird angewendet um immer mehr Land zu kaufen und das Geschäft auszudehnen."
Das ist ganz genug. Der Berichterstatter ist ganz entzückt von diesem Projekt, welches er wiederholt versichert, mit den eigenen Worte des Herrn Booth beschrieben zu haben. Und er nennt es ein „Mostglapiouswerk!"
Daß wir uns erlauben, andrer Meinung zu sein, brauchen wir wohl kaum hinzuzufügen."

Für weitere Details zu diesem Thema siehe auch:

CVTower

19362Kitawala

Weihnachts-Votum aus dem Jahre 1907

Einen bemerkenswerten Artikel zum Thema Weihnachten kann man in der Februarausgabe 1907 des "Zions Wacht Turm" registrieren. Er beginnt schon einleitend mit der Aussage:

"Es ist nicht von großer Bedeutung, daß das von uns gefeierte Weihnachtsfest nicht der wirkliche Geburtstag unseres Erlösers ist, da unser Herr 9 Monate später, im Oktober des Jahres 1 geboten wurde. Weihnachten ist wahrscheinlich der Jahrestag der Verkündigung durch den Engel Gabriel, der Jahrestag von Marias Empfängnis. Ein so großes Ereignis, wie die Geburt unseres Herrn, dessen Geburt, Tod und Auferstehung für die Menschheit so unendlich viel bedeutet, sollte jedoch immer im Gedächtnis sein und sollte tagtäglich von allen denjenigen gefeiert werden, welches das, was Er für uns Menschen getan, zu schätzen wissen. Da nun die Mehrzahl der sogenannten christlichen Völker gewohnheitshalber den 25. Dezember als den Geburtstag unseres Herrn feiert, so wollen wir nicht dagegen protestieren, sondern auch an diesem Tage uns freudigen Herzens mit ihnen in der Feier dieses Ereignisses vereinigen, auch in Zukunft uns gegenseitig beschenken und beglückwünschen, in Nachahmung der göttlichen Gnade ..."

Auch das sollte sich noch unter dem "Kulturkämpfer" Rutherford ändern. Dessen (weitgehend erreichtes) Ziel war eine Sklavenorganisation. "Treppenterrier", die treppauf, treppab seine Literatur verkaufen sollten, hatten keinerlei "Zeit" zum feiern. Es lag in der Konsequenz dessen, dass er daher nebst Geburtstagen auch das Weihnachtsfest für die Seinigen abschaffte. Selbst eine etwaige Umverlegung auf Oktober wollte er nicht gelten lassen. Es ging einzig und allein um die Totalabschaffung der vermeintlichen Zeitverschwendung, die für "besseres" (sprich: den Rutherford'schen Predigtdienst) verwandt werden sollte.

Der nächste Jahrgang  1908

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