Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Bitterer Rückblick

Noch heute ist das mittlerweile in mehreren Auflagen erschienene Lexikon "Die Religion in Geschichte und Gegenwart", eine zitierte und zitierensfähige Quelle.

In dessen erster 1909 erschienenen Auflage werden schon die Bibelforscher mit erwähnt. Man muss allerdings über einige Schönheitsfehler dabei hinwegsehen. So ist ihnen noch nicht ein selbstständiger Abschnitt gewidmet; sondern sie werden pauschal zu einer Untergruppe der Adventisten erklärt. Auch wird Russell darin gar zum "Professor" hochstilisiert, was er mit Sicherheit nicht wahr. Mit am interessantesten indes erscheint jedoch die Angabe der deutschen Bibelforscher-Zeitschriften. Und da wird auch eine genannt, die "Die Aussicht" betitelt ist.

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Hat die WTG sich je schon einmal über die "Aussicht" verbreitet? Sicherlich nicht. Ein diesbezüglicher Nachweis ist mir jedenfalls nicht bekannt. Einer von mehreren berüchtigten weißen Flecken bei ihrer Art der Geschichtsklitterung. Denn von Geschichtsschreibung kann man wohl kaum bei der WTG reden. Relativ lange Jahre erschien die "Aussicht" zumindest in den ersten Jahren, in Thun in der Schweiz. In späteren Jahren erfolgte dann noch eine Zusammenlegung mit anderen geistesverwandten Blättern. Und der allerletzte Jahrgang (in Königsberg, damals Deutschland) erscheinend, erschien 1940. Dann musste auch sie die Segel streichen. In jenen Jahren mussten aber auch andere religiöse Zeitschriften, im Zuge der staatlich angeordneten Papiereinsparung, ihr Erscheinen einstellen.

Immerhin ist es durchaus beachtlich, dass sie auch in den Jahren der Hitlerdiktatur erscheinen konnte. Selbstredend unter den geforderten Rahmenbedingungen, sich auf streng religiöse Belange zu beschränken. Diesem Kriterium wurde auch entsprochen.

Nicht so sehr die "Aussicht" der späteren Jahre soll hier einmal interessieren, sondern die "Aussicht" der frühen Jahre. Deren Jahrgang 1909 erscheint dabei besonders prädestiniert zu sein, wurde doch in ihm einmal ein umfänglicher rückblickender Artikel veröffentlicht. Aus ihm seien jetzt einmal nachfolgend einige wesentliche Passagen zitiert. Der Artikel war überschrieben "Rückblick und Ausblick" und erschien in der Oktober-Ausgabe 1909 der "Aussicht":

"Wenn unsere heutige Nummer die lieben Leser erreicht haben wird, werden es gerade 7 Jahre her sein, seit die 'Aussicht' ihre Reise zum erstenmal angetreten (Okt. 1902) und man wolle uns also in Anbetracht dieses Umstandes einen kleinen Rück- und Ausblick gerne gestatten.

Ein guter Teil unserer Freunde wird sich noch erinnern, wie die Brüder an der Thuner Hauptversammlung (Juli 1902) den Beschluß faßten, man wolle am Platze des damals nicht mehr erscheinenden deutschen 'Wachtturmes' ein entsprechendes Blatt herausgeben, um der Gemeinschaft und Auferbauung der Geschwister sowohl als auch der Verbreitung der uns lieb gewordenen Wahrheiten zu dienen.

Eine bei diesem Anlaß auftauchende Anregung, ob man nicht den Titel 'Zions Wachtturm' führen und die bezügliche Bedingung: n u r Produkte des englischen Z. W: T. verwenden zu dürfen - annehmen wolle, wurde abgelehnt, denn 'die meisten der dabei beteiligten Brüder erblickten darin eine Gefährdung der persönlichen Freiheit, indem man so leicht wieder ins System und geistige Knechtschaft geraten könne, unter welcher wir weiland in Babylon standen, nun aber durch Gottes Gnade davon frei geworden seien.' Man wolle niemandem 'blindlings nachfolgen, sondern sich die Freiheit wahren', alles was gelehrt werde 'an Gottes Wort zu prüfen.' (Protokoll der Konferenz vom 28. Sept. 1902).

Es entschieden sich also die Brüder einstimmig für die 'Aussicht' und bestimmten zugleich auch den Redakteur.

Einige Brüder deutscher Zunge ließen letzten Monat unter uns Schweizer Geschwistern, mit dem ausdrücklichen Wunsch, daß nur Wachtturmleser ihn lesen möchten, einen 'offenen Brief' zirkulieren… der (nach einer Einleitung) die deutsche Übersetzung je eines Briefes von Br. Burns-Liverpool und Br. Henninger-Melbourne enthält …

Br. Henninges, Vertreter der Wachtturm-Gesellschaft in Melbourne (Australien, verzichtete anfangs laufenden Jahres auf diese Stellung, weil er mit einigen Auslegungen, die der 'Watch Tower' auf dem Gebiete der 'Sühnopfer' und der 'Bündnisse' gab, sich nicht einverstanden erklären konnte. Er gibt seither ein eigenes Blatt unter dem Titel 'The New Covenants Advocate' heraus, in welchem er u. a. die erwähnten Punkte zur Betrachtung zog.

Der 'Watch Tower' blieb die Antwort nicht schuldig und so erleben wir jetzt das bemühende Schauspiel, daß sich seit Monaten zwei Blätter - deren vornehmste Existenzberechtigung darin besteht, daß sie die zweite Gegenwart unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi verkündigen - ob der Verschiedenheit von Auslegungen befehden, die ihre Redakteure einigen Schriftstellen geben. Der deutsche Wachtturm schien nun hierbei nicht zurückbleiben zu wollen, sondern fing an, die polemischen Artikel seiner englischen Brüder ins deutsche zu übersetzen und trug damit den höchst unerquicklichen 'Hausstreit', ob dem die Freunde der Wahrheit tief betrübt sind, ohne zwingende Notwendigkeit ins deutsche Sprachgebiet hinüber. …

Von verschiedenen, besprochenen Lehrdifferenzen erwähnen wir hier einen Punkt vor allen, in welchem wir die Solidarität mit den jetzigen Lehren des 'Wachtturm' feierlich ablehnen müssen, nämlich darin, daß die Leiden des Leibes Christi (der Herauswahl), um der Gerechtigkeit willen, ein Teil des Lösegeldes für die Welt seien - daß Jesus nur für die Herauswahl geopfert worden sei, während die Auserwählten durch ihr Opfer die Sünden der Welt erst noch zu sühnen haben usw. …

Es wollte an erwähnter Konferenz geltend gemacht werden, daß die jetzigen Lehren des 'Wachtturms' sich vollständig decken mit dem, was wir in den Bänden von 'Tages-Anbruch' - die auch wir nach wie vor jedermann zum Studium empfehlen - enthalten sei, der 'Wachtturm' habe andere Lehren nicht geändert, an den Lehren von 'Lösegeld und Sündopfer' wenigstens gar nicht.

Wir können dem leider nicht zustimmen, überlassen es aber dem Leser, zu vergleichen …

Leider können wir uns nicht der Hoffnung hingeben, mit obigem dem erwähnten 'Hausstreit' ein Ende zu machen; wir bezwecken mit diesen Worten lediglich, unseren eigenen Standpunkt vor den Brüdern deutscher Zunge kurz darzulegen, damit sie nicht ob unserm Stillschweigen auf den Gedanken kommen, wir wüßten nichts von Lehrdifferenzen und der daraus entstehenden bedauerlichen Bruderfehde, die manchen die Freude an der so köstlichen gegenwärtigen Wahrheit zu vergällen droht.

Unsere Auffassung betreffend 'jenen Knecht', den klugen und treuen Verwalter als Klasse und nicht als einzelne Person haben wir bereits vor bald 5 Jahren in einem bezüglichen Artikel dargelegt …

Etliche erhoben in vergangenen Tagen diesen 'Verwalter' zum Stellvertreter Gottes, mit gottähnlicher Macht und Autorität, andere machten ihn zum wiedergekommenen Elias, zum Kanal für alle geistige Speise und erteilen ihm das Monopol über sämtliche fällige Wahrheit während der ganzen Erntezeit usw. Die einen wie die anderen befinden sich ohne Zweifel in der vom Herrn vorausgesehenen Gefahr, indem sie sich nicht mehr ausschließlich der Führung des allein guten Hirten anvertrauen, sondern Menschen über sich setzen oder setzen ließen. Diese alle bringen sich bis zu einem gewissen Grade um das köstliche Vorrecht direkt an der Quelle schöpfen zu dürfen und dafür um so ungetrübteres Wasser der Wahrheit zu empfangen. …

Mit Obigem wollen wir aber gar nicht sagen, daß wir uns nicht sollen dienen lassen; jawohl wir dürfen uns dienen lassen von Brüdern, welche Gaben und Erkenntnis haben. Aber wir dürfen nicht eines Bruders Schüler oder Anhänger, also nicht abhängig werden; wir dürfen von keinem noch so erleuchteten Bruder etwas annehmen, das wir nicht am göttlichen Wort geprüft und richtig befunden haben. …

Ergänzend auch noch ein paar Passagen die "Aussicht" betreffend aus der "Geschichte der Zeugen Jehovas"

In den frühen Jahren war die Russellbewegung noch nicht so straff zentralistisch organisiert, wie man das von den heutigen Zeugen Jehovas kennt. Es gab noch nationale Besonderheiten. Ein anpassen der Russell'schen Grundgedanken an die örtlichen Verhältnisse. Ein Symptom dafür war, dass Schweizer Bibelforscher in eigener Regie ab 1902 in Thun (Schweiz) eine eigene Konkurrenzzeitschrift zum Russell'schen „Wachtturm" herausgaben, betitelt: „Die Aussicht. Verkündiger der Gegenwart Christi". In ihr wurden auch seine „Schriftstudien" empfohlen. Schon bald stellte es sich jedoch heraus, dass der Brooklyner Leitung jene unabhängigen Kreise ein Dorn im Auge waren. [78]

Vor dem endgültigen Schisma der „Aussicht"-Gruppe in den Jahren 1909/10 von der Russellbewegung, vertrat diese in pointierter Form auch seine „sozialpolitischen" Thesen. Ein besonders herausragendes Dokument dazu ist ihre 1903 erschienene Schrift „Die alte Theologie. Unsere Zeit im Lichte der Bibel (Milleniumsschriften Nr. 5)". …

Um die Entwicklung dieser Gruppe zutreffend zu charakterisieren, sei hier aus einen „Rückblick" zitiert, den sie 1914 veröffentlichten:

„Zu Pfingsten des Jahres 1903 machten etliche der mit Russells Schriften bekannt gewordenen Bibelforscher in der Schweiz, auf einer Versammlung in Zürich persönliche Bekanntschaft mit ihm, der sie im Rahmen einer Europatour besuchte.

Am Bahnhof in Zürich erwartete uns Br. Russell, dessen Schriften unsere Herzen brennend gemacht hatten durch ihren Hinweis auf den bevorstehenden Zeitalterwechsel. Wir verstanden ja leider einander nicht, da wir kein Englisch und er kein Deutsch oder Französisch verstand, aber freuten uns gleichwohl, dass Angesicht dieses Gottesmannes kennen zu lernen. Das Nichtverstehen von damals war kein schmerzliches wie das seither eingetretene. Was der Mund nicht sagen konnte, sagten die Augen. Die redeten eine Sprache, die nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ. …

Was wir durch Br. Russells Schriften gelernt hatten, haben wir bis jetzt festgehalten und Zeugnis dafür abgelegt. Darum haben wir ja auch die 'Aussicht' herausgegeben. Sie sollte der Bote unserer Freude darüber sein, dass unser Herr Jesus Christus sein Reich bald aufrichten werde auf dieser Erde. …

Br. Brenner war es, der damals den Nagel auf den Kopf traf für diejenigen Zuhörer, die möglicherweise noch darüber im Zweifel waren, ob Sie sich freuen oder ob sie erschrecken sollten, ob unserer Verkündigung: 'Der Herr ist nahe!' Auf die Zeichen der Zeit hinweisend, welche das Heraufdämmern des Tausendjahrtages verkündeten, sagte er mit Recht:

'Nicht darüber sollten wir erschrecken, dass diese Dinge anfangen zu geschehen. Wir hätten viel mehr Grund zu erschrecken, wenn diese Dinge nicht anfangen zu geschehen! Gewiss! Denn dann wäre es ja nichts gewesen mit unserer Hoffnung. Gott hätte uns zum Besten gehalten. Denken wir nur, was es für uns bedeutet hätte, an dem Worte der Verheißung Jehovas zweifeln zu müssen. Da wären wir für wahr die Elendesten unter allen Menschen gewesen." [7]

Im Februar 1920 schrieb die „Aussicht" dann resümierend:

„Dass die 'Aussicht' 18 Jahrgänge 'erleben' würde, hat von ihren Gründern damals gewiss keiner geglaubt! Wir waren alle der Meinung, dass die Jahre 1910-1914 die völlige Auflösung der bestehenden Weltordnung und besonders auch die Erlösung des Volkes Gottes (d. h. dessen Wegnahme von der Erde durch den Tod) bringen würde." [8]

Die geschichtliche Entwicklung dieser Gruppe stellte sich in deren Sicht so dar: „Im Jahre 1904 hatte zwar die 'Aussicht' einen Artikel über Bibel-Chronolgie zu veröffentlichen gewagt, der mit Russells Darstellungen etwas differenzierte. Darob große Entrüstung besonders bei einem W.T.-Freunde. … Solche Handlungsweise und auch das Gebahren eines inzwischen in Deutschland installierten Vertreters der W.T.-Gesellschaft überzeugten uns davon, dass es 'Brüder in der Wahrheit' gebe, die 'päpstlicher als der Papst' und das die Wachtturm Bibel und Traktat-Gesellschaft auf dem besten Wege sei, in eine Sekte auszuarten." [9]

Die weitere Entwicklung stellte sich aus der Sicht der „Aussicht"-Gruppe mit den Worten dar: „Mittlerweile dehnte sich das Werk der erwähnten Gesellschaft in vielen Ländern sehr aus, infolge Anwendung von Propagandamitteln freilich, die die Freunde der 'Aussicht' mit der früher gelehrten geistlichen Keuschheit nicht in Einklang bringen konnten und deshalb missbilligten. Mehr und mehr wurde auch der Verfasser der Bände 'Tages-Anbruch' zum Gegenstand eines intensiven Personenkultus gemacht; man stempelte ihn sogar zu dem persönlichen 'Haushalter' Gottes durch welchen die Rechtsgläubigen ausschließlich und alle und jede geistliche Speise (Bibel-Auslegung) empfangen dürften!

Die Aussichtsfreunde waren indessen zu wenig rechtsgläubig, um das annehmen zu können und es erlaubte sich eine Gruppe von Freunden, ein Protestschreiben an Br. Russell zu richten und ihn darauf aufmerksam zu machen, dass recht manches seiner nunmehrigen Praxis mit den in seinen ersten Bänden enthaltenen schönen Lehren nicht mehr übereinstimme.

Die Antwort war für alle Beteiligten eine Enttäuschung. Die einen ärgerten sich so sehr daran, dass sie nicht nur von Russell fortan nichts mehr wissen wollten, sondern auch ziemlich alles über Bord warfen, worüber sie sich vorher so sehr gefreut.

Unter ihnen waren (auch einige) von unseren liebsten Freunden, die in ihrer Leidenschaft gegen 'Tages-Anbruch' soweit gingen, dass sie auch die 'Aussicht' schwer anfeindeten und besonders deren Schriftleiter bekämpften, weil er mit den der 'Aussicht' treugebliebenen Freunden 'Das Kind nicht mit dem Bade ausschüttete.'" [10]

Mit anderen Worten. Die nicht erfüllten Russell'schen Endzeiterwartungen hatten auch ihre Rückwirkungen auf die Aussicht-Gruppe. Auch in der Aussicht-Gruppe gab es somit solche, die nach 1914 innehielten und sich fragten, ob eine solche Ideologie noch weitere Opfer an Zeit und Geld wert wäre. Aber auch dort gab es einige Unentwegte, die immer noch nicht die eigentliche Sachlage wahrhaben wollten. Und so fristete denn auch die „Aussicht", nach 1914 weiterhin, ihr zusehends kärglicher werdendes Dasein:

„So sehr uns der Verlust jener Freunde schmerzte, weil die entstandenen Feindseligkeiten auch in Ortsversammlungen betrübende Folgen hatten, so 'marschierten' andererseits die beiden 'Schwestern', 'Aussicht' und 'Zions Wachtturm' immer noch freundschaftlich nebeneinander; die Aussicht-Abonnenten waren größtenteils zugleich Wachtturm-Abonnenten und umgekehrt." [11]

Das Schisma zwischen Russell und Aussichtsgruppe, brauchte nicht bis 1914 zu warten. Es trat schon früher ein: „Leider sollte es aber schlimmer kommen. Infolge weiterer Publikationen Russells gab es neue Differenzen die Frage betreffs Wahl von Ältesten in den Versammlungen, die wir nicht bejahen, und mehr noch das aufnötigen eines sogenannten 'Gelübdes', dass nach unserem Dafürhalten einem Sekten-Credo…verzweifelt ähnlich sieht, erregten die Gemüter und wirkten nicht eben versöhnend.

Den Anlass zu einer eigentlichen Trennung gab aber erst einige besonders von 1908 an nachdrücklich veröffentlichte Glaubenssätze." [12]

Aus der Sicht des Außenstehenden kritischen Beobachters, erweisen sich die damaligen Differenzen als marginal. Es war eben auch in diesem Fall feststellbar, dass handfeste irdische Interessen, sich in vermeintlichen theologischen Differenzen verklärt, wiederfinden.

Letztendlich drehte es sich um die Frage: Besitzt die Russellgruppe einen Monopolanspruch, auf ihre Verkündigung? Ein solcher Monopolanspruch impliziert zugleich, dass wirtschaftlich von ihr unabhängige Gruppen nicht gern gesehen sind. Die unabhängigen Gruppen hingegen, erwiesen zwar Russell formal ihre Reverenz. Faktisch aber nahmen sie für sich zugleich auch in Anspruch, ggf. auch eigene Akzente zu setzen. Letztendlich ist dies die eigentliche Ursache des Konflikts. Natürlich wollte man dies so nicht wahrhaben und so versteckte man sich denn auch hinter vermeintlichen theologischen Differenzen:

Eine Brüderkonferenz in Bern (November 1909) führte auch äußerliche Trennung herbei, und so kam es, dass der 'Aussicht' nun die traurige Pflicht oblag, gegen Irrtümer Russells warnen zu müssen. Das dies keine dankbare Sache ist, brauchen wir wohl niemanden zu sagen." [13]

Aber man konnte sich auch trösten: „Wir waren aber auch nicht die einzigen Warner: Br. F. Kunkel in Königsberg und Br. E. C. Henninger in Melbourne (Australien) hatten die gleichen Erfahrungen gemacht und es decken sich unsere gegenseitigen Auffassungen im Wesentlichen auch heute noch. Die Zeugnisse ihrer Publikationen haben uns oft als Ansporn und Erquickung gedient und wir haben es zusammen auch 'verschmerzt', wenn unser gemeinsames Zeugnis vom W.T. als 'mitternächtliches Wolfsgeheul' gescholten und die unbequemen Warner ziemlich unverblümt - als dem 'Zweiten Tod' verfallen hingestellt wurden." [14]

Was für die „Aussicht" und die „Russell"-Gruppe dennoch als gemeinsames Fundament diente, war die Russell'sche Zeitrechnung.

Indem vorstehend zitierten Rückblick aus dem Jahre 1920 wird das mit den Worten charakterisiert: „Mit den vorrückenden Jahren hatte sich indessen manche Prophezeiung Russells nicht bestätigt, während wiederum der Ausbruch des Weltkrieges, hauptsächlich den Aussichts- und Wachtturmfreunden gemeinschaftlichen Erwartungen Recht gab." [15]

Zu diesem Punkt schrieb die „Aussicht" im Oktober 1913: „Was nun diesen Zeitpunkt anbelangt, so haben wir seiner Zeit gelernt, dass derselbe 1914/15 fällig sein würde. Den einen unter den lieben Geschwistern erscheint nun bei dem gegenwärtigen Gang der Ereignisse diese gestellte Frist als zu kurz. Es sehe alles so aus, als ob der Zusammenbruch der damaligen Weltordnung nicht innert anderthalb bis zwei Jahren stattfinden könne. Wir geben das ohne weiteres zu. … Andererseits aber möchten wir auch diesmal wieder, wie schon so oft, davor warnen, sich auf menschliche Rechnungen zu verlassen.

Das kritische Jahr 1914/15 kommt heraus, wenn wir, Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts, die in der hl. Schrift dargereichten Jahreszahlen auch richtig verstanden und richtig in Rechnung gestellt haben.

… Dass wir sie richtig verstanden und angewandt haben, scheint auch aus dem Zeugnis der großen Pyramide in Ägypten hervorzugehen. … Daraus ergibt sich nun … dass wir im Falle des Nichteintreffens der erwarteten Ereignisse im Jahre 1914/15, nicht an der Richtigkeit der biblischen Zeugnisse zweifeln, sondern zu glauben fortfahren sollen, dass ein Zeitalter der Wiederherstellung aller Dinge im Anzuge ist, dessen Anbruch zu bestimmen der allwissende Gott sich selber vorbehalten hat." [16]

Aufschlussreich sind auch die Ausführungen in der Januarnummer 1914 der „Aussicht": „Nun ist es eingetreten, dass für viele unserer Leser so viel bedeutende Jahr 1914! Ganz sachte ist es gekommen, ohne besondere, äußerliche Zeichen, ja viel ruhiger wurde die Jahreswende als vor einem Jahr, da die ganze zivilisierte Welt voll Spannung nach dem Balkan blickte und der Augenblick gekommen glaubte, da aus dem entzündeten 'Pulverfass' der große Völkerbrand entstehe. … Und wieder hat sich das drohende Gewitter verzogen. …

1914! Wie viele unser lieben älteren Leser, die wie wir die Brüder von Millenium-Tagesanbruch näher kennen lernten, haben nicht Jahre lang mit freudigen Erschauern vorwärts geschaut auf dieses Jahr, welches der Verfasser … als das wichtigste und hervorragendste Jahr der Welt- und Bibelgeschichte in den Vordergrund stellte. …

Mit viel Nachdruck wurde darauf hingewiesen, dass die 'Brautklasse'; die auf ihren Herrn wartende Gemeinde der Heiligen, bis zum Jahr 1910 vollständig von ihrem irdischen Schauplatz verschwunden und durch den 'Vorhang des Todes' (einer nach dem andern) zum Herrn hingerückt worden sei.

Nachdem die früher entschlafenen Heiligen bereits im Jahr 1878 die 'Erste Auferstehung' an sich erfahren haben und im Jahre 1881 die 'hohe himmlische Berufung' aufgehört habe. … Betreff 1881 hegten wir freilich von jeher Zweifel. …

Um so auffälliger musste nun aber das gänzliche ausbleiben aller auf 1910 geweissagten Ereignisse werden. Dieselben hätten ja von aller Welt wahrgenommen werden müssen. … Die Enttäuschungen des Jahres 1910 hat nun freilich der Verfasser der bezüglichen Prophezeiungen aus gutem Grunde seinen Lesern so unschuldig wie möglich hingestellt und dahin berichtigt, dass dieselbe wahrscheinlich nur ein Jahr dauern werde, wie die Sündflut in den Tagen Noahs; auch werde dieselbe erst 1914 beginnen und 1915 enden …

Ob nun Br. Russells Anhänger … diese neue Berichtigung ebenfalls als göttliche 'Speise zur rechten Zeit' hinnehmen, wie früher das Gegenteil?" [17]

Es ist bezeichnend, wie sich nun die „Aussicht", aus der Datenspekulationsaffäre herauszuziehen versucht. Man sei ja schon immer kritisch gewesen, man hätte ja schon früher anders akzentuierte Meinungen vertreten. Letztendlich ist dies nur ein Scheingefecht. Denn auch die Aussichtsgruppe hat „vor Tische", Russells Thesen in ihrer Hauptaussage in verschiedenster Form kolportiert. Um „nach Tische", ebenfalls wie die Russellgruppe, es schon immer „ganz anders" gemeint zu haben.

Ein Beispiel der müden Apologetik dazu:

„Wir haben allerdings in der August-Nummer 1904 eine von Br. Russells Datum um 19 Jahre abweichende Zeitrechnung von Br. Brenner veröffentlicht und daran anschließend gesagt:

'Uns hat diese Entdeckung den Glauben an die Zuverlässigkeit der Daten 1874 und 1914 wesentlich geschwächt; nicht, dass wir uns an die Daten 1893 und 1933 halten könnten; wir waren von jeher allen Zeitrechnungen gegenüber ziemlich skeptisch. … Nun haben wir keine Lust mehr, irgend ein Datum als 'unumstößlich' oder 'mehr als begründet' anzuerkennen und wir können nicht sagen, dass dadurch unsere Glaubenszuversicht hinsichtlich der nahe herbeigekommenen Aufrichtung des Königreiches unseres geliebten Herrn Jesu Christi beeinträchtigt worden wäre.

Dieses Zeugnis hat uns damals wenig Schmeichelei eingebracht; viele '1914-Treue' wiesen die Aussicht zurück und von leitenden Brüdern wurde uns ernstlich verwiesen, dass wir damit die Geschwister unsicher gemacht und Br. Russells, des 'Haushälters' Autorität untergraben hätten." [18]

Der Kreis um die "Aussicht" hat zeitweilig einen hohen Anteil jener um sich geschart, die in der Schweiz den Russell'schen Lehren zugetan waren, so dass die Organisation der Bibelforscher, in den Anfangsjahren, in der Schweiz (im Vergleich zu anderen Ländern) nicht recht vom Fleck fortkam. [19] Die "Aussicht"-Konkurrenz war dort, zumindest in den Anfangsjahren, für die Wachtturmgesellschaft spürbar. Der "Aussichts"kreis bestand diesen Konkurrenzkampf auf Dauer nicht, aber er hat dortige WTG-Fortschritte, zumindest, mit gebremst.

Zeitweilig gehörten zum "Aussichts"kreis auch Personen, die eine profilierte Entwicklung nahmen. Zu nennen ist da beispielsweise der Fall des Bibliothekars an der Schweizerischen Landesbibliothek Karl J. Lüthi. [20] In den Jahren 1908-1917 war er ständiger Mitarbeiter der "Aussicht" [21]

Die in Thun (Schweiz) erscheinende "Aussicht" konnte sich bis Ende 1921 halten, dann musste sie die Segel streichen, indem sie sich mit dem Blatt von Friedrich Kunkel „Die neue Zeit" (vormals: "Beiträge zum Schriftverständnis") vereinigte, als "Die Aussicht in die neue Zeit". Verlagsort war nunmehr Königsberg i. Pr. [22] …

Kunkel war ursprünglich auch mal WTG-Funktionär. Der "Wachtturm" (1905, S. 159) notiert über ihn:

"Unser lieber Bruder Kunkel hat nun in Königsberg einen sonst guten und festen Beruf niedergelegt, um ganz in das Erntewerk einzutreten, nachdem ihn Bruder Russell eingeladen, zum Teil in Elberfeld und zum Teil durch Kolportieren und Vorträge seine Kräfte in dem Dienste des Herrn zu gebrauchen."

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1909er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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