Blut eines Toten

Kritiker wähnen in der Bibel eine alte Fibel wahrzunehmen, auf der man vielerlei, auch gegensätzliche Lieder zu spielen vermag.
Eine Bibelstelle welche in der WTG-Geschichte eine gewisse makabre Bedeutung erlangte ist dann die aus dem Bibelbuch Offenbarung Kapitel 16:3
Letztere tönt nach der NW-Übersetzung:

„Und der zweite goß seine Schale in das Meer aus. Und es wurde zu Blut wie von einem Toten, und jede lebende Seele starb, ja alles, was im Meer war."

Sieht man sich das 16. Kapitel der Offenbarung selber an, ist festzustellen:
„Ende der Durchsage". Weiteres zu besagter „zweiter Schale" wird dort nicht ausgeführt.
Davor ist von einer „ersten Schale" die Rede, und nach dem genannten Zitat geht es dann mit einer „dritten Schale" usw. weiter.
Also wäre erst mal festzuhalten, ein typischer Text, welcher fallweise der näheren Auslegung bedarf, womit wiederum der Willkür Tür und Tor geöffnet wären.
Es kann aber wohl unterstellt werden, an der nachfolgenden Auslegung jenes Textes, hätte die WTG wohl kaum ihre Freude.
Eine Webseite, deren Anliegen es ist, die Thesen und Praxis der WTG per Ironie „auf die Schippe zu nehmen", meinte etwa aus diesem Text das nachfolgende herauslesen zu sollen:

Strafe über China
Die zweite Schale versetzt uns in der Zeit einige Jahrzehnte zurück: „ zweite goß seine Schale in das Meer aus. Und es wurde zu Blut wie von einem Toten, und jede lebende Seele starb, ja alles, was im Meer war" (Off. 16:3). Das „Meer" steht für China, das im Jahr 1949 bereits fast 600 000 Einwohner hatte – wahrhaft ein großes ‚Menschenmeer'! Damals führte Mao Tse-tung den Kommunismus ein, so dass das Land rot wurde, so wie „Blut wie von einem Toten". Während seiner Herrschaft starb zwar nicht buchstäblich „jede lebende Seele", aber immerhin bis zu 76 Millionen Menschen – mehr, als die Bevölkerung vieler Nationen.

http://www.svhelden.info/pdf/erbrechet_okt08.pdf
(Dort die Seite 5 dieser pdf-Datei)
Schon C. T. Russell wähnte in seinem Auslegungsgeflecht jene Bibelstelle mit einbauen zu sollen. In Band 7 der „Schriftstudien" (Ausgabe 1925) liest man etwa (S. 318, 319)

16:3. Und der zweite (Engel) goß seine Schale aus auf das Meer: Band II der S c h r i f t s t u d i e n schien in den Augen des Tieres und seines Bildes nur die Masse der Unzufriedenen zu erreichen, solche, die dem Fürsten dieser jetzigen bösen Welt oder einem seiner Systeme niemals besonders dienstbar und unterwürfig gewesen waren.
Und es wurde zu Blut, wie von einem Toten: Nach dem Eintritt des Todes trennt sich das Blut in zwei Substanzen, in eine wässerige Flüssigkeit, genannt das Serum, und eine feste Masse, geronnene Blutklümpchen. Sobald diese Scheidung vor sich geht, beginnen die Blutklümpchen in Fäulnis und Verwesung überzugehen. Auf gleiche Weise erscheint es denen, die das Tier und sein Bild anbeten, daß ein jeder, der die Lehren von Band II annehme, in hoffnungslosem Zustande sein müsse. ..."

Jene frühe WTG-Bibelauslegung setzt sich dann noch bis zum Seitenanfang der Seite 320 fort.

Seite 318 Seite 319 Seite 320

Aber die Tendenz ist relativ eindeutig. Russell wähnt sein Band II der „Schriftstudien" wäre es, der solcherlei „Scheidung der Menschen" verursachte.
Schriftstudien Band 2

Und alle die seine darin enthaltenen Lehren nicht annehmen würden attestiert er einem „hoffnungslosen Zustand."
Namentlich jener Band II ist es aber, welcher in besonders pointierter Weise die einschlägigen auf 1914 orientierenden Endzeitlehren präsentierte.
Dann noch die schon früher getätigte Anmerkung.
Wie so vieles veränderte sich auch diese Auslegung noch im Laufe der WTG-Geschichte.
Eine besonders makabre Variante dessen gab es Mitte der 1960er Jahre.
Die Kommunisten waren es zwar schon gewohnt, als „rote Religion" von der WTG tituliert zu werden (etwa in dem WTG-Buch „Was hat die Religion der Menschheit gebracht". Und dies trotz des Umstandes, dass „Religion" nicht ihrem Selbstverständnis entsprach).
Nun soll darüber nicht weiter disputiert werden.
Das Selbstverständnisse und Fremdeinschätzungen nicht selten erhebliche Unterschiede aufweisen kennt man ja auch andernorts. Also vorstehende Einschätzung hätten die Genannten wohl gerade noch zähneknirschend hingenommen.
Nun aber setzte die WTG noch eines drauf und legte die Bibelstelle bezüglich des „Blutes eines Toten" direkt auf die Kommunisten aus. Damit hatte man damit eine „Schallmauer" durchbrochen.
Im „Wachtturm" vom 15. 1. 1964 gab es dann den auf kommunistischer Seite als nicht hinnehmbar eingeschätzten Satz:

„Radikale Gruppen sind entstanden, die mit den Verhältnissen auf Erden, wie sie in den vergangenen Jahrtausenden unter den traditionellen, von der Religion beeinflußten politischen Regierungen geherrscht haben, unzufrieden waren. Diese brandeten an die scheinbar sicheren Regierungen wie wilde Meereswogen an felsige Küsten oder Landzungen. Seit dem Jahre 1914 n. Chr. haben sie gewaltige Revolutionen, große politische Umstürze herbeigeführt, und jetzt drohen sie, die Weltherrschaft zu erringen. Sie intrigieren erfolgreich, um die Weltverhältnisse in einem wirren, unsicheren, besorgniserregenden Zustand zu erhalten, aber Leben können sie den Menschen nicht geben. Es ist eine politische Bewegung des Todes, so leblos wie das Blut eines Toten, das ausgeflossen und geronnen ist. Jeder, der von dieser politischen Bewegung mitgerissen wird, stirbt."

Als die WTG dann im WT 1965 (S. 110) mit dem Satz nachlegte:

„Wie David mögen aber auch sie jahrelang warten müssen. Die Zeugen Jehovas in Ostdeutschland mußten zuerst auf das Ende der Naziherrschaft Hitler warten, und jetzt müssen sie das Ende der neuen totalitären Regierung abwarten, die die Naziregierung ablöste, das Ende der kommunistischen Regierung, die von dem zur Zeit von Breschnew beherrschten Sowjetrußland abhängig ist. Wie lange sie noch auf ihre Befreiung warten müssen, wissen wir nicht, aber sie sind entschlossen, zu warten, bis Jehova sie befreit."

Da war der Geduldsfaden auf östlicher Seite, endgültig gerissen.
Nach meiner Einschätzung besteht ein direkte Folgewirkung diesbezüglich.
Genannte WTG-Auslegung und als Reaktion darauf auf östlicher Seite, die letzte große Zeugen Jehovas-Verhaftungswelle in Ostdeutschland (Liebig und andere) im November 1965. Und als weitere Folgewirkung ebenfalls Ende 1965. Beginn der WTG-kritischen Herausgabe der Zeitschrift Christliche Verantwortung
Um 1965 war das Ostdeutsche Regime schon um internationale Reputation bemüht. Man war sich dort durchaus bewusst, dass politische Verhaftungsaktionen selbiger durchaus schädlich sind. Die Ostdeutsche Stasi konnte diesbezüglich durchaus nicht mehr frei schalten und walten. Sie musste sich ihre beabsichtigten Aktionen, die eine Außenwirkung zur Folge haben könnten, durchaus im Vorfeld an aller höchster Stelle „absegnen" lassen. Das galt nach meiner Einschätzung auch für die 1965er Verhaftungsaktion.
Also in der Gesamteinschätzung ist jene 1964 eingeleitete WTG-Auslegungsvariante als eher kontraproduktiv einzuschätzen!

Eine weitere zeitgenössische Auseinandersetzung mit jener Thematik, basierte dann auf dem 1970 erschienenen WTG-Buch "Dann ist das Geheimnis Gottes vollendet". Jene Auseinandersetzung wurde zwar zu einem Zeitpunkt verfasst, als es den Staat DDR noch gab, und das mal seine Uhr eines Tages abgelaufen sein würde, so noch nicht voraussehbar war. Trotz dieser Zeitbedingtheiten indes ist letztendlich auch die These von dem „Blut eines Toten, die dort anhand genannten WTG-Buches, weiter „auseinandergepflückt" wurde.
WTG-Buch Dann ist das Geheimnis vollendet

Auf das Ende der DDR warten

1964er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

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