Erneute Kampfansage

Also tönte der „Wachtturm" vom 15. 2. 1965, und dass speziell auf Ostdeutschland bezogen:

„Die Zeugen Jehovas in Ostdeutschland mußten zuerst auf das Ende der Naziherrschaft Hitlers warten, und jetzt müssen sie das Ende der neuen totalitären Regierung abwarten, die die Naziregierung ablöste, das Ende der kommunistischen Regierung, die von dem zur Zeit von Breschnew beherrschten Sowjetrußland abhängig ist. Wie lange sie noch auf ihre Befreiung warten müssen, wissen wir nicht, aber sie sind entschlossen, zu warten, bis Jehovas sie befreit."

Auch das von der WTG sicherlich nicht geliebte Uraniabuch, spießte in seiner Diktion eigens jene WTG-Passage mit auf (S. 295).

In ihrer Diktion nimmt die WT-Ausgabe vom 1. 2. 1965 auch einen Rückblick mit vor auf den „Wachtturm"-Artikel mit dem Titel „Fürchtet euch nicht" in der deutschen WT-Ausgabe vom 1. 12. 1933. Noch 1965 jubelt also der WT über diesen Artikel aus dem Jahre 1933:

„Der 'Wachtturm'-Artikel 'Fürchtet euch nicht' stärkte den Glauben und den Mut der Königreichsverkündiger, vor allem den der Zeugen Jehovas in Nazi-Deutschland und den Ländern die damals unter die Herrschaft des Dritten Reiches kamen."

Diese 1965er Interpretation ist dann eine wohl mehr als geschönte Sicht, wie ein Blick in jenen Artikel aus dem Jahre 1933 offenbart.

Letzterer Artikel beklagt sich auch:

„In den verschiedenen Staaten, Städten, Ortschaften und andern kommunalen Verwaltungen sind Gesetze eingeführt worden, die das Hausieren mit Waren und Handelsartikeln regeln. ... Weil Jehovas Zeugen ... von den Leuten, die diese Bücher nehmen, einen Beitrag annehmen ... so beschuldigen die religiösen Vertreter Satans diese treuen Prediger des Evangeliums, daß sie 'ohne gesetzliche Erlaubnis hausierten' und lassen sie verhaften."

Ein diesbezüglicher Fall, welcher der WTG besonders „an die Nieren ging" spielte sich in Plainfield im USA-Staat New Yersey ab, worauf diese WT-Ausgabe auch besonders hinweist. Dort fand in einem von der WTG angemieteten Theater ein Vortrag Rutherfords unter Umständen statt, die letzteren dann wohl einige Nervenbeherrschung abforderte.

Dazu notiert der 33er WT:

„Bei dem erwähnten Vortrag, ohne von irgend jemand, der mit dem Vortrage zu tun hatte, eine Einladung empfangen zu haben, und ohne irgendwelche Entschuldigung oder irgendeinen Grund erschienen sechzig Polizisten in diesem Theater in Plainfield unter Führung eines höheren Polizeibeamten; und alle diese Leute, Polizisten und Geheimpolizisten waren mit schweren Revolvern und anderen tödlichen Waffen, darunter Karabiner, Maschinengewehre und sonstige Mordwerkzeugen, ausgerüstet. Sie nahmen Aufstellung auf der Bühne und überall im Gebäude und verblieben in den Stellungen während des Verlaufs des Vortrages.

Ehe der Vortrag anfing, suchten die Polizisten den Redner und andere zu Wortstreitereien zu veranlassen, indem sie ohne Zweifel hofften, eine Entschuldigung oder eine Gelegenheit zu finden, von ihren Schußwaffen Gebrauch zu machen."

Diese Episode entspricht dann wohl sicherlich nicht der „feinen englischen Art". Offenbar schlugen da „die religiösen Vertreter Satans" (Originalton „Wachtturm") in den USA auf handgreifliche Art mal zurück. Berücksichtig man namentlich den Geschäftszweig der WTG Hausierertätigkeit, von dem dieser WT-Artikel ja auch berichtete, und den Widerstand gegen selbigen, dann werden die Hintergründe schon mal deutlicher.

Als Zeitzeuge berichtet William Schnell in seinem Buch auch über die Vorgänge in Plainfield, wenn er etwa schreibt:

„Vor Beginn des Wachtturm- Feldzuges hatten die Menschen gerade damit angefangen, den Kauf von Büchern an den Türen abzulehnen. Jetzt interessierten sich viele nur deshalb wieder für diese Art Literatur, weil sie Jehovas Zeugen in ihrem Kampf unterstützen wollten.

Wie sich diese Sympathie vieler Menschen auswirkte, zeigt am besten ein Erlebnis, das ich während meiner Zeugentätigkeit in Plainfield im Staate New Jersey hatte. Ich kam gerade aus einem Haus, in dem ich zwei Bücher verkauft hatte, als ich bemerkte, daß ein Polizeiwagen langsam an den Gehweg heranfuhr. Die Beamten riefen mich an, aber ich tat so, als hätte ich nichts gehört und ging an die nächste Haustür.

Der Besitzer, der diesen Vorgang beobachtet hatte, öffnete mir, noch ehe ich an die Tür geklopft hatte. So wurde mir unaufgefordert Hilfe zuteil. Mein Retter bat mich, Platz zu nehmen, und machte kein Hehl aus seinem Arger über das Verhalten der Polizei. Er kaufte mir vier Bücher ab, dann blieb ich noch eine Stunde bei ihm, bis den Polizisten das Warten zu langweilig geworden war. Unbehindert bearbeitete ich den Rest der Straße, wobei ich noch mehr als zwanzig Bücher verkaufte. Ich hatte zahlreiche Erlebnisse dieser Art."

Dieser Bericht von Schnell zeigt dann wohl auch, dass der Versuch gegen die aggressive WTG-Tätigkeit, die Staatsgewalt zu mobilisieren, hinter dem unfraglich „die religiösen Vertreter Satans" (Originalton „Wachtturm") standen, sich als ein zweischneidiges Schwert erwies.

Dennoch muss auch auf den Verkaufsaspekt der WTG-Literatur nochmals hingewiesen werden. In anderen Staaten, namentlich in der Schweiz, wurde die WTG gerichtlich gezwungen, sich auf die Linie zurückzuziehen, keine offiziellen Verkaufspreise zu nennen; sondern nur den Hinweis, man nehme dafür Spenden entgegen. Ganz soweit gelangten die Gegner der WTG in den USA in ihren Widerstand gegen sie nicht.

Aber dieses Elbogenharte Agieren der WTG offenbart den Kern des Konflikts. Man war Lichtjahre entfernt ein „ruhiges und stilles Leben" führen zu wollen. Man suchte die Konfrontation und bekam sie auch. In den USA, ebenso wie unter variierten Rahmenbedingungen dann auch in Hitlerdeutschland und Ostdeutschland.

Siehe zum Fall Plainfield auch:

Ach so sie sind vom´Teufel.

19332 fuerchtet

Wieder zurückkehrend zur WTG-Kampfansage an den Ostdeutschen Staat.

Was lehrt die Geschichte rückblickend zu dieser Kampfansage?

Nun zum einen, das Ende des kritisierten Ostdeutschen Regimes trat erst rund 25 Jahre, nach jener provokanten Äußerung ein. Nicht etwa weil die Zeugen oder ein Jehova es so wollte, sondern primär an seinen inneren Widersprüchen dann gescheitert.

Katalysatoren diesbezüglich, etwa die Leipziger Montagsdemonstrationen, fanden ohne aktive Beteiligung der Zeugen Jehovas statt. 25 Jahre sind in politischer Dimension eine lange Zeit. Zum Beispiel doppelt so lange, wie die Zeit des Naziregimes. Also dessen Zeitspanne als Maßstab anlegend kann man sagen. Auch 1977 war das Ende des Ostdeutschen Regimes noch nicht spruchreif.

Auf dem Hamburger „Matschkongress" des Jahres 1961, hatte zwar die WTG, den Wink westlicher Geheimdienste folgend, ihre spezielle Leitungsstruktur für die Ostdeutschen Zeugen Jehovas installiert. Die hatte sich inzwischen auch etabliert. Der Ostdeutsche Staat, sah - einstweilen - noch relativ tatenlos zu. Gleichwohl war ihm sehr wohl bewusst, was sich da abspielte.

Durch Postüberwachung gelang es dem Ostdeutschen Staat, auch den tatsächlichen Leiter der Zeugen Jehovas dieser Region (damals in Dresden wohnhaft) zu lokalisieren. Es gelang auch den Geheimdienstprofis, den von Liebig nach Einweisung durch die WTG, verwandten Schlüssel seiner chiffrierten Post, zu entschlüsseln. Die Ostdeutschen Geheimdienstprofis wussten bereits, dass ist eine abgelegte Chiffriermethode, vordem von den westlichen Geheimdiensten verwandt.*)

Im Februar 1965, zum Zeitpunkt jener WTG-Kampfansage indes hielt man noch weitgehend still.

Interesse des Ostdeutschen Staates zu jener Zeit war es auch, möglichst internationale Reputation zu erlangen. Aus dieser Interessenlage, konnte die Ostdeutsche Stasi auch keineswegs so mehr agieren, wie sie es denn beispielhaft in den 1950er Jahren, gerne getan hätte. Sie musste, wollte sie Aktionen starten, bei denen voraussehbar war, die erregen aber auch internationales Aufsehen, diese sich vom SED-Politbüro erst genehmigen lassen. Um solch eine Genehmigung zu bekommen, waren selbstredend umfängliche Begründungen vonnöten.

Wie zitiert, lieferte die WTG mit ihrem „Wachtturm"-Artikel, die wesentliche Hauptbegründung, selbst frei Haus.

Die für die Kirchenpolitik verantwortlichen Ostdeutschen Apparatschicks beschlossen darauf hin.

Einen „Stapellauf" ihrer „neuen" Kirchenpolitik hatten sie bereits im Jahre 1961 absolviert.

Auch über die katholische Kirche waren die Ostdeutschen Apparatschicks nicht sonderlich glücklich. In dieser Gemengelage war es dem Ostdeutschen Staat - unter (auch) chronischem Papiermangel leidend, wert, eine damals neue Zeitschrift, sogar für den freien Publikumsverkauf, auf den Markt zu bringen. Damals betitelt „begegnung. Zeitschrift progressiver Katholiken".

Das war für Ostdeutsche Verhältnisse eine halbe Sensation.

Die von der katholischen Kirche selbst herausgegebenen Blätter „Tag des Herrn" und „St. Hedwigsblatt", gab es nur in begrenzter Auflagenhöhe (keineswegs in der Größenordnung, wie deren Redaktionen sie sich wünschten). Maximal acht Seiten Umfang hatte da beispielsweise das einmal wöchentlich erscheinende „St. Hedwigsblatt". Im eher primitiven Schwarz-weiss-Druck. Bezugsmöglichkeiten nur über den staatlichen Post-Zeitungs-Vertrieb, wobei es sogar Wartelisten gab. Das heißt die tatsächliche Auflagenhöhe reichte nicht für den realen Bedarf aus.

Nun besagte „begegnung". Dieses 32seitige Monatsblatt, hatte offenbar keinerlei Sorgen, seine Auflagenhöhe betreffend. Es konnte sogar im freien Kiosk-Verkauf erworben werden. Das war für Ostdeutsche Verhältnisse eine tatsächliche Revolution!

Nun also die Zeugen Jehovas.

Die Ostdeutschen Kirchenpolitiker beschlossen nun, auch auf diesem Felde müsse zur Gegensteuerung eine Art „begegnung" für die Zeugen Jehovas installiert werden. Zwar in diesem Falle nicht über den Post-Zeitungs-Vertrieb erhältlich. Wohl aber dann durch gezielten Versand an Zeugen Jehovas-Adresssen verbreitet. Just im Jahre 1965 ist dann auch (worüber der „Wachtturm" auch berichtet), die Freilassung der letzten drei, vom Ostdeutschen Regime zu lebenslänglichen Zuchthaus verurteilten Zeugen Jehovas, auf dem Gnadenwege erfolgt. Konnte man hoffen, vielleicht setzt jetzt eine generelle Liberalisierung der Ostdeutschen Kirchenpolitik in Sachen Zeugen Jehovas ein, so hat die WTG mit ihrer provokanten These vom Warten auf das Ende der DDR, diese Hoffnung dann selbst torpediert.

Und vom Oktober 1965 ist dann in dieser Gemengelage, auch die erste Ausgabe der diesbezüglichen Zeitschrift „Christliche Verantwortung" datiert, der weitere Ausgaben bis über das Ende der DDR hinaus, noch folgen sollten.

Die Stasi konnte also ihre Vorstellungen zum Thema, sich vom SED-Politbüro weitgehend absegnen lassen. Sie erreichte noch mehr, allen Befürchtungen zum Trotz, um die internationalen Auswirkungen, bekam sie es zugebilligt, eine (letzte) groß angelegte Zeugen Jehovas-Verhaftungsaktion, im November 1965 zu realisieren.

Ob es die so auch gegeben hätte, hätte der zitierte WT vom Februar 1965 nicht seine provokanten Thesen auf den offenen Markt geworfen, darf eher bezweifelt werden.

Einige Jahre später machte besonders Polen, in geringerem Maße auch die Tschechoslowakei, durch eine Liberalisierung ihrer Zeugen Jehovas-Politik von sich reden. In Ostdeutschland hingegen gab es solcherlei Tendenzen, bis zum buchstäblichen Ende jenes Regimes, nicht. Dort hatten bis zur buchstäblich letzten Minute, die Hardliner in der Zeugen Jehovas-Politik, das alleinige Sagen.

Die Arrorganz der zitierten WTG-Aussage trug ihre bitteren Früchte!

*) Exkurs

Übrigens, auch nicht uninteressant, was man in der Studie von Gerald Hacke „Zeugen Jehovas in der DDR" lesen kann; S. 63f.

Hacke erwähnt dort auch den Stasi-Aktenbestand der Bezirksverwaltung Dresden selbiger. Und zitiert aus diesem Aktenkonvolut auch ein Blatt 502.

Zwar setzt Hacke den Begriff „Beweis" in Anführungsstriche, und bringt so seine eigene Distanz dazu zum Ausdruck.

Wenn Hacke also diese Stasi-Interpretation sich so nicht zu eigen macht, ändert das ja nichts an dem Umstand, dass die zeitgenössische Stasi der Auffassung war, die Zeugen Jehovas würden zur chiffrierten Weiterleitung ihrer Informationen, einen „abgelegten Schlüssel des BND" benutzen.

Nun mag es in der Tat in Geheimdienstkreisen Usus sein, ihre Chiffrierungsmethoden nach einer gewissen Zeit auszuwechseln, weil sie befürchten, die Gegenseite habe die ja enttarnt, oder könnte sie enttarnen.

Dennoch dürften dann solch „abgelegte Schlüssel", kaum auf dem „offenen Markt" im Angebot sein.

Bezichtigte die Stasi also die Zeugen Jehovas, sie nutzten solch einen abgelegten Schlüssel des BND, lässt das ja durchaus tief blicken.

Wie nicht anders zu erwarten, hüllt der Zeugen Jehovas-Apologet Dirksen sich auch zu diesem Aspekt in „wohldosiertes Schweigen"!

Man vergleiche auch die Detailangabe in Christina Masuch „Doppelstaat DDR" S. 184f.

Detailzitat aus der Werner Liebig-Akte der Stasi (MfS-HA.XX/4.Nr.2338):

„Von Oktober 1961 bis August 1964 konnten 17 Informationen und 4 Monatsberichte des ... an die Zentrale in Wiesbaden dokumentarisch gesichert werden. Der Inhalt der Informationen, die unter Benutzung geheimdienstlicher Methoden übermittelt wurden, besagt, daß ... monatlich 2 - 3 Informationen bzw. Monatsberichte nach Westdeutschland sandte und ca. 2 Informationen monatlich von der Zentrale aus Wiesbaden empfängt.

Unter der Deckbezeichnung "Herr Lemmerberg" wird über die monatliche Trefftätigkeit der illegalen Leitung berichtet.

Unter der Deckbezeichnung "Philipp" Festnahmen von "Zeugen Jehova" mit Name, Tag der Festnahme.

Unter der Deckbezeichnung "Rosa" werden den "Zeugen Jehova" bekannt gewordene IM des MfS bzw. der VP oder ähnlich verdächtige "Zeugen Jehovas" an die Feindzentrale berichtet.

Unter der Deckbezeichnung "Bismarck" Haftentlassungen von "Zeugen Jehova" mit Name und Tag der Haftentlassung. Unter der Deckbezeichnung "Alex", "Ludia", "Ulrich", "Charlotte", "Johannes" und "Reinhard" werden weitere Informationen über Personen und deren Tätigkeit im Rahmen der

Organisation "Zeugen Jehova" in der DDR nach der Feindzentrale geliefert.

Es werden eine Reihe von "Zeugen Jehova" an die Zentrale zur Bestätigung durchgegeben, die für verantwortliche Funktionen in der DDR vorgesehen sind.

Bisher wurden 3 Methoden zur Übermittlung der Informationen an die Zentrale festgestellt:

1. der gesamte Ge-Text einer Information ist mit Hilfe des Wasserdruckverfahren zwischen dem Tarntext eines fingierten Briefes niedergeschrieben.

2. Der gesamte Ge-Text einer Information wird mit Hilfe von 2-3 Filmfolien, die sich unter Briefmarken von fingierten Post- und Ansichtskarten befinden, an verschiedene Deckadressen in Westdeutschland gesandt.

3. Der Inhalt einer Information (Monatsbericht) wird mit Bleistift auf die Karte unter der Briefmarke geschrieben.

Seit der Aufnahme der illegalen Tätigkeit der Leitung der Sekte in der DDR (Herbst 1961) bis zum Sommer 1963 wurden folgende Deckadressen in Westdeutschland von ... zur Übermittlung der Informationen benützt:

Hamburg

Flensburg

Frankfurt/M. ..."

1965er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

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