Der vorangegangene Jahrgang

Vor (mehr) als 50 Jahren
Was 1964 Wahrheit war
 

Blut eines Toten

Kritiker wähnen in der Bibel eine alte Fibel wahrzunehmen, auf der man vielerlei, auch gegensätzliche Lieder zu spielen vermag.
Eine Bibelstelle welche in der WTG-Geschichte eine gewisse makabre Bedeutung erlangte ist dann die aus dem Bibelbuch Offenbarung Kapitel 16:3
Letztere tönt nach der NW-Übersetzung:

„Und der zweite goß seine Schale in das Meer aus. Und es wurde zu Blut wie von einem Toten, und jede lebende Seele starb, ja alles, was im Meer war."

Sieht man sich das 16. Kapitel der Offenbarung selber an, ist festzustellen:
„Ende der Durchsage". Weiteres zu besagter „zweiter Schale" wird dort nicht ausgeführt.
Davor ist von einer „ersten Schale" die Rede, und nach dem genannten Zitat geht es dann mit einer „dritten Schale" usw. weiter.
Also wäre erst mal festzuhalten, ein typischer Text, welcher fallweise der näheren Auslegung bedarf, womit wiederum der Willkür Tür und Tor geöffnet wären.
Es kann aber wohl unterstellt werden, an der nachfolgenden Auslegung jenes Textes, hätte die WTG wohl kaum ihre Freude.
Eine Webseite, deren Anliegen es ist, die Thesen und Praxis der WTG per Ironie „auf die Schippe zu nehmen", meinte etwa aus diesem Text das nachfolgende herauslesen zu sollen:

Strafe über China
Die zweite Schale versetzt uns in der Zeit einige Jahrzehnte zurück: „ zweite goß seine Schale in das Meer aus. Und es wurde zu Blut wie von einem Toten, und jede lebende Seele starb, ja alles, was im Meer war" (Off. 16:3). Das „Meer" steht für China, das im Jahr 1949 bereits fast 600 000 Einwohner hatte – wahrhaft ein großes ‚Menschenmeer'! Damals führte Mao Tse-tung den Kommunismus ein, so dass das Land rot wurde, so wie „Blut wie von einem Toten". Während seiner Herrschaft starb zwar nicht buchstäblich „jede lebende Seele", aber immerhin bis zu 76 Millionen Menschen – mehr, als die Bevölkerung vieler Nationen.

http://www.svhelden.info/pdf/erbrechet_okt08.pdf
(Dort die Seite 5 dieser pdf-Datei)
Schon C. T. Russell wähnte in seinem Auslegungsgeflecht jene Bibelstelle mit einbauen zu sollen. In Band 7 der „Schriftstudien" (Ausgabe 1925) liest man etwa (S. 318, 319)

16:3. Und der zweite (Engel) goß seine Schale aus auf das Meer: Band II der S c h r i f t s t u d i e n schien in den Augen des Tieres und seines Bildes nur die Masse der Unzufriedenen zu erreichen, solche, die dem Fürsten dieser jetzigen bösen Welt oder einem seiner Systeme niemals besonders dienstbar und unterwürfig gewesen waren.
Und es wurde zu Blut, wie von einem Toten: Nach dem Eintritt des Todes trennt sich das Blut in zwei Substanzen, in eine wässerige Flüssigkeit, genannt das Serum, und eine feste Masse, geronnene Blutklümpchen. Sobald diese Scheidung vor sich geht, beginnen die Blutklümpchen in Fäulnis und Verwesung überzugehen. Auf gleiche Weise erscheint es denen, die das Tier und sein Bild anbeten, daß ein jeder, der die Lehren von Band II annehme, in hoffnungslosem Zustande sein müsse. ..."

Jene frühe WTG-Bibelauslegung setzt sich dann noch bis zum Seitenanfang der Seite 320 fort.

Seite 318  Seite 319  Seite 320

Aber die Tendenz ist relativ eindeutig. Russell wähnt sein Band II der „Schriftstudien" wäre es, der solcherlei „Scheidung der Menschen" verursachte.
Schriftstudien Band 2

Und alle die seine darin enthaltenen Lehren nicht annehmen würden attestiert er einem „hoffnungslosen Zustand."
Namentlich jener Band II ist es aber, welcher in besonders pointierter Weise die einschlägigen auf 1914 orientierenden Endzeitlehren präsentierte.
Dann noch die schon früher getätigte Anmerkung.
Wie so vieles veränderte sich auch diese Auslegung noch im Laufe der WTG-Geschichte.
Eine besonders makabre Variante dessen gab es Mitte der 1960er Jahre.
Die Kommunisten waren es zwar schon gewohnt, als „rote Religion" von der WTG tituliert zu werden (etwa in dem WTG-Buch „Was hat die Religion der Menschheit gebracht". Und dies trotz des Umstandes, dass „Religion" nicht ihrem Selbstverständnis entsprach).
Nun soll darüber nicht weiter disputiert werden.
Das Selbstverständnisse und Fremdeinschätzungen nicht selten erhebliche Unterschiede aufweisen kennt man ja auch andernorts. Also vorstehende Einschätzung hätten die Genannten wohl gerade noch zähneknirschend hingenommen.
Nun aber setzte die WTG noch eines drauf und legte die Bibelstelle bezüglich des „Blutes eines Toten" direkt auf die Kommunisten aus. Damit hatte man damit eine „Schallmauer" durchbrochen.
Im „Wachtturm" vom 15. 1. 1964 gab es dann den auf kommunistischer Seite als nicht hinnehmbar eingeschätzten Satz:

„Radikale Gruppen sind entstanden, die mit den Verhältnissen auf Erden, wie sie in den vergangenen Jahrtausenden unter den traditionellen, von der Religion beeinflußten politischen Regierungen geherrscht haben, unzufrieden waren. Diese brandeten an die scheinbar sicheren Regierungen wie wilde Meereswogen an felsige Küsten oder Landzungen. Seit dem Jahre 1914 n. Chr. haben sie gewaltige Revolutionen, große politische Umstürze herbeigeführt, und jetzt drohen sie, die Weltherrschaft zu erringen. Sie intrigieren erfolgreich, um die Weltverhältnisse in einem wirren, unsicheren, besorgniserregenden Zustand zu erhalten, aber Leben können sie den Menschen nicht geben. Es ist eine politische Bewegung des Todes, so leblos wie das Blut eines Toten, das ausgeflossen und geronnen ist. Jeder, der von dieser politischen Bewegung mitgerissen wird, stirbt."

Als die WTG dann im WT  1965 (S. 110) mit dem Satz nachlegte:

„Wie David mögen aber auch sie jahrelang warten müssen. Die Zeugen Jehovas in Ostdeutschland mußten zuerst auf das Ende der Naziherrschaft Hitler warten, und jetzt müssen sie das Ende der neuen totalitären Regierung abwarten, die die Naziregierung ablöste, das Ende der kommunistischen Regierung, die von dem zur Zeit von Breschnew beherrschten Sowjetrußland abhängig ist. Wie lange sie noch auf ihre Befreiung warten müssen, wissen wir nicht, aber sie sind entschlossen, zu warten, bis Jehova sie befreit."

Da war der Geduldsfaden auf östlicher Seite, endgültig gerissen.
Nach meiner Einschätzung besteht eine direkte Folgewirkung diesbezüglich.
Genannte WTG-Auslegung und als Reaktion darauf auf östlicher Seite, die letzte große Zeugen Jehovas-Verhaftungswelle in Ostdeutschland (Liebig und andere) im November 1965. Und als weitere Folgewirkung ebenfalls Ende 1965. Beginn der WTG-kritischen Herausgabe der Zeitschrift Christliche Verantwortung
Um 1965 war das Ostdeutsche Regime schon um internationale Reputation bemüht. Man war sich dort durchaus bewusst, dass politische Verhaftungsaktionen selbiger durchaus schädlich sind. Die Ostdeutsche Stasi konnte diesbezüglich durchaus nicht mehr frei schalten und walten. Sie musste sich ihre beabsichtigten Aktionen, die eine Außenwirkung zur Folge haben könnten, durchaus im Vorfeld an aller höchster Stelle „absegnen" lassen. Das galt nach meiner Einschätzung auch für die 1965er Verhaftungsaktion.
Also in der Gesamteinschätzung ist jene 1964 eingeleitete WTG-Auslegungsvariante als eher kontraproduktiv einzuschätzen!

Eine weitere zeitgenössische Auseinandersetzung mit jener Thematik, basierte dann auf dem 1970 erschienenen WTG-Buch "Dann ist das Geheimnis Gottes vollendet". Jene Auseinandersetzung wurde zwar zu einem Zeitpunkt verfasst, als es den Staat DDR noch gab, und das mal seine Uhr eines Tages abgelaufen sein würde, so noch nicht voraussehbar war. Trotz dieser Zeitbedingtheiten indes ist letztendlich auch die These von dem „Blut eines Toten", die dort anhand genannten WTG-Buches, weiter „auseinandergepflückt" wurde.
WTG-Buch Dann ist das Geheimnis vollendet

Ein vergiftetes Lob

In der „Wachtturm"-Ausgabe vom 1. 4. 1964, spendet sich die WTG in der Form der Zitierung eines Dritten, selber ein vergiftetes Lob.
Danach habe ein Herr Richard Mathison ein Buch publiziert welches er betitelte „God is a Millionaire" (Gott ist ein Millionär). Und halt in jenem Buch gebe es auch eine Passage, welche auf die Zeugen Jehovas hinweist, und die vom WT auch vorgestellt wird. Bis dahin vermag man noch zu folgen. Merkwürdigerweise indes, hält die WTG es nicht für nötig, eine substanziell-kritische Anmerkung zu jenem Zitat hinzuzufügen. Es wird in der Sache nur kommentarlos zitiert, was gleichbedeutend ist. Man widerspricht nicht diesem Zitat.
Da berichtet jener Herr Mathison also in kommentierender Form:

„Im Koreakrieg haben viele, die aus dem bequemen Protestantismus aus unseren Militärschulen und unseren höheren Schulen hervorgegangen sind kläglich versagt."

Hier sei jenes Zitat schon mal unterbrochen. Man erinnert sich. Auch die WTG betätigte sich als publizistischer Lautsprecher, der dieses vermeintliche Versagen näher beschrieb. Zusammengefaßt in der für die USA-Falken Schreckensvokabel der „kommunistischen Gehirnwäsche". Und selber seien vorgeblich im Koreakrieg, in Gefangenschaft geratene USA-Soldaten erlegen.
Siehe dazu auch: „God's own Country" bildet „göttlich" aus

Nun schwimmt besagter Herr Mathison auf ähnlicher Wellenlänge.
Er meint dabei auf eine Studie des US-Pentagon verweisen zu sollen, welche ausführte:

„Die wenigen Zeugen Jehovas, die in die Kriegsgefangenschaft kamen, ... hielten den ausgeklügelten, psychologischen Methoden, die man anwandte, um sie zum Kommunismus zu bekehren, durchweg besser stand als viele patriotische West-Point-Absolventen (West Point ist die amerikanische Miltärakademie)."

Wenn sich das Pentagon also die eigenen Wunden leckt, bezüglich in koreanischer Kriegsgefangenschaft geratene US-Soldaten, und dabei namentlich Zeugen Jehovas als positive Ausnahme von der Regel herausstellt, so beinhaltet das zum einen schon.
Es gab während des Korea-Krieges USA-Soldaten, welche Zeugen Jehovas waren.
Niemand zwang die WTG sich dieses vergifteten Lobes zu bedienen. Indem sie es trotzdem, tat, lässt das tief blicken.
Egal um welche Größenordnung es sich da gehandelt haben mag, ob das im Einzelfall dann solche waren, die Zeugen Jehovas-Familien entstammten, in der Bedrängungssituation sich dann für den Wehrdienst entschieden, wobei einzuräumen wäre, sie waren wohl nicht die Mehrheit unter den Zeugen Jehovas, die dafür in Betracht kamen.
Offenbar gab es aber durchaus solche „Einzelfälle". So wie es auch in der Naziarmee „Einzelfälle" gab, welche Zeugen Jehovas Familien entstammten, deren Väter in den Hitler'schen KZ landeten, die Söhne trotz dieses Umstandes in die Armee eintraten.
Ein solcher Fall wäre beispielsweise der des
Günter Rosenbaum

Letzterer lies sich zwar erst nach 1945 dann als Zeuge Jehovas taufen. Indes seine Erziehung als Zeuge Jehovas von Kindesbeinen an, ist durchaus belegt.
Möglicherweise lagen jene USA-Fälle auf ähnlicher Ebene.
Indem die WTG im Jahre 1964 diese Sachlage erneut aufgreift, wird man an ihr Verhalten in der
McCarthy-Ära erinnert. In jener Phase, in der es in den USA schon ausreichte, rote Limonade verkauft zu haben, um als „Roter" verschrieen zu werden. Und wie die WTG sich da eines „Persilscheines, ein Memorandum des US-Marinekorps bediente, welches im Gegensatz zur „Bildzeitungs-Meinung breiter USA-Schichten" (in diesem Falle ist der Vergleich symbolisch gemeint) bestätigte, die Verleumdung bei den Zeugen Jehovas handele es sich um „Kommunisten", sei eine tatsächliche Verleumdung. Letzterer Umstand ist zwar jedem Sachkenner klar. Offenbar aber eben nicht den weiten „Bildzeitungs-Gebildeten" USA-Kreisen zu damaliger Zeit.
Wenn also noch 1964 ein ähnliches Verteidigungsargument Verwendung findet, dann spricht das eher gegen, als denn für seine Verwender!

Heinrich Dwenger

In der „Wachtturm"-Ausgabe vom April 1915 (S. 64) Rubrik „Briefe von Interesse" gibt es auch einen solchen, bei dem in Sonderheit das damals von der WT-Redaktion angehängte Nachwort aufschlußreich ist. (Repro etwas um den Mittelteil jenes Briefes gekürzt).


Wie aus diesem Text zu entnehmen ist, rechnete man damals mit der umgehenden Einziehung auch des Heinrich Dwenger zum Militärdienst, was jeden Tag ohne weitere Karrenszeit, passieren könne. Die vorangehende Aushebung (Musterung) sei bereits abgeschlossen. Über diesen Aspekt wird weiter unten noch etwas zu sagen sein.

Wer ist nun dieser am 8. 5. 1887 geborene Heinrich Dwenger (Geburtsdatum selbigen den Naziakten entnommen seinerzeitiges Archiv „Freienwalderstr").
Bereits im ersten WTG-Büro in Barmen, unter der Leitung von Otto Koetitz war er hauptamtlich für die WTG tätig.
Ein Text des Herrn Wrobel notierte dazu:

„Neben Landesleiter Otto Koetitz waren die hauptamtlichen Mitarbeiter Max Cunow (seine Tochter Christa übersetzte zusammen mit Koetitz aus dem Englischen), Reinhard Blochmann, Heinrich Dwenger, Robert Basan und Walter Hellmann. Im Versandraum für Wachtturm-Literatur arbeiteten F. Heß, in der Küche die Ehefrauen von Koetitz und Cunow."

Auch später spielte Dwenger noch einen relevanten Part in der WTG-Geschichte.
Fritz Winkler etwa äußerte in seinen Gestapovernehmungen über jenen Dwenger:

„Ich bin im Besitze zweier Schlüssel, die ich durch den Glaubensbruder Dwenger vor etwa 1 Jahr erhalten habe, und die für irgendwelche Türen des Bibelhauses in Magdeburg bestimmt sind. Ich selbst bin noch nicht dort gewesen und weiss nicht, was sich in den verschlossenen Räumen befindet. Mir ist auch nicht gesagt worden, was sich in den Räumen befindet. Die Schlüssel sind mir bei der Festnahme von der Polizei abgenommen worden."

Dazu muss man dann ergänzend auf einen von Dwenger selbst verfassten Bericht verweisen, welchen die „Wachtturm"-Ausgabe vom 1. 6. 1964 publizierte. Allerdings, und das sei unterstellt, läßt jener WT-Bericht vorsätzlich, einige relevante Details im „Nebel".
Immerhin berichtet Dwenger darin über seinen weiteren Part in der WTG-Geschichte. Nach dem Naziverbot des Jahres 1933 sei er nach Ungarn von der WTG abkommandiert worden. Wie nun Balzereit im Jahre 1935 doch noch von den Nazibehörden für verhaftet erklärt worden war, lautete die WTG-Order an Dwenger, nunmehr nach Deutschland zurückzukehren und Balzereits WTG-Erbe anzutreten.
Mit Hilfe der USA-Botschaft in Deutschland, war es ja Balzereit und seinem Adlatus Dollinger möglich geworden, über das zeitweilig beschlagnahmte Vermögen der WTG wieder relativ frei verfügen zu können.

Noch war es durchaus nicht klar, ob Balzereits Verhaftung mit einer erneuten Vermögensbeschlagnahme einhergehen würde. Auch die Nazis wussten, die USA-Botschaft habe sich in der Angelegenheit bereits einmal eingemischt, und diese Kenntnis zwang auch sie, zu einem für Naziverhältnisse zurückhaltenden agieren.
Es bestand also eine gewisse Grauzone, namentlich die Vermögensrechtlichen Aspekte betreffend. Die WTG hoffte nun, das der in ihrem Auftrag zurückgekehrte Heinrich Dwenger, in der Situation nach der Verhaftung des Balzereits, vielleicht noch etwas retten könne. Es zeigte sich allerdings schon nach ganz kurzer Zeit. Da war nicht mehr allzuviel zu retten. Indes seinen Wohnsitz in Deutschland nach seiner Rückkehr, nahm Dwenger in der Magdeburger WTG-Zentrale. Nun sollten sich die Dinge überschlagen. Dwenger selbst schreibt. Eines morgens stand die Gestapo erneut vor der Tür des Magdeburger Anwesens und führte eine Hausdurchsuchung durch. Dwenger will dabei selbst mit im Magdeburger Gebäude gewesen sein. Er meint seine Ortskenntnis im Gebäude ausnutzend, dass die Gestapo ihn nicht fand dieweil er sich in einem verschlossenen Zimmer befand, wo die Gestapo nur die Option gehabt hätte, es gewaltsam aufzubrechen, dies jedoch nicht tat.
Und just drei Stunden nach Beginn der Gestapo-Durchsuchung habe er dann das Gebäude durch einen zweiten Ausgang verlassen können.

Dwenger so den Nazis entwischt, will sich dann in Berlin mit dem Schweizer WTG-Fürsten M. C. Harbeck noch getroffen haben. Harbeck wollte erneut persönlich mit den Nazis verhandeln (nicht zum ersten Male übrigens). Diesmal indes beschlossen die Nazis, es gibt nichts mehr zu verhandeln und inhaftierten Harbeck für etwa eine Woche. Immerhin das wussten die Nazis auch, der ist ja kein Reichsdeutscher den man sang und klanglos so verschwinden lassen könnte, wie es bei den Nazis Usus war. Würden sie das auch im Falle Harbeck tun, ständen wohl diplomatische Konfrontationen ins Haus. Ergo wurde Harbeck ohne viel Federlesen, nach seiner einwöchigen Nazihaft, wieder aus Deutschland ausgewiesen.
Siehe auch:
Martin C. Harbeck
19372Harbeck

Nächste Station für Dwenger im WTG-Auftrag sollte dann Danzig sein (mit ihrem damaligen Freistadtstatus unter der Ägide des Völkerbundes).
Als Harbeck dann seine Nazihaft überstanden hatte und sich wieder in der Schweiz befand, lautete seine Order an Dwenger, nunmehr zu ihm nach Bern zu kommen. Dort beratschlagten die Herren weiter und kamen zu dem Ergebnis, der nächste Job für Dwenger im WTG-Auftrag habe nun in der Tschechoslowakei zu sein. Von dort aus solle er soweit noch möglich, auch die deutschen Zeugen Jehovas „mitregieren". Seinerseits wurde der nicht unbekannte Erich Frost, dann von ihm als deutscher „Unterfürst" eingesetzt.
In den Gestapoprotokollen der Frostvernehmung liest sich das dann so:

„Leiter des "Deutschen Werkes" ist der Reichsdiener Dwenger in Prag.
Ich selbst bin lediglich als Vertreter Dwengers eingesetzt. ...
Heinrich Dwenger ist der frühere Leiter der Dienstabteilung der WT-Gesellschaft in Magdeburg gewesen. Er war dort viele Jahre tätig und ist Reichsdeutscher. Ich schätze ihn auf 45 Jahre, er wird 1,70 m groß sein, trägt kurzgeschnittenen Schnurrbart, hat Haare von bräunlicher Farbe, gescheitelt. Dwenger ist unverheiratet und in seiner Art ein Sonderling."

Namentlich dieser von Frost formulierte „Steckbrief", sollte dann nach 1945 in jener Publizistik, welche der WTG nicht wohlgesonnen ist, noch besonders herausgestellt werden.
Die Tschechoslowakei geriet dann auch noch unter die Naziherrschaft, was eben auch das Ende der dortigen WTG-Tätigkeit bedeutete. Wie weiland schon in Magdeburg, will auch diesmal Dwenger den Nazis entwischt sein. Gemäß seiner eigenen Angabe, nach einer Odyssee dann in die Schweiz zurückgekehrt. Dort mit anderen WTG-Hörigen als neues Landungsziel nunmehr für Brasilien bestimmt. Aber Glück im Unglück, der von Genua (Italien) startende Dampfer konnte nicht losfahren, da Italien mit in den Krieg eingetreten war. Insoweit war dann dem Dwenger eine Karrenszeit in der Schweiz bis zum Ende des zweiten Weltkrieges beschert, obwohl die Schweizer Behörden, dies wegen ihrer vermeintlichen Neutralität, nicht so gerne sahen. Nur die Schweiz wurde in diesem Falle, ihre ungeliebten Gäste „wegen genannter technischer Probleme" nicht mehr los.
Sicherlich auch eine bewegte Geschichte, die dieser Herr Dwenger da so aufzuweisen hat.
Nun muss allerdings nochmals auf das Thema Wehrdienst zu Zeiten des ersten Weltkrieges zurückgekommen werden.
In der genannten WT-Ausgabe vom 1. 6. 1964 liest man auch:

„Im Frühling 1915 erhielt ich (Dwenger) den Stellungsbefehl. Ich schrieb sofort an die Militärbehörde und teilte ihr mit, ich würde den Fahneneid und die Waffen verweigern. Ein Militärarzt wurde beauftragt mich zu untersuchen ... Dann kam die Verhandlung. ... Ich mußte viele Fragen beantworten und ich war glücklich, ein gutes Zeugnis für die Wahrheit abgeben zu können."

„Dezent" unterschlägt aber Dwenger in diesem seinem 1964er WT-Bericht, wie denn nun sein „Zeugnis für die Wahrheit" in der Praxis aussah.
Im 1974er ZJ-Jahrbuch wird dieses sein „Zeugnis" so beschrieben:

„Bei einer Nachmusterung wurden auch Bruder Dwenger und Bruder Basan eingezogen. Bruder Basan konnte bald wieder nach Hause zurückkehren, aber Bruder Dwenger wurde nicht entlassen, sondern mußte im Militärbüro Akten abheften. Er war bereit, dies zu tun, da er es nach seinem damaligen Verständnis, das er über diese Frage hatte, mit seinem Gewissen vereinbaren konnte."

Da mag jener Herr Dwenger ja Glück gehabt haben, dass man ihm im Militärbüro mit Akten abheften dann beschäftigte.
Ob denn solche Akten-Abhefter wirklich den Typus des „Standhaften" repräsentieren, als den eine geschönte WTG-Geschichtsschreibung es darzustellen versucht. Die Zweifel darüber müssen wohl weiterhin als nicht ausgeräumt bezeichnet werden.

Da ist man ja fast versucht, sich diese Akten-Abhefter mal bildlich vorzustellen.

Die beiden Herren im Offiziersmantel auf dem Bild, werden sich mit dieser profanen Tätigkeit wohl eher weniger abgegeben haben. Dafür vielleicht ihr mit abgebildetes Begleitpersonal, etwas mehr.

Die Ersatzdienstproblematik

Eine Zahl aus dem Jahre 1964 besagte, bis zu diesem Zeitpunkt seien in der Bundesrepublik Deutschland, etwa 6.500 Wehrdienstverweigerer, im diesbezüglichen Prüfungsverfahren, als solche anerkannt worden. Etwa 2.000 dieser 6.500 seien Zeugen Jehovas. Die Problematik fing mit der Verkündigung des "Gesetzes über den zivilen Ersatzdienst!" vom 13. 1. 1960 an.
Da von Wehrdienstverweigerern in der Regel die Leistung eines Ersatzdienstes verlangt wird, betraf dieser Umstand auch die Zeugen Jehovas. Zum genannten Zeitpunkt waren von ihnen etwa 300 davon betroffen. 70 dieser 300 kamen der Aufforderung zur Absolvierung ihres Ersatzdienstes in einem Krankenhaus, Pflegeheim ect. nach. Die übrigen 230 taten dies nicht. In der Folge hatten sie sich dann jeweilige Gerichtsverfahren eingehandelt. Ein Bericht der "Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung" vom 11. 2. 1963, arbeitet an Hand der Berichterstattung über eine Gerichts-Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart, die dabei wesentlichen Essentiels heraus. Bei den dabei involvierten Zeugen Jehovas stellte sich als motivierend heraus:

"Sie (die Zeugen Jehovas) verlangen die Gleichstellung mit den katholischen und evangelischen Geistlichen, die vom Wehr- und Ersatzdienst befreit sind."

Ein bis vors Bundesverwaltungsgericht gezogenes Verfahren stellte dazu indes fest:

"'Das Verhältnis Hirt und Herde, wie es bei den christlichen Kirchen gegeben ist, existiert nicht bei der Struktur der Zeugen Jehovas.' Die Religionsfreiheit werde dadurch nicht behindert."

Und weiter:

"Das Urteil des Oberlandesgerichts (Stuttgart) stellt fest, daß die staatsbürgerlichen Pflichten einer Gewissensentscheidung übergeordnet sind. Eine solche Gewissensentscheidung entbinde nicht von der öffentlich-rechtlichen Pflicht gegenüber dem Staat. Wollte man, so meint das Urteil, die Gewissensfreiheit für ein höheres Rechtsgut ansehen als den Gleichheitsgrundsatz, so rüttle man an den Fundamenten des Staates."

In der Folge lies man es nicht bei einmaligen Verurteilungen wegen "Dienstflucht" sein bewenden haben, sondern suchte durch immer neue "Anschlußverfahren" für den gleichen Tatbestand, den staatlichen Anspruch durchzusetzen. Ein Kommentar 1965 in der Zeitschrift "stern" (Nr. 12/1965) publiziert, unterstellt, Scharfmacher diesbezüglich sei der Katholik und Bundesarbeitsminister unter Adenauer, Theodor Blank. Es wird unterstellt, dass von ihm praktizierte System der Mehrfachbestrafungen für den gleichen Tatbestand, wäre durchaus nicht zwingend notwendig gewesen. Eine einmalige Verurteilung, hätte es auch getan. Aber Herr Blank und die Seinen, wollten es "offenbar wissen", wer in diesem Streit den "längerem Atem" hat.

Man höre sich dazu beispielsweise mal dieses Detail einer Tonaufzeichnung an.

Ersatzdienst.1967.mp3 Siehe auch Zivildienst (dort weitere thematische Verlinkungen).

Die Justiz ihrerseits reagierte durchaus unterschiedlich. In der Mehrzahl wurde ein Strafrahmen von vier bis sechs Monaten Gefängnis ausgesprochen. Es gab aber auch Urteile wie das eines Münchner Gerichtes, welches im August 1962 eine Strafe von einem Jahr Gefängnis verhängte.

Andererseits sind auch Einzelfälle belegt, die von der Mindeststrafe (einem Monat) absahen, und sie in eine ersatzweise Geldstrafe umwandelten. Hier wiederum der Umstand, dass vielfach die Staatsanwaltschaft dann gegen solche Geldstrafenurteile protestierte, mit der Folge, einer erneuten Verhandlung in dergleichen Sache. Mit der weiteren Folge, das Revisionsurteil war dann nicht mehr so „milde".
Die Sachlage spitzte sich dann insoweit zu, dass es Zweit- und sogar Drittverurteilungen in derselben Sache gab, die dann einiges Aufsehen erregten. Dem lag zugrunde, dass die Gerichte damals wähnten, erst wenn ein Gesamtstrafrahmen von 18 Monaten erreicht sei, wolle man auf die „Bremse treten". Bis dahin war aber das Motto der Justiz vielfach.
Aussetzung der Strafen zur Bewährung käme schon deshalb nicht in Betracht, dieweil sich die Delinquenten vor Gericht vielfach als unbelehrbar gezeigt hätten. Und weil sie dies seien, sei auch eine erneute Folgestrafe in derselben Sache durchaus zulässig.

Namentlich bei dem Aspekt der Mehrfachbestrafungen, beschlich dann doch einigen Angehörigen der Justizberufe (in Sonderheit auf Seiten der Rechtsanwälte) ein ungutes Gefühl. Und sie stellten dann die Frage, kann dies wirklich verfassungsmäßig sein?
Das die Wehrdienstverweigerer von der Justiz kein sonderliches Wohlwollen zu erwarten haben, mag dann auch der Hinweis auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom 24. 6. 1964 verdeutlichen. Da war (laut „Deutsche Richterzeitung" 1964 S. 313f) die Frage auf der Tagesordnung. Wie soll sich nun der heutige Staat Bundesrepublik Deutschland zu den Urteilen im Naziregime, auch Wehrdienstverweigerungen betreffend, verhalten. Allgemein wird ja jenes Regime als ein Unrechtssystem klassifiziert. Folgt nun daraus, dass aus solchen Unrechtsurteilen auch heutzutage Entschädigungszahlungen abgeleitet werden können? Letztendlich wurde diese Frage bezogen auf die Wehrdienstverweigerungsfälle dann verneint. Und dazu liest man dann in der angegebenen Quelle auch den sinnigen Satz:

„So weit der Zeuge Jehovas auf Grund dieser Glaubensüberzeugung den Kriegsdienst verweigert, bekämpft er damit nicht das jeweilige ihm gegenüberstehende staatliche Regime um seines etwaigen besonderen Unrechtscharakters".

Was besagte Richter da in ihrer geschraubten Formulierungskunst zum besten gaben, könnte man etwas weniger vornehm dann auch so übersetzen.
Diese Verweigerungshaltung war eben das „Privatvergnügen" derjenigen, die es so handhabten. Und für „Privatvergnügen" sei halt der Staat nicht zuständig.
Es wäre wohl etwas zuviel an Optimismus zu erwarten, das besagte Justiz nun freiwillig heutzutage analoge Fälle, soviel „anders" beurteilen würde.
Aber auch bei den Zeugen Jehovas ist eine diesbezügliche Doppelbödigkeit zu beobachten. Die Tageszeitung „Die Welt" brachte in ihrer Ausgabe vom 30. 8. 1964 auch die nachfolgende Agenturmeldung:

„Die 'Zeugen Jehovas' stellen es jedem einzelnen ihrer Glaubensbrüder frei, ob er einer Einberufung zum Ersatzdienst für den Wehrdienst Folge leisten will oder nicht. Diese Erklärung hat der Leiter des westdeutschen Zweiges ... Konrad Franke ... abgegeben ...
Franke sagte zur Frage des Ersatzdienstes, den anerkannte Kriegsdienstverweigerer in Krankenhäusern oder sonstigen gemeinnützigen Anstalten ableisten müssen, die Entscheidung hierüber bleibe nach Ansicht der 'Zeugen Jehovas' dem Gewissen eines jeden einzelnen vorbehalten. Niemand auch nicht die Leitung der 'Wachtturm-Gesellschaft', sei berechtigt, einem 'Zeugen Jehovas' zu dieser Gewissensentscheidung zu beeinflussen oder sie ihm gar durch eine Art offizieller Stellungnahme abzunehmen."

In der Tat, den letzten Detailsatz aufgreifend, das mit den „offiziellen Stellungnahmen" vermeidet die WTG. Das ist auch anderweitig belegt.
Josy Doyon berichtete in ihrem Buch „Hirten ohne Erbarmen" auch darüber wie es ihrem Ehemann (in der Schweiz) dazu erging. Auch die Schweiz hat ja eine Wehrgesetzgebung (wie immer die im Detail ausgestaltet sein mag). Wie da massiver Druck seitens der Zeugen Jehovas ausgeübt wurde, wie da das Prinzip von möglichst nur „Vier-Augen-Gesprächen" zur Anwendung kam, wie die verantwortlichen Apparatschicks, als Frau Doyon diesem die Aufforderung stellt, er möge doch ihrem Mann mal aufschreiben, was er den Richtern gegenüber erklären soll, sich mit dem Satz wand: „Das darf ich nicht ..."
Die WTG-Apparatschicks sind also klug genug, sich keine offenkundigen Blößen zu geben. Unterhalb dieser Schwelle indes beherrschen sie sehr wohl das Instrumentarium, ihre Hörigen so zu beeinflussen, das eben nur jene Entscheidungen zustande kommen sollen, wie sie die WTG-Hierarchie denn so wünscht.
Von einer echten Gewissenfreiheit kann in der Tat nicht gesprochen werden. Selbige pflegt an der WTG-Garderobe abgegeben worden zu sein.

Man vergleiche auch, wie der WT selbst einmal tönte:(„Wachtturm" 1. 4. 1986):

Brisantes nur mündlich

Kommentarserie 1964

1965er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

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