Das zerschnittene „Tischtuch"
geschrieben von:  Drahbeck
Datum: 24. September 2012 23:43
Im „Goldenen Zeitalter" gelesen - Eine Zeitreise
Das Geschäft sich Publicitymäßig in Szene zu setzen, verstehen die Zeugen Jehovas sicherlich. Und das kann man von ihnen schon sagen, als sie sich noch Bibelforscher nannten.

Vor dem ersten Weltkrieg gab es in Deutschland zwar schon einige von ihnen. Aber zahlenmäßig doch eher bescheiden zu nennen. Der einzigsten relevanten Kraft, der damals hierzulande schon die diesbezügliche „Hutschnur hoch ging", das waren die sogenannten Landeskirchlichen Gemeinschaften, pflegten doch die Bibelforscher in deren Revieren im besonderen zu wildern. Die Polemik etwa der Zeitschrift „Licht und und Leben" aus derFrühzeit, ist Beleg dafür.

Der Humus auf den denn sowohl Bibelforscher, Landeskirchliche Gemeinschaften und Freikirchen zu „blühen" pflegten, war ja ziemlich ähnlich. Um nicht zu sagen: Oftmals bequem austauschbar. Der Dissenz zwischen Freikirchen und Landeskirchlichen Gemeinschaften bestand ja auch nur darin, dass letztere die „Nabelschnur" zur babylonischen Kirche noch nicht - de jure - vollends gekappt hatten, wie das die Freikirchen ja taten. Nun waren wegen genannter Differenz sich Landeskirchliche Gemeinschaften und Freikirchen, gegenseitig nicht sonderlich „grün".

Diese Differenzen lernten sie aber alsbald wieder herunterzuspielen, dieweil sie sich durch den US-Import Marke C. T. Russell, gleichermaßen unangenehm berührt sahen. Auch hierbei kann man wesentliche ideologische Gemeinsamkeiten, zwischen allen drei genannten Strömungen registrieren. Was aber nun das „Blut ins Wallen brachte" bei Landeskirchlichen Gemeinschaften und Freikirchen, war besonders der Umstand. Sie hatten sich ja organisatorisch verfestigt, dieweil früher am Markt in Deutschland wirkend. Und zu dieser Organisatorischen Verfestigung gehörte auch eine jeweilige eigene Priesterkaste. Die zogen es zwar vor, den aus ihrer Sicht ramponierten Namen Pfarrer oder Pastor, weniger zu benutzen. Da waren dann eben Ausweichbezeichnungen angesagt. Prediger, Gemeindeälteste, und ähnliches in der Richtung. Die neu aufgekommene Russell'sche Konkurrenz hingegen, verzichtete anfänglich auf eine besoldete Priesterkaste. Sprach man es auch so deutlich nicht aus, das war der eigentliche Grund, welcher mit zum „Zerschneiden des Tischtuches" beitrug.

Vergleicht man die Zuwachsraten der Bibelforscher nach dem ersten Weltkrieg, insbesondere die der USA und Deutschland, so dümpelten in den USA - gemessen an der Größe des Landes und an der dort weitaus breiter gestaffelten Konkurrenzsituation -, sie so vor sich hin. Es sind etwa kirchliche Reiseberichte aus den USA überliefert, wo die aus Deutschland kommenden Berichterstatter ihre besondere Verwunderung darüber zum Ausdruck brachten, dass in den USA die Bibelforscher in der öffentlichen Wahrnehmung, keineswegs jenen Status erreicht hatten, wie in Deutschland. Und man darf hinzufügen. Auch in der Schweiz dümpelten die Bibelforscher so vor sich hin, ohne sonderlich rasch vom Fleck weg zu kommen.

Hier spielt eben die bürgerlich-soziologische Struktur beider Länder, eine wesentliche Rolle. Der Schweiz blieb die aktive Involvierung in den ersten Weltkrieg erspart. Die USA mauserten sich zunehmend als relevanter Kriegsgewinnler (ökonomischer Art) des ersten Weltkrieges. Beiden Ländern blieb etwa auf dem linken Spektrum, eine Partei wie die KPD, erspart (so es dort ähnliches gab, war ihre Bedeutungs- und Wirkungslosigkeit vorprogrammiert). Anders aber eben in Deutschland, einem Land das nicht zu den Kriegsgewinnlern gehörte, sondern zum Gegenteil.
Hier waren, spätestens seit der Inflation, wenn nicht schon vorher, viele Orientierungslos geworden. Nutznießer dieser Tendenz war dann im besonderen die KPD, und in späteren Jahren in dezidierter Konkurrenz zu dieser, die NSDAP.

Für die sich dem Milieu der Landeskirchlichen Gemeinschaften und der Freikirchen zugehörig wissenden (wiederum mit Ausnahme der babylonischen „Grosskirchen") waren - in der Regel - weder KPD noch (mit anfänglichen später aber wieder vergessenen Abstrichen) NSDAP wählbar. Und dies primär der Gottesfrage wegen.

Kennt man etwa von der heutigen SPD die ideologische Prinzipienlosigkeit, die dazu führte, dass böse Zungen titulieren, auch die SPD ist zur halben (wenn nicht gar noch mehr) Pfarrerpartei verkommen.
So hielt es die KPD in der Frage prinzipiell anders. Ein Pfarrer der in selbige eintreten „wollte", bekam in der Regel keinerlei Chance dazu. Dieweil die KPD in der Gottesfrage eine klare Entweder - Oder-Position bezog.

Auch die frühe NSDAP muss als ziemlich ambivalent diesbezüglich eingeschätzt werden. Eine Dominierung kirchlicher Interessen gab es dort nicht. Allenfalls ein taktisches Hofieren und „Honig ums Maul schmieren". Wer allerdings genauer dorthin sah, etwa zum „Mythus des XX. Jahrhunderts" eines Alfred Rosenberg's, der erkannte nur zu deutlich die Brüchigkeit dieses „Hofierens". Und als es dann „nach Tisch" soweit war, bestätigte sich nur zu deutlich, dass diejenigen recht behalten sollten, die da schon früher prophezeit hatten. Die NSDAP taktiert in der Religionsfrage nur. Echter Interessenvertreter für deren Belange ist sie mit Sicherheit nicht.

Auch die Bibelforscher, mit ihrer prinzipiellen, vermeintlichen Politiklosigkeit, waren dabei auf dem besten Wege, in diesen Konstellationen zwischen die Mühlsteine zu geraten, was sich spätestens nach 1933 auch bestätigte.

1927 war es noch nicht so weit. 1927 waren auch sie noch Krisengewinnler, namentlich bei denen durch die Inflation Orientierungslos gewordenen Kreisen, die sich weder für KPD noch NSDAP (und Vorläufer) „erwärmen" konnten.

Eigentlich könnte Lieschen Müller vom Lande, bekannt-berüchtigt für ihren vermeintlichen „Tiefblick", doch meinen. Haben die Bibelforscher nicht dem Jahre 1925 zugejapst? Und gingen ihre Erwartungen nicht in die Binsen? Sicherlich haben sie dass. „Lieschen Müller vom Lande" lässt nur eines außer Acht. Wie schon der Volksmund zu berichten weis.
„Zuletzt stirbt die Hoffnung". Wobei noch ausdrücklich hinzugefügt werden muss. Es gibt - nicht zu knapp - auch eine männliche Variante der „Lieschen Müller vom Lande, mit ihrem berüchtigten 'Tiefblick'".

Jene die da allen Ernstes ihre Hoffnung auf 1925 gesetzt hatten. Was hatte sich denn in deren Allgemeinsituation bis 1927 „verändert"? Wohl nicht allzuviel. Waren sie in diesen beiden Jahren soweit gereift, dass sie sagen konnten. Eigentlich geht es auch ohne religiöse Opium, vielleicht sogar besser? Wohl kaum. Wer 1925 schon am Hungertuch nagte, der nagte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch 1927 noch daran.

Insofern muss die Frage lauten: Hat sich ihr sozialer Status in dieser Zeit wesentlich verbessert? Und weil das eben - in der Regel - nicht der Fall war, existierte der Humus auf dem die 1925-Blüte denn gedeihen konnte, im wesentlichen ungebrochen weiter. Insofern liegt derjenige, der wie die Schlange auf das Kaninchen, nur auf bestimmte Jahreszahlen stiert (den Satz jedoch außer Acht lässt: Das das Sein das Bewusstsein bestimmt). Insofern liegt der nur auf Jahreszahlen stierende, grundlegend schief.

Man kann diese Problematik je gerade in der Gegenwart wieder extensiv „bewundern".
Da schaukeln sich Evangelikale und Islamisten, via eines von Evangelikalen kreierten Hassvideos gegenseitig hoch.
Und die „ganz Schlauen" hierzulande kommentieren, die Islamisten hätten sicherlich kein Recht für ihre überzogenen Reaktionen darauf. Formal sicherlich richtig.
Etwas weniger formal: Zu welchem Bereich gehören denn viele der Länder, aus denen jetzt die Kunde über unliebsame Reaktionen der Islamisten kommen. Pauschal bezeichnet, zur sogenannten „Dritten Welt". Noch etwas näher bezeichnet zu den „Verdammten dieser Erde".
Wessen individuellen Lebensumstände als eher trostlos bezeichnet werden müssen, der hätte fallweise noch was zu verlieren. Seine eigene Selbstachtung. Und genau gegen diesen Verlust wehrt man sich, auch mittels anfechtbarer Methoden.
Es ist sicherlich kein Zufall das eines der größten Neokolonialistischen Länder der Neuzeit, eben die USA, im besonderen Auslöser jener Reaktionen bei den islamistischen Extremisten sind.
Haben die USA ihr Trauma des World Trade Center bereits schon wieder vergessen? Vergessen haben sie es sicherlich nicht. Aber konstruktive Lehren daraus haben sie garantiert nicht gezogen.
Und wenn man dann noch so sieht, wie ein Mit Romney in den USA, der für vieles steht. Nur für eines nicht, den sozialen Ausgleich. Der im Gegenteil bereits bestehende Gegensätze noch verschärfen will, dann sei daran erinnert.
"Kleine" Ursachen - können auch eine große Wirkung haben.
Am 23. Mai 1618 wurden in Prag drei mißliebige Personen aus dem Fenster geworfen (immerhin 17 Meter tief). Relativ glückliche Umstände bewirkten das die Opfer zwar schwer verletzt wurden, wohl aber den eigentlichen Sturz doch noch überlebten.
Es waren zwar "nur drei", aber die Folgewirkungen blieben keineswegs auf "drei" beschränkt.
Die Folgewirkungen sollten dann noch mit dem Namen versehen werden:
Dreissigjähriger Krieg!
Der Mord an dem Österreichischen Thronfolgerpaar im Jahre 1914, sollte auch noch Folgewirkungen zeitigen, welche auf den Namen Weltkrieg zu hören pflegten.
Es können also auch „kleine Anlässe" große Folgewirkungen zeitigen.
Das alles aber wollen die Mit Romney und ihre Jünger, auch hierzulande, eigentlich gar nicht so genau wissen.

Politische Kontinuitätslinie: Barry Goldwater und Mitt Romney

Auch zu dieser Kontnuitätslinie gehörende: Der unselige Herr McCarthy

Sicherlich wäre es vermessen den „Propheten" spielen zu wollen. „Tausendmal berührt und nichts passiert", textete mal ein Liedsong.
Aber auch das ist wahr: Der Krug geht solange zu Boden bis er bricht!

Noch was. Vielfach beschwert man sich hierzulande über den größeren Grad an Religiosität gerade auch in islamistischen Kreisen. Wie lange sind denn besagte islamistische Kreise eigentlich im hiesigen Kulturkreis präsent?
Doch wohl mehr oder weniger erst ab dem Jahre 1961, als die hiesige Politik der „Einfuhr von Gastarbeitern" begann, dieweil der Osten - vorher als Ausbeutungsreservoir genutzt - seinen „Laden dicht gemacht hatte".
Das sind dann mal gerade - etwa - fünf volle Jahrzehnte, auch von Mitbürgern die islamistisch geprägt sind. Das ist in geschichtlicher Dimension ein unbedeutender „Klacks".
Die Religiosität die etwa zu Zeiten eines Martin Luthers herrschte, und die heutzutage weitverbreitete „Kulturchristenmentalität" (Gott ist ein guter Mann und das war es dann) sind wohl auch kaum zu vergleichen. Auch da hat eine schleichende Erosion zu lasten der Kirchen stattgefunden. Trotz dieser Erosion existieren die sogenannten Großkirchen bis heute weiter.
Warum sollte die Sachlage ausgerechnet im islamistischen Bereich, so viel anders sein. Auch da wird es - zumindest hierzulande unter pluralistischen Rahmenbedingungen - mal eine schleichende Erosion geben. Ob sie unsereins noch miterlebt, kann man zwar berechtigt anzweifeln. Aber prinzipiell wird es sie geben. Nur geht das etlichen bereits säkularisierten Zeitgenossen alles zu langsam.
Gerade die Geschichte der Zeugen Jehovas kann doch lehren, wozu Fanatismus religiös geprägt, fähig ist.
Im 1950er Zeugen Jehovas Prozess, soll einer der zu lebenslänglich verurteilten, den Richtern kommentierend den Satz ins Gesicht geschleudert haben:
„Meine Herren - sie meinen wohl ein Jahr".
Nein, besagte Herren meinten keinesfalls nur „ein" Jahr, und die letzten dieser Verblendeten, sofern sie überlebten, konnten erst Mitte der 1960er Jahre als gebrochene Menschen, die Gefängnismauern wieder verlassen. So gebrochen, dass die WTG bis heute, weder über einen Friedrich Adler noch einen Willi Heinicke, einen Jubelbericht publizierte, wie sie es vom Prinzip her, gern getan hätte. Dieweil es nämlich nichts zu „jubeln" gibt!
Religion hat ein zähes Leben, dass schon so mancher unterschätzt hat. Man kann letztendlich nur auf den Faktor Erosion hoffen. Dazu sind aber auch Rahmenbedingungen notwendig, nicht zuletzt auch ökonomischer Art, die selbige begünstigen. Gibt es diese Begünstigung nicht, ist alles jammern über eine „Steinzeitreligion" vergeblich!

Zurückkommend zum eigentlichen Thema:
Die soziale Gemengelage war also in Deutschland des Jahres 1927 für die Russell/Rutherford-Religion, durchaus noch günstig. Jedenfalls erheblich günstiger, als zur gleichen Zeit in den USA.
Allerdings holte diese Proletenreligion, just zu der Zeit auch massiv in den USA auf. Als wesentlichen Faktor, darf man dort, durchaus die Verwendung des Radios bewerten. In der Frage hingen ja bekanntlich in Deutschland, die Trauben ziemlich hoch, in unerreichbaren Höhen. Das war in den USA in der Tat anders. Und das sahen wohl auch die Rockefeller und Co dort so, die ja schon traditionell in Religion als geeignetes Volksverdummungsmittel, zu investieren pflegten.

Eine Offenlegung ihrer Kassenbücher, für Nichtbejubler, erfolgt ja seitens der WTG prinzipiell nicht. Aber das da zu der Zeit erhebliche Geldmengen für die Radioforcierung zur Verfügung standen, ist auf dem Indizienwege, unschwer zu erkennen.

Das Jahr 1927 kann man in Deutschland vielleicht auch als das Jahr bezeichnen, indem erstmals in größerem Umfange, auch die Tagespresse von den Bibelforschern Kenntnis nahm. Nun braucht man sich wahrlich nicht zu wundern. Ist dieser Zustand erst mal erreicht, findet man das auch genüsslich in der eigenen Zeitschrift „Das Goldene Zeitalter" mit zelebriert. Und genau so ist es denn auch abgelaufen. Besonders die GZ-Ausgabe vom 15. 9. 1927, kann man als solch eine „Jubelausgabe" bezeichnen. Liest man in der selbigen doch unter anderem:

Augenblicklich steht Toronto im Zeichen einer großen Bibelforscher-Konferenz, zu der sich mehr als 8000 Delegierte aus allen Teilen der Vereinigten Staaten Amerikas und Canadas zusammengefunden haben. Im Automobilverkehr der Stadt treten überall die Autos der Bibelforscher - in besonderer Weise durch Abzeichen kenntlich gemacht - hervor. Vor der eigentlichen Versammlungshalle, in der die Konferenz stattfindet, halten beständig mehrere 100 Bibelforscher-Automobile. Die größte Halle der Stadt, dass Coliseum im Ausstellungsgelände, ist am Eröffnungsmorgen der Konferenz gut besetzt. Der Bürgermeister Stadt begrüßt die Konferenzteilnehmer im Namen der Stadt und bezeugt, dass dies die größte christliche Konferenz sei, die je in Toronto stattgefunden habe.

Dieser Vortrag Richter Rutherfords hat eine Verbreitung über die ganze Welt gefunden, wie sie nie ein anderer Vortrag gefunden hat und zwar mittels Radio. Durch vertragliche Verbindung mit den meisten Radiostationen Amerikas wurde dieser Vortrag über 53 Radiostationen weitergegeben.
Die Presse Amerikas und Kanadas berichtete, dass es das erste Mal sei, dass ein Vortrag eine solche Verbreitung fand wie dieser. Selbst die bedeutendsten Vorträge des Präsidenten der Vereinigten Staaten haben keine so umfassender Verbreitung gefunden wie dieser Vortrag. Acht Tage dauerte diese Konferenz.

Und dann jubelt das „Goldene Zeitalter" weiter:

Hauptversammlung der Bibelforscher in Berlin
„So etwas hat Berlin noch nicht gesehen!"
So scheint es selbst aus den verschiedenen Berichten der großen Berliner Presse hervorzugehen, die die Meldungen über die große Bibelforscherkonferenz vom 27 bis 29. August im Sportpalast brachte. 10 bis 12.000 Vertreter waren anwesend aus allen Teilen des deutschen Landes, und außerdem Vertreter aus der Schweiz, Österreich, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Amerika.

(anonymer Pressebericht) Die Literatur der Bibelforscher hat schon eine enorme Verbreitung erfahren. Wir uns von gut unterrichteter Seite mitgeteilt wird, wurden allein in Deutschland über 12 Millionen Bücher Bibelforscher verbreitet, und die Bücher Richter Rutherfords allein haben in den letzten sieben Jahren eine Verbreitung von 30 Millionen über die ganze Erde gefunden. Dies sind Zahlen, die wohl von keiner zweiten Bewegung aufzuweisen sind."

Und zum inhaltlichen vernimmt man:

Richter Rutherford sagte, er wisse nichts über die deutsche Geistlichkeit persönlich zu sagen, aber er wisse, dass in diesem Sinne die Geistlichkeit Amerikas ganz entgegengesetzt den Grundsätzen der Bibel gehandelt habe, und dass deshalb überall, wo ähnliches geschehen sei, die Geistlichkeit Schuld trage dafür, dass die Bibel mit ihren Forderungen: Du sollst nicht töten nicht beachtet wurde und der schreckliche Krieg kam.

Er sagte, dass ein hervorragender Geistlicher Amerikas, Dr. Hillis, einer der schlimmsten Kriegshetzer für den Eintritt Amerikas in den Krieg gegen Deutschland gewesen sei und dies auf Bezahlung durch den amerikanischen Banktrust. Richter Rutherford trat öffentlich dagegen auf und erklärte, dass die Hetze der Geistlichkeit für den Krieg ein schlimmes Unrecht sei. Dies trug ihm den Hass der Geistlichkeit ein und diese richtete eine Petition an die Regierung mit den Ersuchen, ihn zu töten. Dies ist ihnen allerdings nicht gelungen, aber es gelang ihnen, ihn wegen seines Glaubens an die Bibel, und weil er für Wahrheit und Gerechtigkeit eintrat ins Gefängnis zu bringen.
Aber auch nach dem Krieg war dieser Geist noch nicht beendet, und setzte genannter Geistlicher sein hetzerischer Tätigkeit fort, er veröffentlichte einen Artikel, in dem es heißt, dass 10 Millionen Deutscher kastriert werden müssten, um - diesen Ausdruck gebrauchte er - diese ganze Brut auszurotten.

Der Wermutstropfen im Jubelgesang

Vor der Tür des Sportpalast wurden vom Evangelischen Preßverband herausgegebene Pamphlete verteilt, in welchen die bekannten
Unwahrheiten P. Bräunlichs
aufgewärmt wurden. Wir haben erfahren, dass es zwecklos ist, P. Bräunlich selbst zu ersuchen, seine Unwahrheiten zu berichtigen, da er trotz unserer Berichtigung es nicht tut, sondern weiter verleumdet. Der evangelische Presseverband mag stolz sein auf diesem Kampfgenossen. Weil aber immer aufs neue seine Unwahrheiten verbreitet werden, erklären wir bei dieser Gelegenheit erneut, dass seine Kombinationen, die Bibelforscherbewegung trage den gleichen Charakter wie der
Taxilschwindel,
oder Bibelforscher seien Religionsspötter und Vorboten des Bolschewismus, oder, der Leiter der deutschen Bibelforscher habe an der Kieler Matrosenrevolution teilgenommen und ähnliche Behauptung mehr, aus der Luft gegriffene Erfindungen (nur der Anstand verbietet uns das Wort „Lügen" anzuwenden) des Herrn P. Bräunlich sind. Wenn man die Bibelforscher mit solchen persönlichen Verunglimpfungen und Schmähungen zu verleumden sucht, weiß man nur, dass man ihnen geistig nicht gewachsen ist. Was die Bibelforscher gebrauchen, ist die Bibel, ihre Gegner gebrauchen die Verleumdung.

Weiter in GZ-Bericht

Fast alle großen Zeitungen Berlins brachten Spaltenlange Berichte.
Berliner Morgenpost Nr. 207 vom 30.8.1927
Vossische Zeitung Nr. 207 vom 30.8.1927
B. Z. am Mittag Nr. 228, vom 30.8. 1927
Berliner Volkszeitung Nr. 408 vom 30.8. 1927

Die WTG zitiert zwar genannte Presseartikel, aber doch eher selektiv.
Nachstehend seien selbige noch (kommentarlos) dokumentiert:

Berliner Morgenpost
Dienstag, 30. August 1927 S. 3:

„Ernste Bibelforscher
Massenversammlung im Sportpalast
Die Internationale Vereinigung ernster Bibelforscher, die seit ungefähr fünf Jahren in Deutschland festen Fuß gefaßt hat, hielt ihre Jahres-Heerschau im Sportpalast ab, die gestern Abend mit einem Vortrag ihres geistigen Oberhauptes, des Richters Rutherford aus New York, abschloß. Die große Halle war bis auf den letzten Platz gefüllt, und eine scharfe polizeiliche Absperrung mußte einsetzen, um Tausende und Abertausende fernzuhalten. Selbst der große Hof vor dem Gebäude war dicht mit Menschen gefüllt, die vergebens hofften, Einlaß zu finden.

Die Bewegung, deren Sprecher Rutherford ist, und die durch wörtliche Auslegung der Bibel den Beweis zu führen sucht, daß wir am Beginn des tausendjährigen Reiches stehen, ist nicht neu. In allen Zeiten, in denen die Menschen durch große Leidensperioden, wie sie der Weltkrieg mit sich gebracht hat, geschritten ist, tauchten die Verkünder des bevorstehenden Reiches Gottes auf und fanden Zuspruch von Tausenden.

Der große Saal, der mit den blau-weiß-gelben Fahnen der Vereinigung und mit Bibelsprüchen geschmückt war, machte einen festlichen Eindruck, als Richter Rutherford die Rednertribüne bestieg und seine Ansprache in englischer Sprache hielt, die Satz für Satz ins Deutsche übersetzt wurde und so unmittelbar wirken konnte. Rutherford ist ein glänzender Redner, der seine Gemeinde zu fesseln und zu bewegen versteht. Jede seiner Behauptungen belegte er mit Bibelzitaten. Jetzt sei die Zeit gekommen, von der alle Propheten reden. Nun habe der Kampf Aller gegen Alle begonnen, von dem die Heilige Schrift spreche.

Es war ergreifend auch für die, die Rutherfords Gedanken nicht zu folgen vermögen, als der geschickte Redner am Schluß seiner Ausführungen die Frage an die Versammelten richtete, ob sie nicht für eine Regierung des Rechtes, eine Regierung der Verbrüderung, eine Regierung, die keinen Unterschied, keinen Krieg und keine Arbeitskämpfe kenne, eintreten wolle, und sich die zehntausend, die den Sportpalast füllten, wie ein Mann erhoben. Gleichzeitig setzten die geschickt verteilten Chöre der Gläubigen ein, und machtvoll schall das „Lobe den Herrn" von geschulten Stimmen gesungen durch die Halle.

Richter Rutherford erklärte nach der Versammlung unserem Mitarbeiter, daß er seit sechs Jahren, als er nach dem Krieg nach Deutschland gekommen sei, mit großer Sorgfalt gerade den Aufbau der deutschen Gemeinden verfolgt habe. Er habe in Magdeburg, der deutschen Zentrale der Bibelforscher, eine große Druckerei für 100.000 Dollar gebaut, die über eine eigene Radiostation verfüge

[Einfügung: Bezüglich der Radiostation hat der Journalist da offenbar etwas in die falsche Kehle bekommen],

und die seine Druckschriften mit der frohen Botschaft, die er zu verkündigen habe, in Hunderttausenden von Exemplaren vertreibe. Dreißig Millionen seiner Bücher hat Richter Rutherford umgesetzt. Jedenfalls ist seine Organisation eine ganz hervorragende. Daß die evangelische Kirche sie ernst zu nehmen beginnt, geht daraus hervor, daß sie vor dem Sportpalast durch Flugblätter eine starke Gegenpropaganda machen ließ, in der die Bibelforscher scharf angegriffen werden.

Vossische Zeitung
Dienstag, 30. August 1927 S. 2:

Das Reich der Gerechtigkeit
Die Bibelforscher im Sportpalast
Drei Tage lang hat die „Vereinigung der Bibelforscher" unter ihrem Präsidenten, dem amerikanischen Richter Rutherford, in Berlin verweilt. Die Bibelforscher betreiben nicht die gottlose Kunst historischer und philologischer Kritik, die uns die heiligen Schriften als Werk von Menschen und entstanden unter menschlichen Bedingungen darstellen möchten, sondern im Gegenteil, sie zweifeln an keinem Buchstaben und durchforschen die Bibel nach Prophezeiungen, die das Reich Gottes und seine nahe Heraufkunft verkünden.

Gestern abend hielten sie eine öffentliche Werbeversammlung im Sportpalast ab. Wieviel Personen faßt der Sportpalast? Sagen wir: 10.000. Zehntausend Personen füllten ihn bis auf den letzten Platz, und ebenso viele, wenn mann Richter Rutherford glauben darf, warteten draußen vergebens auf Einlaß.
Inmitten des überfüllten Saales, unter mächtigen weißen Schildern, die in blauer Schrift die hoffnungsvollen Worte: Frieden, Leben, Glück, Liebe, Treue, Freiheit, Gesundheit, Wohlfahrt zeigten, behütet von Ordnern, die einander „Bruder" nannten, hielt Rutherford seine Rede in den Lautsprechern, so daß man ihn bis in den letzten Winkel verstand, auf Englisch, wobei aber jeder Satz von einem Herrn neben ihm sogleich übersetzt wurde.

Man erfuhr aus seinem Munde mancherlei über ihn selbst. Wenn man ihm glauben darf, so hat sich Richter Rutherford in Amerika für Deutschland gegen Amerikas Kriegsbeteiligung eingesetzt, und ist dafür mit Gefängnis bestraft worden. Er hat es sich mit seinen Freunden zur Aufgabe gemacht, das Reich Gottes unter den Menschen zu verkünden, und tat es, ohne Geld dafür zu nehmen. Auch seine Schriften vertreibt er ohne Gewinn, nur zum Selbstkostenpreis, und es ist ihm gelungen, im Laufe der Jahre ihrer dreißig Millionen abzusetzen. Wenn man Richter Rutherford glauben darf.
Und was wußte er den zehntausend Hörern zu verkündigen? Das Reich Gottes, das Reich der Gerechtigkeit, wie es die Bibel alten und neuen Testamentes an vielen Stellen verspricht, darin es keine Ungerechtigkeit, keine Not, keinen Krieg, wohl aber Glück, Gerechtigkeit und Frieden geben wird.

Er beruft sich zum Beweise dieser Verkündigungen auf Bibelstellen, die er nach Kapitel und Vers angab, und es fanden sich im Publikum nicht wenige, die das heilige Buch bei sich führten und sogleich nachschlagen. Ohne Zweifel haben sie festgestellt, daß an den angegebenen Stellen genau das stand, was vorgelesen wurde, und der Referent, der keine Bibel zur Verfügung hatte, zweifelt nicht, daß Richter Rutherford in diesem Punkte Glauben verdient.

Das Reich Gottes, das die Bibel verheißt, ist nichts Neues. Neu ist, daß eben jetzt, wenn man Richter Rutherford glauben darf, die Prophezeiungen der Bibel begonnen haben, in Erfüllung zu gehen. Mit dem Ausbruch des Weltkrieges hat es angefangen, ist genau nach der Bibel mit Pestillenz, Hungersnot und Erdbeben weiter gegangen und wird damit enden, daß die Herrschaft des Messias mit ihren Segnungen beginnt. Ja, Millionen von denen, die heute leben, werden, weil sie das Reich Gottes noch erleben, niemals sterben.

Zehntausend hörten sich die Botschaft an, sangen ergriffen den ehrwürdigen Choral „Lobet den Herrn" und dankten im Gebet Gott dafür, daß die Herrschaft des Messias so nahe bevorsteht. Es sah so aus, als glaubten sie dem Richter Rutherford. Hoffentlich darf man ihm glauben,
Inquit

(Repro aus dem digitalisierten Zeitungsbestand der Berliner Staatsbibliothek)

B. Z. am Mittag
Dienstag, 30. August 1927 S. 3
Christian Bouchholtz

„Millionen jetzt Lebender werden nie sterben!"
Das Bibel-Meeting im Sportpalast
Der Amerikaner, Richter J. F. Rutherford, spricht vor 15 Tausend Berlinern im Sportpalast
Was ist los?
Riesenrote Plakate schreien an Litfasssäulen:
Rutherford spricht im Sportpalast. Sein Bild prangt. Worüber will er sprechen? Man weiß es nicht genau. Vage Andeutungen, daß man in der ganzen Welt wieder zum Krieg rüstet und daß deshalb alle Regierungen der Welt gestürzt werden müssen. Das „goldene Zeitalter" beginne ...
Die Berliner haben zu Tausenden von Malen diese Worte schon von den Litfasssäulen läuten hören, und immer waren es Glocken ohne Klang, die nicht einmal soviel Menschen locken konnten, daß ein kleiner Saal gefüllt wurde. Aber diesmal?

Der Sportpalast war zur Zeit der größten Boxkämpfe, der Sechs-Tage-Rennen, der Böse-Buben-Bälle noch nie so überfüllt, wie bei dieser Predigt. 15.000 Menschen in der Riesenhalle. Vor dem Sportpalast Tausende, die nicht mehr hineinkommen. In Scharen stehen sie da. Strenge Polizeisperrkette.

In den Seitenstraßen Lastautos voller Schupo in Bereitschaft,
Unter die Scharen, die herumstehen, werden Flugblätter verteilt:

„Aber mit den Russell- und Rutherford-Nachbetern wollen wir nichts zu tun haben."
(Herausgegeben von dem evangelischen Preßverband Deutschlands).

Die Gegenpropaganda ist schon da. Auch die Heilsarmee rüstet sich schon, heißt es.
Was ist denn plötzlich in die Berliner gefahren, daß sie in solchen Massen die Sportpalast-Kirche stürmen, um die neuen Lehren der „Ernsten Bibelforscher" in sich zu saugen?

Das evangelische Flugblatt klingt beinahe defensiv:

„Die ev. Kirche bedarf dieser verwirrenden amerikanischen Sekte nicht. 165.000 hilflose Kinder finden in ihren 3800 Heimen liebevolle Aufnahme. 1900 Kranken- und Pflegeanstalten, 950 Altersheime, 35.000 Diakonissinnen."

Passiert man als Pressevertreter, heiß beneidet, den Polizeikordon, kommt man auf den geräumten Vorhof. Plakate an Mauern und Baumstämmen. I, II, III usw. In Abteilungen sind die Gläubigen der Gemeinden Stettin, Stendal usw. erschienen, tragen beim Hinausgehen Plakate mit dem Namen der Stadt hoch.

Lastautos stehn da. Ein halbes Dutzend. Darauf Plakate „Das Goldene Zeitalter". Sie kommen aus Magdeburg, wo die Zentrale der „ernsten Bibelforscher" eingerichtet ist. Über dem Portal prangt ein Leuchtgebilde: Weltkugel - Goldkrone - schief hineingesteckt ein Kreuz-Symbol. Das Kreuz wird die Herrschaft über den Erdball führen.

Drinnen: Überwältigender Anblick. Nicht ein Platz mehr zu haben. Riesenhaft der Hintergrund drapiert in Gelb, Blau, Weiß um das hohe Podium, das mit Blumen überreich geschmückt ist.
Ein großes Orchester. Auf den Galerien Chöre.

Die Ordner - Hunderte - tragen alle das Symbol der ernsten Bibelforscher im Knopfloch.
Dort ferne, nicht erkennbar, stehen Richter Rutherford und sein Dolmetscher hinterm Mikrophon. Und in allen Winkeln des Riesensaals hört man sie sprechen, den Amerikaner und seinen Übersetzer, durch die Lautsprecher. Immer wieder die Zitate:
„Hesekiel 2, Vers 3" und „Matthäus 11 Vers 11" und „Moses 4, Vers ..."

Und von den Galerien strahlen die Riesenworte: „Freiheit", „Gesundheit" - „Wohlfahrt" - „Frieden" - „Leben" - „Liebe" - „Gerechtigkeit" - „Treue" und. „Das Ersehnte aller Nationen wird kommen!" Und: „Und der Tod wird nicht mehr sein" - Offenb. 21, Vers 4.

Rutherford spricht. Man kann zwischendurch Erfrischungen zu sich nehmen, Schokolade, Minza, Himbeer, sogar schäumendes Bier. Aus Zerstäubern wird Fichtennadelduft gespritzt.
Packend ist der Vortrag nicht. Kühl-sachlich spricht er. Fast Gemeinplätze. Nur ab und zu blitzt es durch, aber so fernher und donnerlos, daß man sich nicht fürchtet.

Jedoch was ist die Lehre?
Sie stammt von C. T. Russell, der 1916 im Schlafwagen eines Expreßzuges in Amerika starb.
Sein Erbe übernahm Rutherford, der Richter, der vor allem ein Propagandaagent ist. Viele Millionen schwören in Amerika auf ihn. Er hat acht Funkstationen, von denen aus er zu seinen Gläubigen spricht.
Seine Thesen: Das goldene Zeitalter ist da! Das 1000jährige Reich des auferstandenen Christus ist seit 1874 in der Welt, Christ unter uns. Millionen heute Lebender werden nicht sterben. Nieder mit allen Regierungen von heute, mit allen Kirchen von heute. Es gibt keine Hölle. Im Himmel sind auch keine Toten. Es gibt keine Seele. „Ist es vernünftig, anzunehmen, daß Gott einem Geschöpf einen Asbest-Leib gibt, damit es ewig gebrannt werden kann?" Aber diese gefährlichen Dinge stehen erst in den Büchern, die er in einem Lastauto-Zug herangebracht hat.
Schluß der Predigt:

„Und wenn Sie jetzt eine Regierung fänden, unter der Sie dauernden Frieden, dauernde Glückseligkeit, dauernden Wohlstand, Gerechtigkeit, Gesundheit hätten, so daß Sie nicht sterben würden, würden Sie nicht mit Freuden für eine solche Regierung stimmen? Wer für sie stimmen würde, der stehe auf!!"

Und - 15.000 Berliner stehen auf!
Darauf spielt das Orchester: Großer Gott, wir loben dich. Der Primgeiger dirigiert mit Fidelbogen und Geige. Und dem Prediger wird - zugeklatscht! Und er nimmt das Taschentuch und winkt.

Gläubige bilden dann einen Kordon um ihn. Ich durchbreche den Kordon. Spreche mit dem hochgewachsenen, schwarzgekleideten Mann, dem ein Monokelband über die Hemdbrust geht. Er ist entzückt von seinem Empfang in Berlin. Er sagt:

„Deutschland ist das beste Land von ganz Europa, sonst hätte es sich nicht so rasch erholt."

300.000 Mark haben sie jetzt für Propaganda ausgegeben. (Mit dem Verkauf der Bücher dieses bestbezahlten Schriftsteller-Propheten mit den acht Funkstationen und mit der Zeitschrift „Das goldene Zeitalter" werden sie wieder hereinkommen.
Er geht jetzt nach Dänemark. Wird er auch Dänemark für das beste Land Europas erklären? Aber kann man einem Mann böse sein, der einem das Paradies auf Erden verspricht, das goldene Zeitalter, ewiges Leben und alles, was es sonst an lieblichem sonst gibt. Mitnichten.

Berliner Volks-Zeitung
[Einfügung. Chefredakteur selbiger Otto Nuschke. In einer späteren Phase seiner Biographie (DDR), dort noch als Alibi-Aushängeschild, stellvertretender Ministerpräsident, und auch für Kirchenfragen mit zuständig (auf dem Papier) das allerdings nicht das Wert war, was es denn vielleicht gekostet hat. Ende der Einfügung]
Dienstag, 30. August 1927, Morgen-Ausgabe
Robert Fischer

Run zu Rutherford
Achtzig Jahre Zuchthaus - Das Wort an den deutschen Arbeiter - Kapital und Kirche. Die Zeit der letzten Prüfung - Viele Tausende wollen ihn im Sportpalast hören. Schon einmal war der Richter J. F. Rutherford, Präsident der Internationalen Bibelforscher, auf einer Inspektionsreise in Europa. Vor sieben Jahren. Damals konnte er keinen Paß nach Deutschland erhalten. So organisierte er von Bern aus den europäischen Zweig der I.V.E.B. und gründete mit dem Sitz in Zürich ein Zentraleuropäisches Bureau, des Jurisdiktion die Vereinigungen in Frankreich, in der Schweiz, in Belgien, Holland, Österreich, Italien, Deutschland unterstehen sollten. Jetzt aber ist er in Berlin, um einmal zu den Gliedern seiner Vereinigung zu sprechen. Etliche Stunden vor seinem Vortrag gewährt er ein Interview.

Der erste Eindruck. Ein Hüne von Erscheinung, breitschulterig, nicht übermäßig herkulisch, echt amerikanischer Typ. Im diametralen Gegensatz die Stimme, in welche wohl nie die Härte kam, weich das Wort, weich die Gesichtszüge, weich die Augen im eigentlichen Glanz. Kein Reformator aus unruhigem Blut, kein Feuerkopf, kein kriegerischer Geist. Gleich das erste Wort bestätigt das.

„Man hatte mich zu achtzig Jahren Zuchthaus verurteilt, weil ich nicht in die Kriegspropaganda einstimmen wollte, als Amerika der Entente zur Seite sprang."

Den widerlichsten Prozeß hat man ihm damals gemacht, mit den gemeinsten Mitteln, ihm und sieben Mitarbeitern. Und hat sie doch wieder freigelassen, nach neun durchbüßten Monaten, als der Krieg beendet war.
Auch das erzählt er ruhig, unter der Begleitung eines feinen Lächelns, als sollte es zeigen, wie leid ihm die Menschen tun, die nicht anders als in den Gedankengängen Krieg und Zuchthaus denken können.

„Das ist das Lebenswerk für die Armen zu schaffen. Von den Regierungen kommt ihnen keine Hilfe. Auch von den Kirchen nicht Wohl steht die Wahrheit in der Bibel. Aber die Priester lehren sie nicht. Sie lehren lediglich die Politik."

„In Amerika stehen die Prediger in Verbindung mit den Bankiers. Dr . Hillis, einer ihrer bekanntesten Sprecher hat in den Krieg mit Deutschland gehetzt und die American Bankers Association hat ihn dafür bezahlt. Ich bin nicht dafür!"

Und - wer weiß, welche Ideenverbindung ihm das eingab -
„Die Deutschamerikaner sind gute Bürger. Die Deutschen sind die besten Bürger!"

Das ist kein Kompliment gegen das Land, dessen Boden er betrat. Bestimmt nicht. Das ist so echt, gerade so - wie seine Traurigkeit über die amerikanischen Priester. Und er läßt nur einen Abschnitt Hillischen Geistesgutes abschreiben, das eine einzige Gemeinschaft ist, so pervers, daß man ihn keinem Papier anvertrauen kann.
Inzwischen sagt mir Paul Balzereit, wie es heißt, ein ehemaliger Werftarbeiter, nun Leiter des deutschen Zweiges der I.V.E.B., ein Wort für den deutschen Arbeiter.

„Sie sollten erkennen, daß die Bibel das wichtigste Mittel in ihrem Kampfe ist. In ihr finden sie ihr verbrieftes Recht. Es gibt keine Forderung, die sie erheben und die sie nicht auf ein biblisches Zeugnis stützen könnten. Es ist die weiseste Politik der Führer, den Massen immer wieder vor die Augen für führen. Der deutsche Arbeiter sucht etwas Höheres, etwas was ihn erhebt. Dieses Suchen treibt ihn stetig in die Arme der Kirche zurück, aber wie er sagt" - und Balzereit deutet auf Rutherford - „die Priester bringen die Politik, nicht die Bibel."

Dann gibt er Rutherford ein letztes Wort.

„Die Erde ist für alle Menschen, nicht nur für einige. Das Werk der Bibelforscher wird erst vollkommen sein, wenn sich alle Verheißungen erfüllt haben."

So scheidet man von einem Menschen in dem Bewußtsein, daß er seine Kräfte einsetzen will an die Genesung einer ganzen Welt. An eine Genesung „von innen heraus" - wie er sagte.
Die Ideen, welche Rutherford propagiert, liegen klar. Dem einen sind sie Evangelium, dem anderen erscheinen sie interessant. Bleibt Streitfrage, Streitfrage, so steht doch fest, daß hier ein Mann am Werke ist, der unbeirrt sein Ziel verfolgt. Und das bedeutet heute manches.

Um halb acht vor dem Sportpalast. Der Vortrag ist für acht Uhr angesetzt. Fährt von Kampen sechs Tage und sechs Nächte über die Bahn, geht Breitenströter über zehn Runden, ist es schlimm.
Heute spricht Rutherford. Heute ist es schlimmer.
Der Sportpalast ist überfüllt. Zehntausend Personen faßt er normalerweise, mehr haben Einlaß gefunden. Man schüttelt den Kopf, wie das möglich ist. Vor den Türen staut sich die Masse, die keinen Einlaß mehr finden kann. Im Vorhof drängen sich die Menschen. Straßenwärts hat die Schupo alle Not, die Türen geschlossen zu halten. Noch immer strömen die Massen. Kurz nach acht sind es noch einmal Tausende, die zu Rutherford wollen.

Traktate werden in verschiedenster Fülle verteilt. Die Ernsten Bibelforscher mit ihrem blauweißgelben Abzeichen treiben gute Propaganda.

Man rührt und rührt sich nicht, weiß, daß im Sportpalast Lautsprecher aufgestellt sind. Nun fordert man, daß die Rede auch nach außen übertragen wird. Indessen beginnt Rutherford, es geschieht nichts.
Inzwischen hat auch der Häusser-Anhang sich eingefunden und versucht, aus der Menschenansammlung Kapital zu schlagen.
Drinnen redet Rutherford:
1914 hat das Unglück begonnen, das „Ende der Welt" aus der Absicht Gottes, den Menschen die Bosheit zu zeigen; auch 1918 bedeutet kein Ende, der Völkerbund, die Delegaten reden vom Frieden, aber England, Frankreich und Amerika rüsten. Das ist die letzte Prüfung. Was dann kommen wird, ist goldene Zukunft. Rutherford belegte das mit Bibelstellen; ob überzeugend, sei dem Urteil des Einzelnen anheimgegeben.
Die Ernsten Bibelforscher haben eine Chance gehabt. Wie wird sie ausschlagen?

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