Der vorangegangene Jahrgang   1913

Vor (mehr als) 50 Jahren

Was 1914 Wahrheit war

Selbstaufopferung für den Moloch Organisation

Schon in der ersten "Wachtturm"-Ausgabe des Jahres 1914 verdeutlicht die WTG ihren Kurs. Das Mittel dazu ist die Veröffentlichung von Leserbriefen und ihre Kommentierung. So wird ein solches Schreiben mit den Worten zitiert:

"Der Bruder, der uns schrieb, sagte, daß er Landwirt sei, und daß, wenn es sicher sei, daß die Kirche (Herauswahl) vor Oktober 1914 vollendet sein wird, oder daß die große Zeit der Drangsal unmittelbar nach dem Zeitpunkt beginnen wird, er im Hinblick auf jedes dieser Ereignisse dazu neigen würde, die Landwirtschaft aufzugeben und das Jahr in der Kolportage zuzubringen, weil ihm dazu die genügenden Geldmittel verbleiben würden, wenn er sein Besitztum verkaufen oder Hypotheken auf dasselbe aufnehmen wollte.

In unserer Antwort sagten wir dem Bruder, daß wir, wenn er eine Frau oder Familie hätte, für deren Unterhalt er verantwortlich wäre, sein Vorhaben nicht als klug erachten könnten, daß dagegen, wenn er ohne Anhang dastände, nach unserm Dafürhalten sein Gedanke sehr gut wäre. Er würde dem Werke des Herrn nur ein Jahr widmen, und er könnte hoffen, am Schlusse des Jahres vom gesundheitlichem Standpunkt aus jedenfalls fähig zu sein, sein Brot nötigenfalls auf irgend eine Weise zu verdienen. Wir glauben, daß ein in der Kolportage verbrachtes Jahr sich als eine ausgezeichnete Schulung im Ausharren, in der Selbstverleugnung und im Dienste für andere erweisen dürfte."

"Es ist alles so nicht gemeint gewesen"

Noch eine auf Leserbriefe berührende Stellungnahme sei aus jenem Wachtturm-Jahrgang zitiert (1914 S. 7):

"Unsere Behauptung in der Wachtturm-Nummer vom Dezember vorigen Jahres, daß wir den Oktober 1914 niemals als einen unfehlbar gewissen Zeitpunkt bezeichnet hätten, sei es in bezug auf das Ende der 'Zeiten der Nationen', oder sei es hinsichtlich irgend eines besonderen Geschehnisses, ist seitens unserer Leser in Frage gezogen worden. Man weist uns hin auf die folgenden Worte in den Schriftstudien (Band 2, Seite 83) 'Nun behalte man das für den Anfang dieser Zeiten der Nationen gefundene Datum - nämlich 606 v. Chr. - im Sinne, während wir darangehen, den Beweis zu erbringen und zu untersuchen, daß ihre Länge 2520 Jahre beträgt und mit dem Jahre 1914 zu Ende geht.' ....

Ferner werden wir auf die Stelle Band 2, Seite 95 hingewiesen: 'Im Hinblick auf diesen starken biblischen Beweis in betreff der Zeiten der Nationen betrachten wir es als eine feststehende Wahrheit, daß das schließliche Ende der Reiche dieser Welt und die volle Herstellung des Königreiches Gottes um 1914 vollzogen sein wird.'

Wir vertreten den Standpunkt, daß nichts in diesen Zitaten die Unfehlbarkeit der Theorien dartut, die wir in bezug auf 1914 angeführt haben. In diesen Darlegungen haben wir, wie in allen andern, unsern Lesern lediglich Kenntnis gegeben von unsern Ansichten und von unsern Schlußfolgerungen in bezug auf die Heilige Schrift, auf die wir die Aufmerksamkeit lenkten. Wir haben daher jeden Leser aufgefordert, für sich selbst zu denken und zu urteilen und mit uns in seiner Beurteilung der Tatsachen übereinzustimmen oder auch nicht. Man beachte, daß wir in den obigen Ausführungen keine dogmatische Behauptung enthalten ist, daß vielmehr der Leser aufgefordert wird, nach seinem eigenen Verständnis zu urteilen"

"Kasino zur Glückseligkeit"

Diese Überschrift wäre meines Erachtens durchaus für das Wirken der Zeugen Jehovas angemessen. In einer Welt, in der es in der Tat mehr als genug Defizite gibt, auf allen Ebenen. In einer Welt, die in den letzten hundert Jahren zwei mörderische Weltkriege erlebte und noch einiges mehr. In einer solchen Welt ist es nur zu verständlich, dass der Ausruf der bedrückten Kreatur nach der "heilen Welt" besteht. Es gibt allerdings nicht nur die religiöse Variante der Suche nach "Glückseligkeit". Auch säkulare Formen davon lassen sich benennen. Eine davon wäre zum Beispiel das Spielkasino mit seinen Roulett-Tischen. Verbleiben wir einen Moment bei diesem Beispiel. Theoretisch kann auch dort der große Gewinn locken. Praktisch ist auch dort erst einmal ein Einsatz notwendig. Und praktisch wird das Spiel vom Croupier beherrscht der zu möglichst immer höheren Einsätzen animiert. Dann rollt die Kugel. Und vielleicht gibt es Gewinner. Vielleicht auch nicht. Einen Gewinner gibt es in jedem Fall. Das ist der Kasinobetreiber. Gesetzt den Fall, es gibt unter den Spielern auch mal einen Gewinner. Das soll ja vorkommen. Damit er aber dieses sein kann sind um so mehr Verlierer notwendig. Sonst geht die Rechnung nicht auf.

Wie sieht es diesbezüglich bei Jehovas Zeugen aus? Bei ihrem Roulettespiel? In der Tat mag es da auch einige Gewinner geben. Beispielsweise Älteste, die Führungspositionen bekleiden, die vielleicht gar als "gefeierte Vortragsredner" gelten, deren bürgerliche Sozialisation ihnen aber normalerweise einen solchen Status nicht zubilligen würde. Bei den Zeugen Jehovas hingegen "sind sie was". Sie mögen sich in der Tat als Gewinner in diesem Roulettspiel betrachten. Noch eine vergleichende Beobachtung kann man machen. Auf beiden Spielebenen ist registrierbar, dass es eine nahezu magische Kraft gibt, die es den Spielern nur sehr, sehr schwer ermöglicht, die Notbremse zu ziehen und auszusteigen. Immer höhere Einsätze werden gefordert und vielfach auch gegeben. Am Ende stehen einige besonders exponierte vor der Konsequenz, dass sie sich eigentlich nur noch die Kugel geben können. Und dies alles, läuft unter dem Firmenschild "Kasino zur Glückseligkeit"!

"Die Kurve bekommen"

Vor 1914 war das Schüren der Endzeiterwartung angesagt. Nicht mehr im eigentlichen Jahre 1914. Jetzt war die WTG-Devise, das ganze ins Unverbindlichkeitsgeplänkel umzuleiten. Auch an etlichen Stellen im "Wachtturm"-Jahrgang 1914 registrierbar. So auch in der nachstehend zitierten Stellungnahme aus der Januarausgabe 1914 des WT:

"Es ist eine Tatsache, daß ungeachtet der Festigkeit unserer Stellung und unserer Hoffnung, daß unsere Annahme sich bestätigen werden, wir uns nichts destoweniger auf Glauben und nicht auf Wissen stützen. Es mag einige geben, bei denen der Glaube fast so stark und so überzeugend sein mag wie das Wissen. Trotzdem handelt es sich nicht um Wissen, sondern um Glauben. Wir müssen die Möglichkeit zugeben, daß uns in bezug auf die Chronologie ein Fehler unterlaufen sein könnte, obschon wir nicht zu sehen vermögen, wo ein Fehler in der Berechnung der sieben Zeiten der Nationen, die gegen den ersten Oktober 1914 ablaufen, gemacht sein könnte.

Wenn andere hinsichtlich eines anderen Datums in der gleichen Weise überzeugt sind, so sollten wir, wenngleich wir ihre Ansicht nicht zu teilen vermögen, deswegen doch nicht ihre Gliedschaft an dem Leibe Christi in Frage stellen. Wir sollten vielmehr sagen: Sei es, daß eure Berechnung die richtige ist, oder sei es, daß wir recht haben. Wir müssen immerhin zugeben, daß die Zeichen der Zeit, wie wir sie lesen, klar andeuten, daß der Meister nahe ist, ja, daß er vor der Tür steht, und daß sein Königreich bald die Herrschaft übernehmen wird. Das bedeutet, daß die Dinge, die wir erwarten gewißlich vollendet werden, einerlei, ob darüber noch ein Jahr, zehn oder zwanzig Jahre vergehen werden. Die Kirche (Auswahl) wird gesammelt, die Messianische Herrschaft der Gerechtigkeit wird anfangen, und die vorher verkündigte große Zeit der Drangsal wird diesen Ereignissen vorausgehen. Die allgemeinen Tatsachen sind viel wertvoller und wichtiger, als lediglich der Tag oder das Jahr des Eintreffens desselben. Die Bruderliebe bleibe. Lassen wir es nicht zu, daß irgendein Wortstreit bezüglich eines Jahres oder einzelner Tage die kostbaren Bande der Liebe zerreiße, die uns mit dem Herrn und allen denen verbinden, die in Wahrheit sind.

Nichts destoweniger hat wahrscheinlich bei uns allen die Neigung vorgeherrscht, als Resultat des Ablaufes der Zeiten oder Jahre der Nationen insbesondere an die Zeit der Drangsal für die Welt zu denken, nach ihr auszuschauen, oder sie täglich gegen Oktober 1914 zu erwarten. Vielleicht haben wir in etwa die Tatsache außer acht gelassen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach das große 'Babylon' gerichtet werden wird, ehe die große Drangsal über die Welt kommt. Dem Schreiber hat sich während der letzten 14 Tage mit großem Nachdruck der Gedanke eingeprägt, daß, wenn man das Hereinbrechen der großen Drangsal der Welt zum ersten Oktober 1914 oder vor dieser Zeit erwarten wollte, man staunenerregende Dinge innerhalb der Zwischenzeit zu gewärtigen haben müßte. …

Nach unserm Verständnis stellt hier die Erde die gegenwärtige soziale Ordnung dar, während die Himmel die kirchliche Ordnung der Dinge darstellen. Wir finden nun, daß die Himmel mit dem gewaltigem Geräusch einer großen Bewegung, einer großen Verwirrung vergehen werden, und daß ihre Elemente oder Bestandteile, in der Hitze oder in dem Brande jener Zeit aufgelöst, schmelzen werden. Danach wird die Erde oder die soziale Ordnung der Dinge ebenfalls verbrannt oder verzehrt werden durch die Drangsal jenes Tages, an welchem die gegenwärtige soziale Ordnung vernichtet und alles Gesetz und alle Ordnung durch Anarchie gestürzt werden wird. Wenn wir daher erwarten, daß die gesellschaftliche Ordnung innerhalb eines Jahres von der Drangsal ergriffen werden wird, so scheint dies besagen zu wollen, daß die gegenwärtige religiöse Einrichtung vorher zusammen brechen müßte. Aber wird dies der Fall sein?

Daraus ergibt sich, daß die Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher sowohl als auch andere, die von dem Bündnis nicht aufgenommen worden sind, Zwangsmaßregeln unterworfen sein werden. Die Wahrheit wird in den Straßen fallen. Die Gerechtigkeit wird sich unter dem Druck der neuen Verhältnisse keinen Eingang verschaffen können. Eine Zeitlang wird es scheinen, als sei ein großer christlicher Sieg errungen worden, in welchen sich einerseits das Papsttum und andererseits der verbündete Protestantismus - der nicht mehr protestiert - teilen werden. Wir sehen auch schon die beiden Teile der Himmel zusammenrollen, indem sie sich zum gegenseitigen Schutze immer näher kommen.

Aber der Triumph der neuen Ordnung der Dinge wird nur von kurzer Dauer sein. Die Volksmassen, die jetzt nicht mehr unwissend und dumm sind wie in den finstern Zeitalter, werden die wahre Sachlage begreifen und an der großen 'Babylon' - die bereits vom Herrn verstoßen ist - das vorhergesagte Gericht vollziehen. Sie wird gleich einem großen Mühlstein ins Meer geworfen werden, um sich nie wieder zu erheben. …

Nun erhebt sich die Frage: Kann dieses alles im laufe eines Jahres stattfinden? Wir antworten: Ja, es würde möglich sein! Aber die zweite Frage ist: Ist es wahrscheinlich? Und die Antwort lautet: Nein; es ist kaum anzunehmen, daß soviel in einem Jahre zuwege gebracht werden würde! Hier haben wir also eine offene Frage, bezüglich deren ein jeder sich sein eigenes Urteil bilden muß.

Der besondere Punkt, den wir jetzt hervorheben, ist der, daß wir wenn es schwierig, obgleich nicht unmöglich, finden, zu sagen, daß diese Dinge innerhalb eines Jahres zustande kommen könnten, durchaus freundlich und duldsam sein sollten solchen Brüdern gegenüber, die überzeugt sind, daß diese Dinge nicht innerhalb eines Jahres Platz greifen werden, oder, die denken, daß unserer chronologischen Ansicht ein Mangel anhafte."

"Andere organisierten das große päpstliche System"

Im März 1914 schrieb der "Wachtturm"

"Wie wir schon darauf hingewiesen haben, sind wir keineswegs sicher, daß dieses Jahr 1914 einen so radikalen und schnellen Wechsel der Zeitverwaltung bringen wird, wie wir ihn erwartet haben. Es geht über unser Fassungsvermögen hinaus, uns eine Vorstellung davon zu machen, wie in einem Jahre alles zur Vollendung gelangen kann, was nach der Schrift als dem Anfang der Friedensherrschaft vorausgehend erwartet werden kann. Wir wissen wem wir geglaubt haben. Wir haben unser Leben dem Dienste Gottes bis in den Tod geweiht, ungeachtet dessen, ob der Tod in diesem Jahre oder zu irgend einer andern Zeit erfolgt.

Wir wissen, daß das Volk Gottes in dieser Hinsicht Enttäuschungen erlebt hat. Die Juden wurden in ihren Erwartungen enttäuscht. Die Christen in dieser laodicäonischen Zeitperiode waren zuerst enttäuscht, indem sie nicht klar verstanden, was sie zu erwarten hatten. Während der ersten Verfolgungen der Herauswahl meinte man, daß diejenigen, welche litten, bald in die Herrlichkeit eingehen würden. Man dachte, daß das Königreich nahe sei. Einige der Enttäuschten fuhren fort, zu warten und zu hoffen und zu beten. Andere organisierten das große päpstliche System und behaupteten, daß die Kirche ihre Herrlichkeit jetzt erlangen müsse, daß das Königreich des Messias da sei, und daß der Vertreter des Messias auf seinem Throne sitzen und als Verkörperung des Messias die Königreiche der Welt in Unterwürfigkeit bringen müsse.

Diese Ansicht hat in verschiedener Hinsicht unheilvoll gewirkt, denn es hat die ganze Christenheit 'trunken' gemacht. … Selbst heute noch sind viele verwirrt. Einige sind, nachdem sie aus der Finsternis herausgekommen sind, in andere Irrtümer geraten. Die Mehrheit hat allen Glauben an die Prophezeiungen verloren. Aber Gott hat alle diese Zustände vorhergesehen und vorhergesagt, und sie werden das göttliche Programm nicht stören. Das Gesicht soll zur bestimmten Zeit deutlich gemacht werden.

Wir vermögen die Zeitrechnungen nicht mit einer solch absoluten Sicherheit zu lesen wie die Lehren, denn die Zeit ist in der Bibel nicht so deutlich ausgedrückt wie die Grundlehren. Wir wandeln immer noch durch Glauben und nicht durch Schauen. Wir sind indes nicht ungläubig, sondern wir glauben und warten. Wenn es sich später herausstellen sollte, daß die Herauswahl im Oktober 1914 nicht verherrlicht ist, so werden wir uns mit dem Willen des Herrn zu begnügen suchen, welcher Art er auch immer sein mag.

Wir glauben, daß viele, die den Wettlauf nach dem Kleinod laufen, selbst dann im Stande wären, Gott für die Chronologie von Herzen zu danken, wenn die Berechnungen um ein Jahr oder auch um mehrere Jahre von der Wirklichkeit abweichen sollten. Wir glauben, daß die Chronologie ein Segen ist. Wenn wir durch sie einige Minuten oder einige Stunden früher am Morgen aufgeweckt worden sind, als es sonst geschehen sein würde, dann ist es gut so. Diejenigen, die wach sind, erlangen den Segen.

Wenn das Jahr 1915 vorbeigehen sollte, ohne daß die Herauswahl vollendet und die Zeit der Drangsal hereingebrochen ist, so möchten einige darin eine Kalamität erblicken. Bei uns würde dies nicht der Fall sein. Wir werden uns so sehr wie irgend jemand freuen, wenn unsere Verwandlung von der irdischen zur geistigen Stufe vor dem Jahre 1915 erfolgt - und dieses erwarten wir. Aber wenn dies nicht des Herrn Wille sein sollte, so würde es auch unser Wille nicht sein. Wenn nach der Vorsehung des Herrn die Zeit fünfundzwanzig Jahre später kommen sollte, so würde der Wille des Herrn auch unser Wille sein....

Die Differenz würde lediglich darin bestehen, daß die Zeiten der Aufrichtung des Königreiches sich um einige Jahre verzögern würde. Wenn der Zeitpunkt Oktober 1915 vorübergehen sollte, während wir uns noch hienieden befinden und die Dinge noch im wesentlichen so gehen wie heute, während die Welt in ihren Bemühungen, schwebende Streitigkeiten zu schlichten, anscheinend Fortschritte macht, die Zeit der Drangsal noch in Aussicht steht, und die Namenkirche noch nicht verbündet ist, so würden wir sagen, daß uns in unserer Zeitrechnung irgend ein Irrtum unterlaufen ist. In diesem Falle würden wir die Prophezeiungen weiter durchforschen, um zu sehen, ob wir einen Irrtum entdecken können. Und dann würden wir uns fragen: Haben wir ein wichtiges Ereignis zur richtigen Zeit erwartet? Der Wille des Herrn könnte dies zulassen. Unsere, d. h. der Herauswahl Erwartung geht dahin, daß unsere Verwandlung nahe ist. Der Welt können keinerlei Wiederherstellungssegnungen zuteil werden, solange die Herauswahl nicht verherrlicht ist.

So weit wir es bis jetzt zu beurteilen vermögen, würde das Nichteintreffen der erwarteten Dinge im Jahre 1915 oder früher besagen, daß alle chronologischen Berechnungen so wie wir sie haben, sowie unsere Ansicht über die Ernte usw. falsch seien. Aber wir haben keinen Grund zu glauben, daß sie falsch sind."

Bischof Ussher

Anlässlich seines Auftrittes vor örtlichen Funktionären der Zeugen Jehovas in Hamburg, im Jahre 1968, legte der seinerzeitige deutsche Zweigdiener Konrad Franke, auch großen Wert auf die 1975-Verkündigung. Besonders angelegen ließ er es sich sein, kritische Einwände gegen sie zu "zerstreuen". Das damals aktuelle WTG-Buch "Ewiges Leben in der Freiheit der Söhne Gottes" war ihm dafür der entsprechende Aufhänger. Franke versuchte seine Zuhörer auch damit zu beeindrucken, dass er darauf verwies, dass man in der (damaligen) WTG-Zentrale Wiesbaden Sonderschichten gefahren habe mit der Zielstellung, eben jenes Buch so schnell wie möglich den Zeugen Jehovas zur Verfügung zu stellen. Und dies nicht etwa, so Franke, damit dieses Buch in den Bücherschränken der Zeugen Jehovas "einstauben" könne. Dazu habe man sich die zusätzlichen Überstunden nicht aufgehalst. Es sollte verbreitet werden, und zwar umfassend. Und Franke meinte seinen Zuhörern auch einen besonders triftigen Grund nennen zu können, weshalb dies so sein soll. Und dieser Grund war die darin auch enthaltene 1975-Verkündigung.

Franke ließ es sich auch angelegen sein, aus jenem Buch zu zitieren. Besonders mit der erklärten Zielstellung, kritische Vorbehalte gegen die 1975-Verkündigung zu zerstreuen. Ein vermeintlicher Argumentationstrumpf von Franke war in diesem Zusammenhang auch die in jenem Buche enthaltene Passage über James Ussher, der da einstmals berechnet hatte, 6000 Jahre Menschheitsgeschichte würden erst 1996 beendet sein. Jetzt kam Franke so richtig in Fahrt. Wer die Chance hatte, sich einmal die diesbezügliche Kassetenaufzeichnung seines Vortrages anzuhören, wird dies sicher bestätigen können. Triumphierend zitiert Franke dann weiter jenen Absatz aus dem genannten WTG-Buch, wo ausgeführt wurde, dass seit den Tagen Usshers weitere, genauere Bibelstudien durchgeführt wurden. Und aufgrund dieser "genaueren" Bibelstudien wisse man, das Ussher mit seinem Datum 1996 schief liege. 1975 wäre es, und dies sage dieses WTG-Buch, das breitmöglichst verbreitet werden soll auch ganz klar. Ein etwaiger Zeuge Jehovas, der bei diesen Ausführungen, aus Protest den Saal verlassen hätte, ist nicht bekannt. Wohl aber jene Anwesenden die Franke Beifall klatschten.

Heute kann man die Sache eigentlich abgeklärter sehen. Sowohl 1975 als auch 1996 gehören der Vergangenheit an. Diese Vergangenheit ist allerdings bislang unvollständig dargestellt worden. Zum vollständigen Bild gehört auch das noch hinzuzufügen, was bereits Russell zum Fall des Bischof Ussher geäußert hatte. In der Märzausgabe 1914 des "Wachtturms" war das zu lesen. es sei hier noch einmal zitiert:

"(Auf Wunsch veröffentlichen wir hier einen Artikel, der im englischen Wachtturm bereits in der Nummer vom 1. Oktober 1907 erschienen ist und in der Nummer vom 15. Dezember 1913 nochmals abgedruckt wurde). Ein lieber Bruder fragt: können wir absolut sicher sein, daß die in den Schriftstudien enthaltene Chronologie richtig ist - daß das Erntewerk im Jahre 1874 begonnen hat und im Jahre 1914 n. Chr. in einer weltumfassenden Drangsal, in der alle gegenwärtigen Einrichtungen gestürzt werden, enden wird, und daß auf diese Drangsal die Herrschaft der Gerechtigkeit des Königs der Herrlichkeit und seine Herauswahl folgen wird?

Unsere Antwort - wie wir sie auch häufig in den Schriftstudien und im Wachtturm, sowie mündlich und schriftlich dargelegt haben ist: Wir haben niemals behauptet, daß unsere Berechnungen unfehlbar seien. Wir haben niemals gesagt, daß dieselben sich auf Wissen, auf unbestreitbare Beweise, Tatsachen oder Erkenntnis gründen. Wir haben vielmehr stets darauf bestanden, daß sie sich auf Glauben gründen. Wir haben die Beweise, sowie die Schlußfolgerungen des Glaubens, den wir aus den Beweisen herleiten, so klar wie möglich dargetan, und haben einem jeden anheimgegeben, so viel oder so wenig davon anzunehmen, wie sein Herz und sein Kopf zu fassen vermag.

Möglicherweise haben einige, die die Schriftstudien gelesen haben, unsere Schlußfolgerungen nachdrücklicher vertreten, als wir selbst. Wenn dem so ist, so ruht die Verantwortlichkeit bei ihnen selbst.

Wenn unsere Chronologie nicht zuverlässig ist, so wissen wir nicht, wo wir sind und wann der Morgen kommen wird. Bischof Ussher's Chronologie bezeichnet als das Ende der 6000 Jahre seit Adam einen fast ein Jahrhundert später liegenden Zeitpunkt. Damit zerstört sie jede prophetische Anwendung, die wir gesehen und von der wir Nutzen gezogen haben.

Aber laßt uns einmal einen Fall annehmen, der zwar unsern Erwartungen durchaus entgegengesetzt ist: Angenommen, das Jahr 1915 geht vorüber, die Weltlage ist ruhig, und die Tatsache ist offenbar, daß die 'Auserwählten' noch nicht alle 'verwandelt' sind und die Wiederherstellung des Natürlichen Israels zur göttlichen Gunst unter dem Neuen Bunde … noch aussteht, was dann? Würde damit unsere Chronologie nicht als falsch erwiesen sein? Gewiß! und würden wir damit nicht eine bittere Enttäuschung erfahren? Allerdings!

Ein solcher Fall würde in alle unsere Berechnungen eine unheilbare Bresche schlagen - in die Berechnungen der parallelen Zeitverwaltungen, der 'Zwiefachen' Israels, der Jubeljahre, der Prophezeiungen hinsichtlich der 2300 Tage Daniels, der Zeitepoche, die als 'die Zeiten der Nationen' bezeichnet wird, der 1260 und 1290 Tage, sowie der 1335 Tage, welche dadurch, daß sie den Anfang der Erntezeit bezeichnen, die bezügliche Voraussage so treffend erfüllen. … Alle diese Berechnungen würden für uns ihren Zweck verloren haben. Welch ein Schlag wäre das? Eine der Saiten unserer 'Harfe' würde gesprungen sein!

Nichts destoweniger, geliebte Freund, würde unsere Harfe noch alle anderen wohlgetönten Saiten haben, und dessen könnte sich keine andere Vereinigung von Kindern Gottes auf Erden rühmen. Wenn es sich daher, Geliebte herausstellen sollte, daß unsere Chronologie ganz verkehrt ist, so könnten wir doch sagen, daß wir viel auf mancherlei Weise Nutzen von ihr gehabt haben. wenn die Erlangung unserer glorreichen Hoffnung und unserer gegenwärtigen Freude im Herrn uns eine solche Enttäuschung kosten sollte, wie unsere Freunde fürchten, so sollten wir uns freuen und den empfangenen Segen als nicht zu teuer bezahlt erachten.

Wenn der Herr es zur Aufrüttelung der 'Jungfrauen' für notwendig erachtet, daß auf der Zeittrompete ein falscher Ton geblasen wird, so laßt uns die Enttäuschung freudig hinnehmen als zu dem 'alles' gehörend, daß denen, die Gott lieben, zum Guten dienen muß.

Wir hörten kürzlich von einem lieben Ehepaar, das ein kleines Kind hat, welches es, wie es auch richtig ist, zärtlich liebt. Und wir hörten weiter, daß der Mutter des Kindes ein großer Schrecken eingejagt wurde, indem einige Schwestern ihr sagten, daß es ein Schmach sei, Mutter zu sein angesichts der bevorstehenden großen Umwälzungen. Wir glauben, daß die lieben Schwestern einen Fehler gemacht haben. Sie haben natürlich das Recht, ihre Meinung für sich zu haben und ihr Leben so einzurichten, wie es nach ihrem besten Ermessen dem Willen des Herrn entspricht. Aber sie haben nicht das Recht, andere zurechtweisen, weil sie in der betreffenden Angelegenheit eine andere Meinung als sie haben."

Weitere 1914-Zitate

"Die diesjährige Hauptversammlung in Barmen vom 10. bis 13. April dürfte die letzte ihrer Art sein. Das sagen wir im Glauben an das prophetische Wort". (Wachtturm 1914 S. 59)

"(Leserbrief). Wenn auch etliche der lieben Mitgeschwister durch die neuerlichen Ausführungen im Wachtturm in ihrer chronologischen Überzeugung erschüttert oder gar aus dem Gleise geworfen werden mögen, so wissen wir doch, daß dieses eben eine der wirksamsten Prüfungen und Sichtungen bedeutet und solche offenbart, die sich in ihrem Herzen vielleicht nur auf eine gewisse Zeit, anstatt 'bis in den Tod' geweiht haben." (Wachtturm 1914 S. 64).

"Wenn dieses Jahr vorübergehen sollte, ohne daß die Herauswahl eine besondere Offenbarung göttlicher Gunst durch die Auferstehungsverwandlung von der irdischen zur geistigen Daseinsstufe erfährt, so werden wir wissen, daß wir in unserm Urteil hinsichtlich der Zeit, in welcher dieses glorreiche Ereignis zu erwarten steht, geirrt haben. Es ist noch die Möglichkeit vorhanden, daß wir hinsichtlich der Zeit nicht geirrt haben, wohl aber hinsichtlich der zu erwartenden Dinge". (Wachtturm 1914 S. 101)

"Bibelforscher haben absolut keinen Grund, daran zu zweifeln, daß der Abschluß dieses Evangelium-Zeitalters jetzt vor der Tür steht, und daß er nach der Schrift in einer Zeit großer Drangsal enden wird, wie sie nicht gewesen ist, seitdem eine Nation besteht. Wir sehen, daß diejenigen, die von dieser großen Krisis in Mitleidenschaft gezogen werden, sich bereits unter der Führerschaft von Kapital und Verbänden, von Arbeiter und Berufsbünden zusammenscharen. Die große Krisis, der große Zusammenbruch, der symbolisch als ein Feuer dargestellt wird, das die kirchlichen Himmel und die soziale Erde verzehren wird, ist sehr nahe. Aber indem wir dieses gesagt haben, haben wir so ziemlich alles gesagt, was wir mit Sicherheit zu sagen vermögen und was sich uns zu sagen geziemt. Wir haben niemals vorgegeben, inspiriert zu sein oder ein prophetisches Gesicht zu haben. Alles, was wir jemals behauptet haben ist, daß die Bibel einen wunderbaren göttlichen Plan enthält, und daß das kostbarste die Liebe des himmlischen Vaters und unsers himmlischen Herrn Jesus ist, und daß die Zeit für die Aufrichtung des Königreiches sehr nahe ist. Wir erinnern unsere Leser hier daran, daß wir in dieser Zeitschrift und in den sechs Bänden der Schriftstudien alles in bezug auf die Zeiten und Zeitläufe in einer Form der Vermutung dargestellt haben; d. h. nicht in positiver Weise, noch auch mit der Behauptung, daß wir es wüßten, sondern lediglich mit dem Dafürhalten, daß die Lehre der Bibel 'so und so' zu sein scheine.

Die Chronologie erscheint dem Schreiber noch ebenso stark denn je zuvor. Er wüßte nichts, was er daran ändern oder verbessern könnte. Nichts destoweniger möchte der Schreiber alle Wachtturmleser darauf aufmerksam machen, wie er es bereits zweimal in diesem Jahre getan hat, daß es nach seinem Urteil jetzt unangebracht scheint, während des gegenwärtigen Jahres alles das zu erwarten, was wir unserer früheren Annahme gemäß vorausgesetzt hatten. Er sieht keine Möglichkeit dafür, daß das Kirchenbündnis seinen Höhepunkt der Organisation und Macht erreichen und dann während der noch übrigen Monate dieses Jahres zusammenbrechen werde. Und er erwartet mit Bestimmtheit, daß dies vor dem vollen Abschluß dieses Evangeliums-Zeitalters stattfindet, vor der Verherrlichung der letzten Glieder der Herauswahl, welche der Leib Christi ist. Hierdurch erweist sich die Chronologie nicht als falsch, noch auch beweist dies, daß die Zeiten der Nationen nicht mit diesem Jahre enden. Es kann sein, daß die Zeiten der Nationen enden, ehe die Kirchenherrschaft zu einer geistlichen Macht auswächst. Wir müssen abwarten und sehen." (Wachtturm 1914 S. 105, 106)

Oktober 1914

In der zweiten Jahreshälfte 1914 wurde es für die Bibelforscher ernst. In doppelter Hinsicht. Einmal durch den Kriegsausbruch und zum zweiten durch ihr angefiebertes Datum 1. Oktober 1914. Zum Kriegsausbruch notiert der WT vom September 1914:

"Der Krieg ist plötzlich über die Welt hereingebrochen. Die lieben Leser des Wachtturms und der Schriftstudien von Bruder Russell haben diese Trübsal vorhergesehen und erwartet. Aus diesem Grunde müssen wir im Geiste frohlocken, aufsehen und unsere Häupter emporheben, von ganzem Herzen 'unseres Leibes' Errettung erwartend, nämlich das Ende der Laufbahn der letzten Glieder der Herauswahl im Fleische und ihre Verwandlung zur geistigen Stufe des Daseins mit neuen unverweslichen, herrlichen Leibern, gleichgestaltet dem Leibe der Herrlichkeit Christi Jesu, unseres Herrn."

Gleichwohl veröffentlichte der amerikanische "Watch Tower" vom 15. Oktober 1914 (in der deutschen "Wachtturm"-Ausgabe vom Dezember 1914 nachgedruckt), eine Solidaritätsadresse an die kriegführenden Nationen. In ihr konnte man lesen:

"In solchen Zeiten, wie sie jetzt sind, empfinden wir eine herzliche Teilnahme mit den obrigkeitlichen Gewalten, sintemal diese von Gott verordnet sind. Wir erinnern uns der Worte des Apostels Paulus: 'Ich ermahne vor allen Dingen, das Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen getan werden für alle Menschen für Könige und alle, die in Hoheit sind, auf daß wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und würdigem Ernst. Denn dieses ist gut und angenehm vor unserem Heiland-Gott, welcher will, daß alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen."

Der Kriegsausbruch wurde von den zeitgenössischen Bibelforschern besonders im Hinblick auf die Sozialdemokratie ausgedeutet. Die Spannungen zwischen Sozialdemokratie und den herrschenden konservativen Kräften, inspirierten auch die Wachtturmschreiber. So in einem Artikel vom Oktober 1914, der nachstehend zitiert sei:

"Die lange erwartete Erschütterung der sozialen Erde hat, wie wir glauben, bereits ihren Anfang genommen. Der große Krieg, für den Europa seine Truppen gedrillt, Schätze aufgespeichert und Waffen in Bereitschaft gehalten hat, erschüttert jede Nation in finanzieller, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht.

Während der vergangenen fünfzig Jahre sind die Massen der Menschheit insbesondere durch Bereicherung an Wissen gefördert worden, und ihre Macht ist dementsprechend gewachsen. In demselben Maße haben die Irrtümer, der Aberglaube und die Knechtschaft vergangener Zeiten das Feld räumen müssen. Es hat eine dementsprechende soziale Revolution stattgefunden, die sich ihrer Art nach von allem, was bisher dagewesen ist, unterscheidet. Der Sozialismus ist eine Revolution, die sich auf Vermehrung des Wissens gründet, obgleich, wie wir versuchen wollen darzutun, viele seiner Schlußfolgerungen Trugschlüsse sind und manche seiner Bestrebungen sich wahrscheinlich in der Zukunft als überaus schädlich erweisen werden. Wenn nicht schließlich das Königreich Christi die Regentschaft in die Hand nehmen würde, so würde alles durch die zum großen Teil irrigen Weltverbesserungspläne des Sozialismus benachteiligt werden.

Europa ist mit dem Sozialismus durchsetzt, der gleich einem Sauerteig das ganze Gebäude der gesellschaftlichen Ordnung in Gärung versetzt. Könige und Kaiser dürfen ihm nicht zu offenkundig entgegentreten, und alle ihre geheimen Pläne haben nicht vermocht, seine Entwicklung zu hindern. Der jetzt begonnene allgemeine Krieg hat von verschiedenen Seiten her seinen Anstoß bekommen. Die Politik hat insoweit mit ihm zu tun, als die verschiedenen Länder die Erweiterung ihrer politischen Einflusssphären erstreben.

Wir glauben, daß auch der Sozialismus einen nicht unwesentlichen Faktor in dem jetzt tobenden Kriege spielt, der der größte und schrecklichste und wahrscheinlich auch der letzte Krieg der Erde sein wird. Der Sozialismus steht insofern in Beziehungen zu dem Kriege, als die Könige und Kaiser hoffen, daß Patriotismus und Selbstverleugnung die Interessen und Sympathien ihrer Völker, die unter dem Einfluß des Sozialismus gelockert werden, zusammenschmieden. Sie riskieren lieber einen allgemeinen Krieg, um nicht einer sozialen Revolution ins Antlitz schauen zu müssen.

Während innerhalb der letzten dreißig Jahre der Sozialismus die politische Erde erschüttert hat, haben andere Kräfte mit großer Gewalt die kirchlichen Himmel erschüttert. Wo wir auch hinsehen mögen, überall finden wir, daß nicht nur Unwissenheit und Aberglaube jetzt nicht mehr bei allen Christen Fuß zu fassen vermögen, sondern überdies viele bekennende Christen in ihrem Glauben an eine göttliche Offenbarung und manche sogar in ihrem Glauben an einen persönlichen Gott erschüttert sind. Ja, es ist heute sogar an der Tagesordnung, daß christliche Geistliche sich in ihren Kreisen rühmen, den Glauben an die Bibel verloren zu haben - unter dem Einfluß dessen, was man als 'höhere Textkritik' bezeichnet und was man früher 'Unglaube' nannte."

Über den Oktober 1914 und seine Bewältigung durch Russell liegt ein verschiedentlich schon zitierter Bericht vor (Vgl. "Geschichte der Zeugen Jehovas" S. 553, 554). Er sei auch hier nachstehend wiedergegeben:

„Dann kam der 2. Oktober 1914. Wir, dass heißt die Bethelfamilie, saßen zum 1. Frühstück bereits am Tisch, als Bruder Russell den Raum betrat. Eine Stille trat ein, jeder war erwartungsvoll, was würde wohl Bruder Russell heute wohl sagen? Seine ersten Worte waren: 'Guten Morgen alle zusammen'! Danach klatschte er überraschend in seine Hände und sagte freudig: 'Die Zeiten der Nationen sind abgelaufen, die Tage ihrer Könige gezählt.' Natürlich klatschten wir ebenfalls über diese Mitteilung, aber wir erwarteten von Bruder Russell mehr. Leider, unsere Neugier wurde nicht gestillt.

Als Bruder Russell erkannte, dass wir mehr erwarteten, fragte er uns: 'Ist jemand enttäuscht? Ich nicht. Alles verläuft planmäßig.' Mir war als hätte mir jemand einen Stich ins Herz versetzt. Nachträglich erfuhr ich von meinen engsten Freunden, wie ihnen nach den Worten Bruder Russells zumute war. Es war bitter für uns. Selbst der engste Mitarbeiter Bruder Russells, Bruder Macmillan, war über die Ausführungen Bruder Russells niedergeschlagen.

Bruder Macmillan hatte doppelten Grund niedergeschlagen zu sein, denn er bekam von Bruder Russell den Auftrag, in einem Vortrag zur gegenwärtigen Lage Stellung zu nehmen. Dieser Vortrag war für Sonntag, den 4. Oktober … angesetzt. … Bruder Macmillan erzählte mir nachträglich, wie schwer ihm diese Ausarbeitung fiel; er sagte: …'In diesem Vortrag versuchte ich der Bethelfamilie klar zu machen, dass einige von uns wohl ein bisschen voreilig gewesen waren, als sie glaubten, im Oktober himmelwärts zu gehen. In Wahrheit belog ich mich selbst und andere. Was ich ausgearbeitet hatte, war praktisch leeres Stroh, geistloses Geschwätz, nur um Bruder Russell zufrieden zu stellen.'

Unser Bruder Macmillan hatte es in den darauffolgenden Wochen schwer. Ich selbst erlebte viel Unangenehmes im engsten Kreise. Auch Bruder Russell war niedergeschlagen, trotz seines Optimismus. Die wenigsten glaubten seinen Worten. Die Atmosphäre im Bethel war herzzerreißend. Verbitterung und Aufgabe waren die Folge. Viele verließen das Bethel und wollten erst einmal allein sein. Dieser Zustand verschlechterte natürlich die Krankheit von Bruder Russell, der dann Ende 1916 starb."

Photodrama der Schöpfung

Es war für die Bibelforscher der "Trostbonbon" nachdem ihre zeitgenössischen Endzeittheorien zusehends ins Wasser fielen. Da hatten sie was neues, wofür sie sich engagieren konnten. Einen Lichtbildervortrag mit religiösem Inhalt. So lange ist es ja nun noch nicht her, dass "die Bilder laufen lernten". Will sagen, dass sich der Film entwickelte. Erst über den Stummfilm dann zum Tonfilm usw. Mit ihrem Lichtbildervortrag waren die Bibelforscher in gewisser Hinsicht schon ein Wegbereiter dieser Entwicklung. Man kann die "stolzgeschwellte" Brust der damaligen Akteure schon durchaus nachvollziehen. Und vor allem es half, den Bankrott der bisherigen Ideologie vergessen zu machen!

Das "Photodrama der Schöpfung" kam laut "Wachtturm" (1914 S. 114), ab Mitte August 1914 in Deutschland erstmals zum Einsatz.

Zum "Photodrama der Schöpfung" liegt auch ein scharfer Kommentar in der in den USA, in Missouri erschienenen deutschsprachigen Zeitschrift "Der Lutheraner" vor. In ihrer Ausgabe vom 7. Juli 1914 schrieb sie:

"Mehrere Wochen gab der Lügenprophet Russell sein 'Drama of Creation' in dem Chicago-Auditorium. Eintritt war frei. Das Auditorium ist die größte Konzerthalle in Chicago mit Sitzraum für 6 000 Personen. Die Miete beträgt $ 1 000 den Abend. Es müssen dem Herrn 'Pastor' (mit Gänsefüßchen) also bedeutende Summen zur Verfügung stehen. Fast in allen größeren Städten des Landes hat er seine Lichtbildervorstellung aufführen lassen, und der Eintritt war immer frei. Rechnet man hinzu, was Russell für Anzeigen in Zeitungen, in Straßenbahnwagen und für Reklame mittels Anschlagzettel ausgibt, sowie die Unmenge von Traktaten, die er frei verteilen läßt, so ist ganz klar, daß er mit einem Kapital von Millionen arbeitet, um seine Irrlehren unter das Volk zu bringen.

Woher hat er das Geld? Von seinen betörten Anhängern. Es gibt Leute, die lassen es sich viel kosten, wenn man ihnen beweisen kann, daß sie ohne Scheu sündigen dürfen. Der Fall 'Pastor' Russells steht in dieser Hinsicht nicht vereinzelt da.

Je toller der vorgetragene Irrtum, desto leichter, scheint es, lassen sich die Anhänger dieses Lügenapostel zu willenlosen Sklaven machen, die auch ohne Zaudern ihr Vermögen drangeben, wenn es ihnen abgefordert wird. Bedenken wir, wie zäh die Menschen an dem sauer verdienten und langsam Ersparten festhalten, und wie bereitwillig sie es diesen falschen Propheten vor die Füße legen, so offenbart sich auch hierin der zwiefältige Betrug, den Satan an seinen Dienern übt. Erst ködert er die Menschen mit einer Lehre, die dem Fleische wohl behagt, und nachdem er ihren Geist mit dem Bann der Lüge geschlagen hat, betört er sie auch noch um ihre irdische Habe. Daß solches geschehen kann, gehört zu dem Gericht, womit Gott die Verächter des Evangeliums straft. Manch einer hat das reine Evangelium einst sehr billig haben wollen und opfert jetzt dem Irrwahn alles, was er hat."

Das "Photodrama" erschien auch noch aus Buchausgabe. Neben den Bildern waren auch einige erläuternde Texte hinzugefügt.

Bemerkenswert darin Sätze wie die: "Evolutionstheorie und Bibel haben in scharfem Gegensatz zu einander gestanden. Es ist jedoch viel unnötige Reibung verursacht worden. Nur in bezug auf den Menschen redet die Bibel von einer besonderen, direkten Schöpfung Gottes." (S. 6)

Russells Pyramidentheorie wusste man mit "Melchisedek" in Verbindung zu bringen:

"Man nimmt an, daß Melchisedek einer der Hirtenkönige gewesen sei, die in Ägypten im Jahre 2170 v. Chr. die große Pyramide erbaut haben, die seit Urzeiten als eines der sieben Weltwunder genannt wird. Astronomen behaupten, daß ihre Maße die Länge des Jahres, das Gewicht der Erde, die Entfernung der Sonne von der Erde usw. anzeigen. Ihre inneren Gänge stellen die Geschichte des Menschen dar: der abwärts führende Gang den Lauf der Sünde und des Todes, der aufwärts führende Gang das Gesetzes-Zeitalter, das Evangelium-Zeitalter, die Königreichsherrlichkeit der Herauswahl und die Wiederherstellung des Menschen." (S. 50)

Übrigens: Das Internet machts's möglich. Wer die Geduld aufbringt, einige Stunden Zeit zu opfern, der kann sich den Photodrama-Film im Original ansehen.

Photo-Drama Webseite

Dort kann man Russell im Originalton "bewundern". Mich hat er von seiner Rhetorik nicht besonders "beeindruckt". Da ist die auch von Rutherford im Netz vorhandene Stimmprobe etwas anders. Aber ein solches Urteil ist selbstredend subjektiv.

rutherf.wav

Mysnip.198609

Kommentarserie 1914

Die "Konkurrenz"-Zeitschrift "Die Aussicht" Jahrgang 1914

Der nächste Jahrgang   1915

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