Der vorangegangene Jahrgang   1912

Vor (mehr als) 50 Jahren

Was 1913 Wahrheit war

"Die ... Gesellschaft wurde der Schmach preisgegeben, weil sie kein Hospital-Werk betreibt"

Die Brooklyner Zeitung "The Eagle" hatte Furore gemacht. Das Mittel der Karikatur einsetzend, hatte sie den Bibelforschern einen "Spiegel" vorgehalten, der plötzlich ihre "schönen Gesichter" als hässliche Fratzen erscheinen ließ.

"Wenn Pastor Russell einen Dollar je Pfund Wunderweizen kriegen kann, was hätte er als Direktor der alten Unionbank für die Wunderaktien und -obligationen bekommen können?" fragte sie mittels einer Karikatur

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Journalisten sind in der Regel bemüht, gewisse weitschweifige Tatbestände, verkürzt, aber gezielt auf den Punkt zu bringen. Das galt offenbar auch für den "Eagle". Und wie dass im Leben so ist, hat der Gegner sich eine Blöße gegeben, wird gezielt an diesem Punkt angesetzt. Diese bittere Erfahrung musste schon Russell machen. Seine "Blöße" war sein euphorisches Engagement für den sogenannten "Wunderweizen". Isoliert betrachtet, kann man sich auf den Standpunkt stellen, die Sache wurde ungebührlich "hochgekocht". Geschäfte - mit oder ohne "Wunderweizen" - machen auch andere. Nicht nur Russell. Sein Geschäftsgebaren in Sachen Wunderweizen hielt sich zudem in Grenzen. Dies alles ist einzuräumen. Indes gilt auch der Spruch: "Es wird der Sack geschlagen um den Esel zu treffen."

Voll Bitternis muss Russell registrieren, dass diese Taktik auch ihm gegenüber zur Anwendung kam. Unfähig, seine Gesamtposition selbst kritisch genug zu reflektieren, musste er registrieren, dass da sich die Journalisten auf den "Wunderweizen" gestürzt hatten. Und er meinte weiter in seiner heiligen Einfalt, sich dagegen zur Wehr setzen zu sollen, worin ihn seine Anwälte (sprich: J. F. Rutherford) noch bestärkten. Und das Ende vom Lied: Er handelte sich eine Niederlage auf der ganzen Linie ein. In der "Wachtturm"-Ausgabe vom April 1913 ist ein von Russell selbst verfasster Bericht enthalten, über den Ausgang der unsäglichen "Wunderweizen"-Kontroverse. Er schreibt darin:

"Der Prozeß gegen die Zeitung 'The Eagle' wegen verleumderischer Herabwürdigung meines Rufes ist zugunsten derselben entschieden worden. Ein Kollegium von zwölf Geschworenen hat dahingehend entschieden, daß die lästernden Angriffe auf mich seitens des 'Eagle' gerechtfertigt seien, ungeachtet des Hinweises des Richters, daß nach dem Gesetz die Karikatur zum mindesten eine verleumderische, lästerliche Schmähung darstelle. Meine Anwälte sowohl als auch meine Freunde haben mich gedrängt, die Sache vor den Appellationshof zu bringen. Den Fähigkeiten und der Energie meiner Anwälte, der Herren Sparke und Rutherford, zolle ich höchste Wertschätzung.

Kurze Wiedergabe der Sache.

Ich nehme ein Interesse an allem, das den Fortschritt fördert und den Beweis liefert dafür, daß wir auf der Schwelle der Tausendjahr-Zeit der Segnung der Erde unter dem Messias stehen. In den Spalten des 'Wachtturms' habe ich von dem kommen göttlicher Segnungen als eine Erfüllung der Prophezeiung gesprochen: 'Die Wüste wird blühen wie die Rose'; 'Die Erde wird ihren Ertrag geben' usw. Vor fünf Jahren veröffentlichten wir im 'Wachtturm' Berichte in bezug auf 'Wunderweizen'. Wir veröffentlichten den Namen und die Adresse (Mr. Stoner) des Gutsbesitzers, der den neuen Weizen entdeckte, sowie seine Berichte hinsichtlich der merkwürdigen Eigenschaften des Weizens. Wir veröffentlichten auch den Bericht von Mr. Miller, dem Regierungs-Sachverständigen, der den Weizen gründlich untersuchte und seine Eigenschaften anerkannte. Einige unserer Leser kauften Samen von Mr. Stoner zu $ 1.25 (Mark 5.25) das Pfund und gaben ihrer Anerkennung Ausdruck. Im Jahre 1910 verkaufte ein Freund unsrer Gesellschaft, der von diesem Weizen gezogen hatte, denselben als Samen zu $ 1 (Mark 4.20) das Pfund, und ließ die Erträgnisse unserer Gesellschaft als Geschenk zufließen.

Im Jahre 1911 bat der Freund, nachdem er mehr Samen gezogen hatte, den 'Wachtturm', den Weizen seinen Lesern zum Preise von $ 1.- das Pfund einschließlich Porto zur Verfügung zu stellen, und die Netto-eingänge davon zugunsten des Werkes zu verwenden. Ein anderer Freund, der auch demselben Samen hatte, machte ein ähnliches Geschenk, sodaß insgesamt zwanzig Scheffel gegeben wurden.

Zur Bequemlichkeit unsrer Leser ließen wir, diesen Saat-Weizen in 1-Pfund-Packungen verpacken und posteten ihn von dem 'Wachtturm'-Kontor in der Weise, wie dies auch seitens der Regierung der Vereinigten Staaten von Washington aus geschieht.. Wir befaßten uns mit dieser Angelegenheit auf Wunsch und im Interesse anderer, und schrieben ihnen die Eingänge in unseren Büchern gut, wobei wir ihnen die Bestimmungsrechte überließen. Wir machten keine Angaben hinsichtlich des Weizens auf Grund eigener Erfahrung, sondern wir gaben lediglich den Bericht des behördlichen Sachverständigen, der Züchters und unsrer Freunde, die den Weizen versucht hatten. Wir handelten nur als Zwischenträger.

Nichts destoweniger wurde durch sachverständige Zeugen, interessierte sowohl als uninteressierte, völlig bei der Gerichtsverhandlung der Beweis für das erbracht, was hinsichtlich des Weizens gesagt war, und ihr Zeugnis konnte nicht entkräftet werden. Es wurde auch dargetan, daß der Gutsbesitzer Stones und sein Teilhaber, Mr. Knight, bis zum September 1911 keine Verkäufe dieses Weizens unter $ 1.25 das Pfund tätigten; und daß sie unter sich einen geschriebenen Vertrag gemacht hatten dahingehend, daß von diesem Weizen überhaupt nichts, zu keinerlei Preis, bis zum folgenden Jahr - 1912 - verkauft werden sollte.

Plötzlich, im September 1911, änderten sie ihre Pläne, da sie glaubten, genug Weizen angesammelt zu haben, und ermäßigten den Preis auf fünf Dollar für den Scheffel, während welcher Zeit der 'Wachtturm'-Weizen durchweg zu einem Dollar das Pfund verkauft wurde. Der Anwalt des 'Eagle' behauptete, daß darin ein Betrug seitens des 'Wachtturms' liege, der die verleumderischen Angriffe des 'Eagle' wider mich rechtfertigte.

Vergeblich suchte mein Anwalt dem Gericht zu zeigen, daß der 'Eagle' einen boshaften Hintergedanken habe, und daß er mich eigentlich auf religiösem Gebiet anzugreifen wünsche; daß er sich als der Vorkämpfer gewisser klerikaler Feinde von mir aufgeworfen habe und versuche, meinen Einfluß zu vernichten, und, wenn möglich, mich von Brooklyn zu vertreiben. Am Gericht waren etwa fünfundzwanzig meiner Freunde anwesend, die auf eigene Kosten von weither gekommen waren, um Gelegenheit zu haben, ein Wort zu meinen Gunsten zu reden. Durch einige Verwicklungen des Gesetzes in bezug auf Zeugen waren diese der Möglichkeit beraubt, zu meinen Gunsten vernommen zu werden.

Statt dessen gewährte das Gesetz dem Anwalt des 'Eagle' das Vorrecht, allerlei übles fälschlich wider mich auszusagen - um der Lehren Christi willen, die ich glaube und lehre. Es wurde ihm gestattet mich hinzustellen, wie der 'Eagle' dies in seiner Karikatur getan hatte, als einen Dieb und Räuber, der in dem Gewande eines Dieners Christi einhergehe. Es wurde ihm gestattet, den 'Wunderweizen' lächerlich zu machen, obgleich ich nichts damit zu tun gehabt hatte und ihm auch den Namen nicht gegeben hatte - ungeachtet der Tatsache, daß die vorzüglichen Eigenschaften des Weizens bewiesen worden waren.

Es wurde ihm erlaubt, es als strafwürdige Sache zu bezeichnen, daß ich das Amt des Präsidenten der Wachtturm- Bibel- und Traktat-Gesellschaft bekleide, und zu behaupten, daß ich das Amt auf eine verwerfliche und ungesetzliche Weise verwalte, und daß ich das Einkommen der Gesellschaft auf unerklärte Weise zu meinem eigenen Vorteil verwende.

Inzwischen würden Dutzende im Gerichtssaal und Tausende allenthalben im Lande gern bereit gewesen sein zu bezeugen, daß sie der Gesellschaft ihre Geldzuwendungen gemacht haben, weil sie das vollste Vertrauen in meine Rechtschaffenheit und meine Verwaltung als ausführendes Organ der Gesellschaft haben, und daß, wenn sonst jemand Präsident gewesen wäre, ihre Zuwendungen geringer gewesen sein würden, wenn sie denn überhaupt solche gemacht hätten.

Wahrscheinlich weil sieben von den Geschworenen Katholiken waren, nahm der Anwalt des 'Eagle' Veranlassung auf die Barmherzigen Schwestern und auf ihr edles Werk als Hospital-Pflegerinnen hinzuweisen, ohne indes die Tatsache zu erwähnen, daß diese Pflegerinnen gut bezahlt werden, und daß die Hospitäler in großem Maße aus Staatsmitteln unterhalten werden.

Die Wachtturm- Bibel- und Traktat-Gesellschaft wurde der Schmach preisgegeben, weil sie kein Hospital-Werk betreibt und kein Einkommen aus der Staatskasse hat, und weil die weiblichen Glieder der Gesellschaft nicht wöchentlich oder monatlich an den Lohntagen die Fabriken besuchen, um Gaben für ihr Werk zu sammeln.

Unsre Gesellschaft wurde auch der Schmach preisgegeben, weil wir nicht einen Wagen durch die Stadt senden, um Lebensmittel für den Unterhalt unsers Werkes zu sammeln; weil wir selbst Sonntags nicht irgendwelche Kollekten erheben; weil wir niemals irgend jemanden um einen Dollar angegangen haben; und weil wir niemals Bazare, Auslosungen und dergleichen veranstaltet haben. Unsre Gesellschaft wurde an den Pranger gestellt, weil sie ihre Literatur den Armen kostenfrei gibt, während andere ähnliche Gesellschaften sich von Reich und Arm für ihre Traktate und andere Veröffentlichungen bezahlen lassen. Der 'Eagle', zu deutsch 'Adler', wurde von seinem Anwalt als eine Taube geschildert, als ein Paradiesvogel.

Unser Heim, 'Bethel', wo einige der Mitarbeiter unsrer Gesellschaft wohnen, wurde der Schmach preisgegeben, indem man es mit einem Harem u. dergl. verglich. Dies hat mir wahrlich tief ins Herz geschnitten ..."

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1910 zu den Akten gelegt

Band 3 der Russell'schen „Schriftstudien", 1890 erstmal (in Englisch) erschienen, ist zugleich auch jener Band, wo die Russell'schen auf der großen Pyramide zu Gizeh und deren Maßen basierenden Berechnungen, am ausführlichsten dargestellt wurden. Wähnte er in ihnen doch alle anderen ihm bedeutsam erscheinenden Daten, insbesondere auch das Datum 1914, zugleich auch dort vorzufinden.

Angesichts schon der Abenteuerlichkeit der Pyramidenberechnungen allgemein, geht da ein zusätzlicher Aspekt vielfach unter. Das propagierte Datum 1910. Sucht man in heutigen neueren WTG-Veröffentlichungen etwas über ihre nicht wenigen Datenspekulationen, kann man vielleicht - mit Mühe und Not - an versteckter, beiläufiger Stelle, etwas über das Jahr 1925 und seine damit verbundenen Erwartungen vorfinden. Über das Jahr 1910 indes, erfährt man in der heutigen WTG-Literatur nichts.

Indes im Band 3 der „Schriftstudien" (S. 352f.) war 1910 durchaus ein „Thema" gewesen. Das las sich damals so:

Es „sagt die Schrift, so weit wir sehen können, nicht; aber dieses von der Pyramide angezeigte Datum, 1910, scheint gut mit den in der Bibel dargebotenen Daten zu harmonieren. Es ist nur vier Jahre vor dem eigentlichen Anfange der Drangsalszeit, welche die Zeiten der Nationen zu Ende bringt; und wenn wir an die Worte unseres Herrn gedenken -- daß die Überwinder würdig erachtet werden sollen, dem schwersten Teile der über die Welt hereinbrechenden Drangsal zu entgehen, so können wir verstehen, daß sich diese Drangsal auf die große Zeit der Anarchie, die bald nach 1914 folgen wird, bezieht; aber eine besondere Prüfungszeit für die Kirche, die Herauswahl, die Auserwählten nach dem Vorsatze Gottes, ist um 1910 n. Chr. zu erwarten.

Ist dies nicht eine überaus bezeichnende Übereinstimmung zwischen diesem Stein-„Zeugen" und der Bibel? Die Daten Oktober 1874 und Oktober 1881 stimmen genau, während das Datum 1910, obwohl nicht in der Schrift dargereicht, mehr wie gegründet zu sein scheint."

Maßgeblich wurde das 1910-Datum auch von den Gebrüdern John und Morton Edgar in ihrem Buch „Die Gänge und Kammern der Großen Pyramide" (engl. Eine deutsche Übersetzung davon die in verschiedenen Lieferungen aufgegliedert werden und von separierten Bibelforscherkreisen beabsichtigt war, kam offenbar Inflationsbedingt doch nicht zustande) propagiert.

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Reklame-Vorankündigung, entnommen aus „Edgar's Miniatur Bibliothek" Heft 1

Morton Edgar „Das Gebet oder Der heilige Kampf im Himmel" übersetzt von Elise Schutzbach, Gera-Reuß 1920

„Schriftstudien" Band 3 und das Edgar-Buch thematisierten beide das Pyramidenthema. Eine gewisse gegenseitige Abhängigkeit und das gegenseitige abschreiben der errechneten unterschiedlichsten Daten ist dabei unübersehbar.

Die Edgar's gehörten auch zu den Bibelforschern. Im deutschen „Wachtturm" 1913 (S. 186) auch dadurch unterstrichen, daß dort die Reklametrommel für das zweibändige (englischsprachige) Buch gerührt wurde.

Auch das WTG-Buch „Beröer Handbuch zum Bibelunterricht", welches 1912 veröffentlicht wurde und dessen erklärte Zielstellung es war, das weitschweifige, bis dahin erschienene WTG-Schrifttum, inhaltlich zusammenzufassen, erwähnt (S. 189) das der „himmlische Ruf" von 1881-1910 dauerte.

Neben dem schon genannten Band 3 der „Schriftstudien", scheint das Datum 1910 erstmals in der englischsprachigen Ausgabe des „Zions Watch Tower" vom 1. 11. 1896 aufgetaucht zu sein. Kombiniert mit einer weiteren Spekulation.

Da las man: Das Gegenbild des verworfenen Israel sei die nominale christliche Kirche (Babylon) und das entsprechende Datum des Rückzuges Jehovas von Israel sei das Jahr 36 Anno Domino. Dies wiederum wird im „Gegenbild" mit dem Jahre 1881 gleichgesetzt

1881 plus 30 gleich 1911, weiß man daraus abzuleiten: „wenn Babylon vollständig 'verschlungen' oder zerstört werden soll."

Und wem das gar zu abenteuerlich ist, der wird noch belehrt:

„Wir sehen, wie die (große) Pyramide Okt. 1910 anzeigt als das [wahrscheinliche] Datum, wenn die letzten Mitglieder der 'kleinen Herde'", wenn sie treu geblieben, aus ihren gegenwärtigen Schwierigkeiten errettet werden sollen.

Vorstehende Auslegung ist namentlich gekennzeichnet mit: C. H. Dickinson.

Gleichwohl bleibt der Umstand bestehen, dass ZWT das so, ohne inhaltlichen Widerspruch, abdruckte.

Das nächste mal wo wiederum mit dem Jahre 1910 spekuliert wurde, ist der englische „Zions Watch Tower" vom 15. 3. 1898.

Der Spekulant der da zu Wort kommt heißt Clayton J. Woodworth. In späteren Jahren noch berühmt-berüchtigt als Mit-Herausgeber des Bandes sieben der Schriftstudien und von der englischen Ausgabe des „Golden Age" ab Oktober 1919. Auch noch einige andere Skurrilitäten sind untrennbar mit dem Namen Woodworth verbunden. So die zeitweilige Impfgegnerschaft der Zeugen Jehovas, der Kampf gegen Aluminumgeschirr, sowie der gescheiterte Versuch, einen Zeugen Jehovas-eigenen Kalender einzuführen.

Russell stellt eigens ein eigenes Vorwort den Woodworth'schen Spekulationen voran.

In ihm räumt er ein, es sei eine raffinierte Spekulation. Auch habe er den Woodworth'schen Artikel acht Monate lang unveröffentlicht liegen lassen, weil ihm das zu fantasievoll erschien. Offenbar hat er diese Skrupel dann doch noch überwunden und präsentiert seiner Lesergemeinde, das ganze nun doch noch als eines „Lesegenuß"

Zum Aufhänger seiner Ausführungen macht Woodworth den Umstand, dass auch Russell die französische Revolution mit in sein System der Endzeitdaten eingebaut hatte. Da nun, will Woodworth noch „genauer" sein. Er durchwühlt die Details der französischen Revolution nach „passenden" Daten und wähnt dass „15 Jahre und 8 Monate" nach dem 17. Juli 1789 die französische Geschichte in der Person Napoleons einen Meilenstein erlebte. Jene „15 Jahre und 8 Monate" haben es ihm besonders angetan. Grundsätzlich die Russell'schen Spekulationen für 1914 akzeptierend, meint er nun davon „15 Jahre und acht Monate" zurück rechnen zu sollen. Und als gekonnter Zauberer zieht er so das Datum 1. Februar 1899 aus seinem Zauberzylinder

Nicht damit genug meint er weiter schlussfolgern zu können:

15 Jahre und 8 Monate gleichen 188 Monaten; drei Viertel von 188 Monaten wären 141 Monate oder 11 Jahre und 9 Monate. 11 Jahre und 9 Monate ab 1. Februar 1899, würden zum 1. November 1910 führen. Dieses Datum wiederum stimme „mit den Lehren der Pyramide" überein, wie sie auch in Band 3 der „Schriftstudien, engl. S. 363) dargelegt seien.

Quintessenz dieser an Zirkelschlüssen wahrlich nicht geringen Ausführungen ist also der 1. 2. 1899. Man halte sich nochmals das Veröffentlichungsdatum vor Augen, Veröffentlicht im englischen ZWT vom 15. 3. 1898. Also das ganze lief darauf hinaus der gläubigen Klientel zu suggerieren. In wenigen Monaten könnte es schon so weit sein. Das Russell das ganze selbst als unheimlich bewertete, ändert nichts an dem Umstand, dass er es gewesen ist, der diese Spekulation der Öffentlichkeit mitgeteilt hatte, anstatt sie einfach in den Papierkorb zu befördern, wo sie mit Sicherheit besser aufgehoben wäre.

Erneut wird 1910 in der deutschen Ausgabe des „Zions Wacht Turm" vom August 1904 „Thema".

Auch diese Ausgabe spielt wieder wie üblich auf dem „Endzeitklavier". Dennoch gibt es diesmal einige Besonderheiten zu beobachten. Zum einen wiederholt Russell erstmal in dieser WT-Ausgabe das, was er vorher schon verschiedentlich erklärt hatte. Dazu gehören auch solche Sätze wie:

„Jetzt aber leben wir in den Tagen des Menschensohnes. … Wir wissen, daß 1878 das Datum ist, wo unser Herr seine königliche Macht an sich nahm und 'Babylon die Große' verurteilte als 'gefallen', und seitdem sein Volk aus ihr herausruft; es ist auch das Datum, wo die treuen Überwinder, die entschlafen waren, einen Anteil haben sollten an der ersten Auferstehung, um einzugehen in die Freude ihres Herrn … Die Inspektion und Belohnung der Diener des Herrn hat 1878 mit den Entschlafenen angefangen und schreitet seither unter denjenigen fort, die leben und überleben."

Insofern bewegt sich Russell noch in seinen altbekannten Gedankengängen.

Mit abgedruckt in dieser Ausgabe des ZWT ein Artikel mit der Überschrift „Weltweite Anarchie nach Oktober 1914". Wer vorher nicht allzuviel von Russell gelesen hat. Und wer das was er las, eher oberflächlich las, der wird wahrscheinlich da nichts besonderes bemerken. Die Differenzen zu vorhergehenden Russell'schen Ausführungen erschließen sich auch nur dem, der sich eben intensiver mit seinen Gedankengängen beschäftigte. Der Zweck dieses Artikels, der wiederum altes mit neuem kombiniert, ist offenbar der, „Zeit zu gewinnen". Wie Russell in den 1880er Jahren mit seiner Verkündigung im großen Stil begann, da lag ja das von ihm anvisierte Datum 1914 noch in relativ weiter Ferner. Nun aber im Jahre 1904 war es nur noch 10 Jahre „bis Ultimo". Genauer noch weniger. Gemäß Russell sollten die erwarteten Geschehnisse nicht „über Nacht" eintreten, sondern durchaus einen gewissen Vorlauf haben, der im Oktober 1914 seinen Höhepunkt erreichen sollte. Namentlich dem „Anarchismus" wies er dabei eine entscheidende Rolle zu. Mehr noch. Er schätzte ein, dass würde wohl so eine etwa vierjährige Phase sein. In der Konsequenz dessen war er auch bereit, dem Jahre 1910 als Beginn der „anarchistischen Phase" Geltung zuzuerkennen. Das Jahr 1910 sah er zudem in seinen Pyramidenberechnungen bestätigt.

Genau an diesem Punkt beginnt er nun „zurückzurudern". Das ganze zwar in einem Wort-Nebel-Schwall verpackt, aber durchaus erkennbar. Dazu nunmehr Russell:

„Unserer ehemaligen Erwartung nach, daß die anarchistische Periode drei oder vier Jahre dauern würde, berechneten wir bei uns selbst die Gelegenheiten fürs Erntewerk natürlich um jene Jahre kürzer, und somit erschien uns die übrige Zeit um so viel kürzer."

Weiter Russell:

„Nun aber sehen wir deutlich, daß für etliche der Herauswahl sehr wahrscheinlich noch volle zehn Jahre von Erfahrungen, Gelegenheiten, Prüfungen, Siegen, Freuden und Schmerzen übrig bleiben."

Damit legt er die früheren auch von ihm geäußerten Erwartungen für 1910 „zu den Akten."

Und entschuldigend fügt er nun hinzu:

„Andere Daten als diese (1874, 1878, 1881, 1914) sind rein spekulativ. Wir haben auch nie andere Daten als aus der Schrift bewiesene angenommen. Allerdings haben wir auf ein Datum aufmerksam gemacht, das von den Messungen durch die obere Stufe der 'Großen Gallerie' der Pyramide angedeutet wird (Bd. 3, Kap. 10), aber mit dem Vermerk, daß es auf Mutmaßung beruhe."

Wiederum betreibt er ein Doppelspiel. Einerseits, wie eben gelesen, räumt er ein, sein früheres Datum 1910 nunmehr zu den Akten legen zu wollen. Andererseits jedoch, die sattsam bekannte Wendung: „Es könnte vielleicht doch sein." Das liest sich beispielsweise so:

„ … Die Hochkirche Englands ist gern bereit, diesen Funken der Autorität und Kraft mitzuteilen, und es ist unsere Ansicht, daß nach drei oder vier Jahren die Neigung nach Vereinigung und Macht unter Protestanten so sehr zunehmen wird, daß sie willens sein werden in irgend einer Form die sogenannte Apostolische Ordination oder Autorität anzunehmen. Sollte dies bis 1910 nicht der Fall oder anscheinend der Erfüllung nahe sein, so würden wir uns gewissermaßen enttäuscht fühlen."

Seine ganze Argumentation läuft darauf hinaus, formal 1910 nicht mehr zu verkünden; faktisch aber doch nach wie vor, über den Umweg vermeintlicher „Anzeichenbeweise". So auch in seiner These:

„Mittlerweile wird der Sozialismus (der, wenn auch gegen den Willen seiner besten und tüchtigsten Führer, die Anfänge bildet zur Anarchie, weil sich auch seine besten Vorschläge unter gegenwärtigen selbstsüchtigen Verhältnissen, als unausführbar erweisen würden) in der ganzen Christenheit großen Fortschritt machen und immer mehr Ursache geben zur Verwirrung und Verwickelung für die Großen, die Reichen, die Starken, die Weisen, Einflußreichen nach dem Laufe dieser Welt."

Eine Nachwirkung des zu Grabe tragen der ursprünglichen Erwartung, die Phase der „Anarchie", die mal von 1910 - 1914 veranschlagt worden war, und welche Russell in der August-Ausgabe 1904 des „Zion's Wacht Turm" offiziell zu Grabe trug, ist in der Oktober-Ausgabe 1904 des ZWT zu registrieren. Darin hatte Russell den Beginn der „Phase der Anarchie" von ursprünglich 1910 auf nunmehr 1914 verschoben. Da ja die Endzeit-Theorien generell der Hauptbestandteil seiner Ideologie darstellen, regierten einige seiner Anhänger auf diese Veränderung durchaus konsterniert. So sieht sich der ZWT genötigt zu bemerken:

„In der vorletzten Ausgabe dieses Journals zeigten wir, daß die weltweite Anarchie nicht vor Oktober 1914 erwartet werden sollte. Wir haben nun gehört, daß zwei teure Brüder, welche diesen sehr klaren Gegenstand nicht erfassen können, geäußert haben, daß wir in dem erwähnten Artikel die Erklärung abgeben, 'Mein Herr verzieht zu kommen'".

Hatte Russell ursprünglich diese Phase auf etwa vier Jahre während eingeschätzt, so sieht er sich nun mit dem Umstand konfrontiert, dass einigen dies zu lange dauert. Sie wollen es kürzer haben. Auch diesen, die es da kürzer haben wollen, widerspricht er schon mal vorbeugend im gleichen Artikel. An deren Adresse gerichtet äußert er:

„Wir finden, daß einige den Schluß gezogen haben, weil die jüdische Nation durch Anarchie in einem Jahre zerstört wurde, nämlich in dem Jahr, welches der jüdischen Ernte folgte, so sollten wir erwarten, daß sich die weltweite Anarchie auf ein Jahr, von Oktober 1914 bis Oktober 1915, das auf die 'Ernte' des Evangelium-Zeitalters folgt, beschränken muß.

Wir können hierin nicht übereinstimmen, weil das Vorbild oder die Parallele nicht weiter als bis zum Schluß der 40 Jahre 'Erntezeit' geht, bis Oktober 69, wo das Jahr 70 beginnt, nach jüdischer Berechnung. Die Periode der Anarchie liegt außerhalb jeder Berechnung und haben wir für ihre Länge kein Datum. Sie kann ein aber auch mehrere Jahre dauern."

Einen Niederschlag der eben angedeuteten Enttäuschung, angesichts des Zurückrudern Russells bezüglich 1910, kann man auch in der Bibelforscher-Zeitschrift „Die Aussicht" registrieren. Letztere notierte in einem 1920 veröffentlichten Rückblick einmal

„Dass die 'Aussicht' 18 Jahrgänge 'erleben' würde, hat von ihren Gründern damals gewiss keiner geglaubt! Wir waren alle der Meinung, dass die Jahre 1910-1914 die völlige Auflösung der bestehenden Weltordnung und besonders auch die Erlösung des Volkes Gottes (d. h. dessen Wegnahme von der Erde durch den Tod) bringen würde."

Noch einmal kam das Datum 1910 in einem „Wachtturm"-Artikel des Jahres 1913 mit zur Sprache.

Der „Wachtturm" schrieb dazu (1913 S. 101):

„Bei der Besprechung der Großen Pyramide in den Schriftstudien erwähnten wir, daß möglicherweise ein gewisses Maß am oberen Ende der Großen Galerie etwas Bedeutungsvolles für das Ende des Jahres 1910 anzeigen könne. Aber wir hoffen es klargemacht zu haben, daß wir auf diese Annahme nichts aufbauten, denn es war lediglich eine Annahme, eine Vermutung, zugleich auch ein Hinweis darauf, daß das Jahr 1911 mit Interesse zu betrachten sei. Wir können indes sagen, daß jetzt jedes Jahr überaus voll von Gegenständen des Interesses und von das Danken anregenden Vorkommnissen sein muß, nicht nur für unsere Leser, sondern auch für die ganze zivilisierte Welt. es ist gewiß, 'wir leben und wir weben, in großer, schicksalsschwerer Zeit!'

Ja, wir leben in einer Zeit, in der alle Fäden früherer Zeitalter zusammenlaufen, so daß es interessant und zugleich erhaben ist, in ihr zu leben. Und was den Zeitpunkt von 1914 angeht, auf den wir Nachdruck gelegt haben, so haben wir wiederholt unsern Glauben und unsre Überzeugung diesbezüglich ausgedrückt; wir haben aber unsers Wissen niemals so geredet, als ob wir uns für unfehlbar hielten.

Wir haben stets gesagt, daß dies mehr eine Sache des Glaubens und der Überzeugung sei als ein Gegenstand des absoluten Wissens. Wir möchten eine sorgfältige Nachprüfung des Kapitels über die Chronologie anempfehlen; eine solche Prüfung wird uns behilflich sein und wird uns nüchtern halten. Wir sagen darin, daß, wenn unsre Erkenntnis sich völlig auf die Chronologie gründen würde, wir doch bezüglich des Zeitpunktes nicht sicher sein würden, denn unser Glaube hinsichtlich desselben gründet sich hauptsächlich auf die bestätigenden Aussagen verschiedener Prophezeiungen, die damit eng verwoben sind, und die die Zuverlässigkeit der biblischen Chronologie sowie auch unsrer Anwendung derselben in Verbindung mit diesem Datum, zu beweisen scheinen.

Wir haben keinen Grund dafür, das Datum und die damit verbundenen Überzeugungen geringer zu bewerten.

Obgleich nur anderthalb Jahre zur Vollendung der großen Dinge in dem Werk übrig bleiben, so sollten wir nicht vergessen, daß in unsrer wunderbaren Zeit sich in einem Jahre soviel ereignen kann, wie früher in fünf Jahren.

Wir betonen überdies, daß eine Kenntnis der Zeit und Zeiten in Verbindung mit dem göttlichen Plan hilfreich, ermutigend und anregend ist. Nichts destoweniger ist eine solche Erkenntnis in sich nicht das Evangelium. Wenn jedes Datum der Chronologie und jede Prophezeiung ausgelöscht wären, so sollten wir uns noch mit dem Herrn freuen und noch frohlocken ob seines herrlichen Evangeliums, dessen Mittelpunkt Jesus Christus und sein Opfer bildet, sowie der uns verheißenen Teilnahme mit Jesus an der Segnung aller Geschlechter der Erde, als dem Endzweck dieses Evangeliums. Dies ist die gute Botschaft der Gnade Gottes in Christo, einerlei, ob nun die Vollendung der Kirche vor dem Jahre 1914 stattfindet oder nicht … und möchte die Tatsache, daß wir nur stückweise erkennen und nur stückweise verstehen, uns demütig und bescheiden halten in Worten, Taten und Gedanken.

Wir sind davon überzeugt, daß die große Zeit der Drangsal über die Welt kommen wird durch Satan und seine gefallenen Heerscharen. Es wird uns nicht überraschen zu finden, daß die Beweise dafür sich sammeln, daß das Brechen des menschlichen Willens durch Hypnotismus usw. nur einen Teil des großen Planes bildet, durch welchen bald, und zwar allmählich und in vermehrtem Maße, die Gemüter der Menschen beherrscht und die Menschen zu unüberlegtem Handeln und zur Leidenschaft veranlaßt werden. Diejenigen Kinder Gottes, die die Lektion seines Wortes in bezug auf Gelindigkeit, Bescheidenheit im Denken, Ruhe des Herzens im Herrn, geduldiges Ausharren bezüglich seiner Zeit und seiner Wege gelernt haben … werden einen großen Segen empfangen …"

Der nächste Jahrgang   1914

1913er Kommentarserie

Die "Konkurrenz"-Zeitschrift "Aussicht" Jahrgang 1913

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