Wunderweizen

"Das Goldene Zeitalter" nannte sich jene Bibelforscher-Zeitschrift die ab 1922/23 auch im deutschsprachigen Raum erschien. Ihr Titel sollte zugleich Programm sein. Das "Goldene Zeitalter" käme in der Lesart ihrer Herausgeber natürlich nicht durch menschliche Anstrengungen, sondern nur durch Gottes dereinstiges "Eingreifen" am Sankt Nimmerleinstag. Das mit dem "Sankt Nimmerleinstag" sagte man so natürlich nicht. Man wähnte es ganz nahe. Und aufmerksam wie man war, registrierte man auch alle Indizien die in die vermeintliche, ersehnte Richtung wiesen.

Da gab es also zu Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA eine Presseschlagzeile, die von einem sogenannten "Wunderweizen" redete. Kein geringerer als C. T. Russell höchstpersönlich nahm sich ihrer auch an um sie in seinen Publikationsorganen zu kolportieren. In zeitgemäßer "religiöser Einfalt" - letzteres versteht sich fast selbstredend. Jahrzehnte später hat sich auch der Zeuge Jehovas Marley Cole nochmals mit der Angelegenheit befasst. Dabei stellte er fest, dass jener einst für Schlagzeilen sorgende Weizensorte, schon Anfang der zwanziger Jahre wieder verschwunden war. Es war somit keine dauerhafte Züchtung gelungen. Auch merkt er an, dass die Mühlenfachleute diese Sorte nicht gerne annahmen, weil sie einen "Bart" hatte (was immer dies auch bedeuten mag, werden die Mühlenfachleute sicher besser beurteilen können). Aber zeitweise machte jene Sorte durchaus von sich reden. Die Bibelforscher waren angesichts ihrer angedichteten Bedeutung "völlig aus dem Häuschen". Cole vermerkt:

"Im Jahre 1911 spendeten J. A. Bohnet … und Samuel J. Fleming … gemeinsam ungefähr 30 Scheffel Wunderweizen für die Wachtturm-, Bibel- und Traktat-Gesellschaft. Sie schlugen vor, die Gesellschaft solle den Weizen als Saatgut zu einem Dollar pro Pfund verkaufen. … Die Spender hatten verfügt, dass der Erlös von etwa 1800 Dollar der Gesellschaft zukommen und für ihre religiöse Tätigkeit verwendet werden sollte.

Die Gesellschaft, deren Präsident Pastor Russell war, nahm den Beitrag dankend entgegen und verkaufte den Wunderweizen.

Dann kam der 22. März 1911, und das Brooklyner Blatt 'Daily Eagle', ein … Gegner der 'Wachtturms', begann mit einer Serie von Artikeln und Zeichnungen, die sich über den Pastor, seine Religion und seinen Weizen lustig machten. Am 23. September brachte der 'Eagle' eine Karikatur des Pastors und darunter die Frage: 'Wenn Pastor Russell einen Dollar je Pfund Wunderweizen kriegen kann, was hätte er als Direktor der alten Unionbank für die Wunderaktien und -obligationen bekommen können?'

Russell verklagte den 'Eagle' wegen Verleumdung. Der Prozess der darauf folgte, war einer der sensationellsten Gerichtsfälle in den Annalen von Kings County im Staate New York. Es ging um den Streit, 'ob der in Frage stehende Weizen dem gewöhnlichen Weizen überlegen war oder nicht'. … Der Brooklyner 'Eagle' gewann den Prozess."

Jener Vorgang spielte sich "Jenseits des großen Teiches" in den USA ab. Die Hand voll zeitgenössischer deutscher Bibelforscher, die es schon damals hier zu Lande gab, hatte nicht die Einflussmöglichkeit um auch hier eine "Wunderweizeneuphorie" zu starten. Anfang der zwanziger Jahre sah das schon etwas anders aus. Jetzt hatte man auch hierzulande mit dem "Goldenen Zeitalter" ein Publikationsorgan, dass sich auch durchaus an das weiter gespannte Sympathisantenumfeld richtete. Und so fand man dann es für angebracht, auch dem deutschen Publikum jenen Fall zu offerieren. Die von Cole genannten kritischen Aspekte lies man selbstredend weg. Man schilderte den Fall lediglich so, wie er sich in euphorischer Sicht darstellte. Im "Goldenen Zeitalter" vom 1. 10. 1923 (Schweizer Ausgabe 15. 4. 1923) konnte man dazu lesen:

"Die Herkunft des Wunderweizens.

Vor bald zwanzig Jahren entdeckte ein Herr K. B. Stoner in seinem Garten in Fincaetle, Virginia, USA eine ungewöhnliche Pflanze, die er zuerst als eine Art Seegras hielt, dass sich aber bei näherer Betrachtung als Weizen erwies. Die Pflanze zeigte in ihrer vollen Entwicklung hundertzweiundvierzig Stengel, wovon jeder einen ausgereiften Halm trug. Stoner war aufs höchste erstaunt, denn er hatte vorher nie eine Kornpflanze mit mehr als fünf Halmen gesehen. Der ungewöhnliche Ertrag dieser einzigen Pflanze veranlasste ihn, die erzeugten Körner aufzubewahren. Er säte sie im nächsten Herbst auf seinen Acker, das gleiche tat er im folgenden Jahr, um so seinen neuen Weizen aufzuziehen. Der Erfolg war ein ungeahnter. Stoner nannte darum sein neues Korn der wunderbaren Erzeugungseigenschaften wegen 'Wunderweizen'.

Nachstehende Einzelheiten geben uns ein Bild von der Fruchtbarkeit dieses Weizens. Stoner berichtet, dass die Mutterpflanze mehr als 4000 Körner enthielt. Seine erste Saat bestand in 1800 Körnern und jedes Korn brachte durchschnittliche 250 Körner hervor, wogegen der Durchschnittsertrag des gewöhnlichen Weizens auf seinem Gute nur etwa 10 Körner pro Saatkorn betrug. Stoner konstatierte ferner, dass 1 Peck (ein Maß - 15 Pfund) dieses Wunderweizens auf einem Morgen Land über 40 Scheffel ergab (1 Scheffel - ca. 13 Liter), ja sogar erntete er bis zu 80 Scheffel.

Wir können somit ausrechnen, dass der Wunderweizen im Verhältnis zur gesäten Quantität fünfundzwanzigmal soviel Ertrag liefert. Die Ausgiebigkeit dieser Getreideart besteht in ihrer Eigenschaft, eine breite Pflanze zu bilden. Dieser Eigenschaft wegen muss beim Ansäen dem gewöhnlichen Weizen gegenüber ein Platzunterschied beobachtet werden. Zwischen den Samenfurchen sollte ein ungefähr 6 Zoll breiter Abstand bestehen. Wird dieser Weizen wie gewöhnliches Getreide gesät, so misslingt der Versuch. Hauptursache des Erfolges also ist genügende Anbaufläche. Eine Fläche von 4 ½ Zoll Größe, wie sie z. B. heute die amerikanische Regierung gestattet, ist natürlich viel zu klein, um dieser Pflanze die normale Entwicklung zu ermöglichen.

Nach zweijähriger Probe brachte Stoner seinen Weizen nun auf den amerikanischen Markt. Sogleich fand er bei einigen großen Gutsbesitzern Absatz …

Bei verschiedenen landwirtschaftlichen Ausstellungen in Amerika, so z. B. in der Vereinigten Ausstellung Appalachia für die Staaten Tennessee, Georgia und Nord Carolina wurde der Weizen mit 49, 60 und 80 Stengel mit dem ersten Preis ausgezeichnet …

Nach dem im 'Goldenen Zeitalter' schon beschriebenen erstaunlichen Erfolgen, die in der Zucht der Riesengemüse und Riesenfrüchte erzielt wurden, ist es für den Leser des G. Z. nicht weniger interessant, etwas über Wunderweizen zu hören, und zu vernehmen, dass tatsächlich durch diese neue Entdeckung in der Zukunft mühelos unser tägliches Brot um das fünfundzwanzigfache sich vermehren wird. Wie sich auf der einen Seite die Anzeichen der Auflösung der bisherigen Weltordnung mehren, so treten auch schon allseitig die Vorboten eines neuen Zeitalters in Erscheinung, und zu letzterem zählen wir die ans wunderbare grenzenden neuentdeckten Ernährungsmöglichkeiten. Wenn auch zur Zeit die Bedingungen zur rationellen Anpflanzung, Pflege und Verbreitung der neuen Nährpflanzen noch nicht allgemein vorhanden sind, so können Naturgewalten, eruptive Ereignisse usw. doch die Bodenfläche unserer Erde - vielleicht mit einem Schlage, oder doch in kürzester Zeit - derart umgestalten, dass der großzügigsten Entwicklung solcher Wunderpflanzen nichts mehr im Wege steht."

Um das Bild abzurunden, sei noch ein zeitgenössischer Bericht zum Thema "Wunderweizen" zitiert. Die in den USA erscheinende deutschsprachige Zeitschrift "Der Lutheraner" berichtete in ihrer Ausgabe vom 6. Juli 1915:

"'Wunderweizen' zu einem Dollar das Pfund haben die Führer der Russelliten vor einigen Jahren verkauft. Im Jahre 1911 erschien in 'Pastor' Russells Blatt 'Watch Tower' folgende Anzeige: 'Ein Geschenk von Wunderweizen. Bruder Bohnet schreibt uns, daß er nach und nach eine ziemliche Menge Wunderweizen gesammelt hat aus den wenigen Körnern, die er zuerst besaß. Er wünscht, daß die Leser des 'Watch Tower' die ersten sein sollen, die sich von diesem Weizen einen Vorrat sichern können. Er wird ihn für einen Dollar das Pfund (portofrei) verkaufen, und der ganze Profit soll in unsere Vereinskasse fließen. Man adressiere seine Bestellungen: 'Miracle Wheat Bohnet, 17. Hick Street, Brooklyn, N.Y.' Auch in dem Brooklyn-Tabernacle, dem Hauptquartier Russells, das sich eben an 17 Hicks Street in Brooklyn befindet, konnte man den Wunderweizen kaufen. Die Anzeige besagte noch, daß diese Weizenart nur ein Viertel so dicht gesät zu werden brauche als gewöhnliche Sorten, also etwa ein Viertel Bushel zum Acker, daß sie aber etwa zehn- bis fünfzehnmal so reichlich trage als andere Weizen, also mindest hundert Bushels zum Acker.

Der 'Brooklyn Eagle' sandte einen Berichterstatter nach Russells Tabernacle, und dieser kaufte eine Quantität des Wunderweizens. Es wurden Proben davon im Ackerbauamt in Washington untersucht, und das Ergebnis war, daß dieser Wunderweizen nicht besser war als die Sorte, die man zu einem Dollar den Bushel im offenen Markte kaufen konnte! Der 'Brooklyn Eagle' verspottete darauf Russell als Volksbetrüger und Schwindler.

Russell sah sich gezwungen, das Blatt zu verklagen. Er tat es, und die Klage ist nach einer Reihe von Berufungen (appeals) erst vor einigen Wochen vom höchsten New Yorker Gerichtshof entschieden worden, und zwar zugunsten der Zeitung. Den Russelliten ist der Wunderweizenfall sehr unangenehm, denn Russell hat sich dadurch lächerlich gemacht; doch haben sie bisher, wenn man sie im bezug auf diesen Fall fragt, geantwortet, der Prozeß sei 'noch nicht entschieden'. Jetzt ist er entschieden. Übrigens kam bei den Verhandlungen heraus, daß $ 2 000 Wert von dem Weizen verkauft worden war. Man möchte fragen: Wie kam Russell auf diesen Einfall?

Die Sache ist höchst einfach: Russell predigt ja, Christus sei schon seit vierzig Jahren wieder auf Erden und werde bald öffentlich auftreten; die 'Auserwählten', also die Russelliten, kennten ihn schon. Und als ein Wunder des angebrochenen Milleniums stellte er auch eine neue, ungeahnte Fruchtbarkeit des Bodens in Aussicht. Der 'Wunderweizen' sollte ein Zeichen sein, daß die Weissagung anhebt sich zu erfüllen. Und die betörte Menge glaubte ihrem Propheten, meinte, in diesem 'Wunderweizen' die Erstlinge des tausendjährigen Reichs zu sehen!…"

Man vergleiche hierzu auch:

J. F. Rutherford Eine grosse Schlacht i. d. kirchlichen Himmel

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1923er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte