Technologische Auslegungen

Sieht man sich Rutherford's 1921 erstmals erschienenes Buch "Die Harfe Gottes" an, so ist man - je nach Standpunkt - belustigt oder angewidert, über die darin enthaltene "heilige Einfalt", den wissenschaftlich-technischen Fortschritt betreffend. Wollte er doch (in Kontinuität zu Russell) allen Ernstes weismachen, dass alle neueren technologischen Erfindungen in der Bibel "vorhergesagt" seien. Heute ist es diesbezüglich bei den Zeugen Jehovas still geworden. Etwa die Computertechnik, als in der Bibel "vorhergesagt" darzustellen, dass wagen auch sie nicht mehr. Rutherford hatte da noch weniger Skrupel.

Vollmundig verkündete er etwa in seiner 1928 erschienenen Broschüre "Die letzten Tage" (S. 14, 15): "Warum also kamen diese wunderbaren Erfindungen nicht zu seiner Zeit (Großvaters) ans Tageslicht? Warum ist die Entwicklung dieser wunderbaren Verkehrsmittel im kurzen Zeitraum der letzten fünfzig Jahre vor sich gegangen? Können sie sich den Grund dafür denken? Sicherlich besitzen die Menschen unserer Zeit nicht größere Weisheit, als die Männer der Vergangenheit. Wie also ist dies alles zu erklären. In den Worten des Propheten Gottes, die ich eben anführte, finden wir die Antwort, nämlich: Wir leben jetzt in der Zeit des Endes! Als einen Beweis dafür, dass wir die 'letzten Tage' oder die Zeit des Endes erreicht haben, nennt der Prophet z. B. das hin und her rennen und die Mehrung der Erkenntnis. Wohlverstanden, er sagte nicht, dass die Klugheit der Menschen zunehmen würde, sondern, dass sie die vermehrte Erkenntnis erhalten würden, die Gott lange zuvor vorgesehen hat.
In Wahrheit aber hat Gott schon vor dreitausend Jahren durch seinen Propheten diesen drahtlosen Verkehr vorausgesagt. Es steht geschrieben: 'Kannst du Blitze entsenden, dass sie hinfahren, dass sie zu dir sagen: 'Hier sind wir?' (Hiob 38:35). Ist dies nicht tatsächlich das, was ich an diesem Morgen tat, lange bevor ich Sie zu sehen vermochte? Trug nicht das, was wir die Kraft des Blitzes nennen (elektrische Kraft) die Botschaft zu Ihnen? Auch das Luftschiff hat Gott durch seinen Propheten schon vor Jahrtausenden vorausgesagt: 'Wer sind diese, die wie eine Wolke geflogen kommen und gleich Tauben zu ihren Schlägen?' - Jesaja 60:8."

Insbesondere meinte Rutherford der staunenden Umwelt verkünden zu können, der in den 20-er Jahren des 19. Jahrhunderts neu aufgekommene Rundfunk sei in der Bibel schon in uralten Zeiten vorhergesagt worden. Er leitete dann auch gleich noch daraus ab, dass es folgerichtig wäre, wenn er sich dieses "göttlichen" Instrumentariums bedienen würde. Einige Jahre später wurden seine diesbezüglichen Blütenträume etwas gestutzt. Opposition machte sich bemerkbar, der es darum ging, diesen Rutherford wieder aus dem Radio zu verbannen. Und sie hatte langfristig Erfolg. Ja selbst die eigene Radiostation WBBR (in den USA), gab man nach den Jahren der Euphorie, nach 1945 wieder auf. Jenen Sender, auf den man sich in seinen Glanzzeiten, sehr viel eingebildet hatte.

Der Sprung von der Technikeuphorie zu einer nüchternen Betrachtung letzterer, ohne diese gewaltsam als in der Bibel "vorhergesagt" darzustellen, erfolgte nicht in einer spektakulären Aktion. Vielmehr ist ein vorsichtiges taktieren in "homöopathischen" Dosierungen auch hier feststellbar. Ein Beispiel dafür liefert auch das "Goldene Zeitalter" vom 1. 6. 1935 mir einer dortigen Leserfrage und ihrer Beantwortung:

"Frage: Den Ausspruch 'Seit 1918 hat der Herr das Radio, dass er vor mehr als 3000 Jahren vorausgesagt hat, in Tätigkeit gesetzt', habe ich auch schon gehört und ich suchte in der Bibel, auch durch Pfarrer, ohne ihn zu finden. Ich möchte Sie nun bitten, mir zu erklären, wie man dazu kommt, eine Prophezeiung vom Radio in der Bibel zu finden?

Antwort: In Offb. 8:13 und Offb. 14:6 ist die Rede von Engeln, die inmitten des Himmels flogen, die das ewige Evangelium hatten um es denen zu verkünden, die auf der Erde ansässig sind, und jeder Nation und Stamm und Sprache und Volk. Diese Stellen sind in den Büchern 'Licht' erklärt … Gewisse Botschaften des Evangeliums wurden in ganz besonderer Weise durch das Radio (nicht nur durch Verbreitung von Büchern) sehr weit verbreitet. … Die vorgeschriebenen Botschaften wurden alle weltweit verbreitet durch verschiedene Mittel, aber … wurden ganz besonders durch das Radio verbreitet, was dem Allmächtigen natürlich von jeher bekannt war, so dass es in der Offenbarung mit eingeschlossen ist, obwohl das Wort Radio oder Rundfunk in den betreffenden Schriftstellen nicht vorkommt.

Vor vielen Jahren glaubten auch manche, dass sich Hiob 38:35 auf das Radio beziehe: 'Kannst du Blitze entsenden, dass sie hinfahren, dass sie zu dir sagen: Hier sind wir?'

Diese Schriftstelle ist auf die Radiostationen und auf solche, die sie bedienen, angewandt worden. Aber der Text kann eine solche Bedeutung doch nicht haben. Das Radio ist allerdings von der Natur des Blitzes und gehört gleichfalls Jehova an und der Mensch kann das Radio nur mit seiner Erlaubnis gebrauchen. Dieser Text bedeutet aber offenbar, dass Gott es ist, der seine Blitze aussendet und das der Mensch eine solche Macht nicht besitzt. Das Radio ist also eine Offenbarung der Macht Gottes und nicht der Macht irgendeines Geschöpfes. … Es ist nicht nötig, dass die Bibel technische Errungenschaften der Gegenwart voraussagte, etwa Eisenbahnzüge, Flugmaschinen und Radio, um dadurch ihren göttlichen Ursprung nachzuweisen. Vor etlichen Jahren aber glaubte man, dass die Propheten, Nahum, Jesaja und Hiob solche technische Wunder vorausgesagt haben oder das Daniel mit seinem Ausspruch: 'Die Erkenntnis wird sich mehren in der Zeit des Endes' den technischen Fortschritt gemeint habe. Seit einigen Jahren glaubt kein vernünftiger Mensch Gottes mehr an solche technologischen Auslegungen der alten Propheten. Diese Dinge sind alle sinnbildlich zu verstehen.

Technikeuphorie der frühen WTG

1935er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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