Wie hältst du es mit der Sowjetunion?

Im Jahre 1940 warf eine Schweizer Zeitung die Frage auf, warum wohl die Bibelforscher/Zeugen Jehovas sich nicht in dem allgemeinen Klagegesang bezüglich der Verhältnisse in der Sowjetunion einreihen würden.

Vgl. 1940er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte Dort den Abschnitt "Also doch". In dem entsprechendem Bericht ist auch die Rede davon, dass der Zeugen Jehovas-Funktionär Martin C. Harbeck, eine Sondierungsvisite in die Sowjetunion vorgenommen hat. Es wird hinzugefügt, in Begleitung einer weiteren Persönlichkeit, die nicht namentlich genannt wurde. Nun kann man darüber rätseln, wer wohl jener Unbekannter gewesen sein mag. Einen Klarnamen diesbezüglich zu benennen, ist derzeit immer noch nicht möglich. Aber die Sachlage bekommt schon einen tieferen Hintergrund, wenn man einen Artikel, der in der Januar-Ausgabe 1932 des "Goldenen Zeitalters" erschien, dabei mit in die Betrachtung einbezieht.

Man muss auch den gesellschaftlichen Kontext dabei in Betracht ziehen. Gerade Anfang der dreißiger Jahre hatte sich besonders die katholische Kirche, mittels eines "Gebetsfeldzuges" gegen die Sowjetunion stark gemacht. Er fand breite Resonanz. Auch etliche aus anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften, schlossen sich ihr diesbezüglich an. Beispielsweise hatten die Mennoniten, just zu diesem Zeitpunkt, den Höhepunkt ihrer Konfliktlage mit der Sowjetunion erreicht, die sie nur durch die erzwungene Emigration aus der Sowjetunion, in eine ungewisse Zukunft, zu lösen vermochten. Eine Schauermeldung nach der anderen, überflutete die Berichterstattung über die Sowjetunion in diesen Tagen. Es war ganz offensichtlich, dass insbesondere die sowjetische Kirchenpolitik jener Tage der Stein des Anstoßes war. Man musste schon mit der Lupe suchen, wollte man Stimmen finden, die sich diesem Kritikerchor nicht anschlossen. Abgesehen von ein paar orthodoxen Kommunisten, die ohne Gehirn ihre Glaubenslitanei herunterbeteten, waren solche Stimmen fast überhaupt nicht auffindbar, im von der Sowjetunion unabhängigen Ausland.

Eine einsame Ausnahme von diesem Trend ist dennoch nachweisbar. Und das waren ausgerechnet die Bibelforscher/Zeugen Jehovas. In der genannten Ausgabe des "Goldenen Zeitalters" konnte man die folgenden Ausführungen lesen:

"Viel wird über Russland geschrieben. … Während wir erkennen, dass nur das Königreich des Herrn die verworrenen Verhältnisse der Erde wieder in Ordnung bringen kann, ist es doch offensichtlich, dass auch die Sowjets die Verderbtheit des kirchlichen, des politischen und des finanziellen Systems erkennen. Sie lehnen diese Systeme ab, aber sie wissen nicht, wie wir, etwas Besseres dafür.

Da sie nun diese unheilige Dreieinigkeit angreifen, werden sie von der Presse, besonders von so konservativen Zeitungen wie die Londoner Daily Mail, angefeindet und verleumdet. Wie bekannt, genießt die Daily Mail in hohem Maße die Unterstützung der römischen Kirche. Wenn man solche giftigen Artikel, wie sie von Zeit zu Zeit in den Zeitungen erscheinen, liest, muss man glauben, dass in Russland fast jedermann ein Halsabschneider und Mörder sei, der mit einem halben Dutzend Dolchen in der Tasche herumläuft, deren Hefte herausgucken. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall.

Als der Papst erfahren hatte, dass der Betrug der griechischen Kirche während der Revolution aufgehoben worden war, hätte er gern das Land mit einem Heer von Parasiten gefüllt, die darauf gesehen hätten, dass sie in ihrem Wohlleben die Unterstützung des gewöhnlichen Volkes genössen. Tatsächlich haben im letzten Jahre weder Verfolgungen von Christen noch von Priestern stattgefunden, weil es gar keine Priester im Land gab, die unter der Kontrolle einer ausländischen Macht, der Kirche von Rom oder England etc., standen.

Man hat einfach das, was während der Revolution geschah, noch einmal veröffentlicht, um das Publikum glauben zu machen, dass es sich 1930 ereignet habe. Die Hoffnung, die man dabei hatte, war wohl, dass das Volk zustimmen würde, dass die verschiedenen Nationen eingreifen möchten.

Obwohl wir natürlich die Methoden nicht billigen können, die die Bolschewisten anwandten, um sich ihrer Feinde, der Priester, zu entledigen, so müssen wir doch sagen, diese Beiträge haben nur geerntet, was sie gesät hatten. Haben nicht auch Rasputin und seine Schar von Mördern in langen Gewändern, an denen, wie die Bibel sagt, dass Blut unschuldiger klebt, damals wirklich eine blutige Ernte gehalten? Man sollte meinen, diese Herren müssten sich diese Lektion zu Herzen genommen haben.

Aber nein, gewisse Leute in Rom halten ihre Augen auf die Millionen Russlands gerichtet, und wie der Teufel selbst, war man selbstsüchtig genug, sie für sich selbst erobern zu wollen.

Darum benutzte man solche Zeitungen wie die Daily Mail und andere, diese Ansichten in die Welt hinauszuposaunen. Das Volk hat solcher Zeitungspropaganda gegenüber immer ein Auge weit offen, aber das andere fest zu.

… Die Menschen dort dürfen Gott anbeten, wie sie wollen, aber sie müssen sich ihre Führer selbst wählen, und dürfen nicht Herrn Ratti oder den Erzbischof Soundso für sich bestimmen lasen.

Glaubt mir, dass russische Volk weiß über die Falschheit der kirchlichen Systeme fast ebensoviel wie die Bibelforscher. Es ist nur schade, dass sie den großen Gott Jehova nicht als den einzigen kennen, der eine Regierung aufrichten kann, die der ganzen Menschheit Leben, Freiheit und Glück bringen kann. Ich bin zweimal in Russland gewesen und möchte gern ein drittes Mal in das Land gehen, wo ich gerade das Gegenteil von dem erlebte, was in den blutrünstigen Zeitungsberichten geschildert ist.

Zweifellos hat der Kommunismus viel Gutes an sich, aber zweifellos auch ebensoviel Schlechtes. Aber das Königreich Gottes wird alles gut machen. G. L. R. "

Zu jenem Artikel gab es noch ein Nachspiel. Darüber berichtet das "Goldene Zeitalter" in seiner Ausgabe 16/1932. Ein offensichtlich zu den Nazis gehörender Leser machte sich in einem Leserbrief "Luft". Sein Protestschreiben verdient es durchaus beachtet zu werden, da es markant verdeutlicht, wie die Nazis schon in der Frühzeit über die Bibelforscher dachten. Es würde zuweit gehen, jene nazistische Äußerung jetzt auch im Detail auseinanderzuklauben. Sicherlich gibt es auch zu ihr etliches kritisch anzumerken. Aber es darf vorausgesetzt werden, dass der geneigte Leser zu dieser Kritik am Nazismus selbst in der Lage ist. Besagter Nazi schrieb in seiner Entgegnung:

"Berlin, 22. Juni 1932.

… So gefallen Sie sich z. B. (was ja garnicht mehr zur Sache gehören sollte) darin, den Staat der Sowjets in wärmster Weise ins Sonnenlicht zu stellen. Sie wissen ganz genau, was gegenüber den russischen Errungenschaften für Tod und Erbitterung über dieses Land der Gottlosigkeit hinweggegangen ist. Wenn Sie also wirklich neutral denken wollen und dies dokumentieren, wäre es höchst vorteilhaft gewesen, wenn sie gegenüber der ruhmvollen Shäusen Rede ein recht geharnischtes Wort hinzugesetzt hätten, dass nämlich über ein gottloses Land überhaupt kein Urteil gefällt werden solle, denn solches ist jedenfalls zum Untergang verurteilt, wenn es so bleibt. …

Die ganze Tendenz ihres Blattes ist kommunistisch, oder so kommunistisch infiziert, dass sie es scheinbar selber noch nicht wegbekommen haben. Wenn Sie schon so neutral alle Dinge der Welt darstellen wollen, warum haben Sie denn, bei allen Schattenseiten nicht einmal eine Würdigung des Nationalsozialismus gefunden?

Dieser scheint in Ihren Augen reinstes Teufelswerk, aber das Sowjetparadies ist als effektive Tatsache in Ihrer Darstellungsweise immerhin Wert das man sich mit ihm befasse?! …

Gewiss sind auch im Nationalsozialismus verschiedene Kräfte am Werk um weniger auf Christlichkeit bedacht zu sein. Aber das Wesen der Bewegung ist im christlichsten Sinne aufbauend und der Natur entsprechend. Sie scheinen Ihr Wissen über den Nationalsozialismus ausschließlich aus den demokratisch jüdischen Zeitungen herauszulesen.

Die Tendenz Ihres Blattes geht aber daraufhin, über alle von Gott geschaffenen Rassen einen Strich zu machen und einen Welt und Rassenbrei zu predigen. …

Haben Sie denn noch nie von den durch Jahrhunderte schon gehende Rassenlehren etwas gehört? Dass Sie noch so einen Unsinn wiedergeben konnten? Ich würde Ihnen sehr empfehlen das prophetische Werk von Jacob Lorber zu lesen: 'Die Haushaltung Gottes' da würden Sie von solcher unantastbarer Seite einmal die Geheimnisse Gottes von einer anderen Seite schauen.

Sie tun der Arbeiterschaft keinen guten Dienst, indem Sie versuchen recht proletarisch zu erscheinen. Sie treiben die Leser ideologisch geradezu in die Gottlosigkeit Russlands. Das Ihnen aber der Nationalsozialismus zehnmal fluchwürdiger und teuflischer scheint, als die Theorien des Kommunismus, dass sagt eigentlich schon soviel, dass es schade ist um viele Worte noch zu verlieren. …

Ich raten Ihnen nur eines: Verzichten Sie zukünftig, sich in die innerdeutsche Lage, vom Standpunkt Ihrer Gottesanschauung so einzumischen, dass es eindeutig wird, dass Sie die Ihnen wesensfremde Anschauung des Nationalsozialismus unterhöhlen um in versteckter aber sehr kluger Form und in mannigfaltigster Art, den Völker und Rassenbrei zu lehren und den Lesern zu suggerieren und die bolschewistische Gleichmacherei zu predigen.

Ich habe soviel Einfluss beim Führer der größten deutschen Volksbewegung, dass nach Machtergreifung durch Hitler, Ihr Blatt am längsten in der jetzt aufgemachten Weise erscheinen wird dürfen. Ich habe ab jetzt ein sehr wachsames Auge auf Ihre Ausführungen … Aber sollten Sie es sich weiter angelegen sein lassen, für den Bolschewismus und gegen den Nationalsozialismus in die Bresche zu springen, wird dies nicht Ihr Vorteil sein. … O. Sch., Berlin."

In ihrer Antwort auf dieses offensichtliche Drohschreiben, bringt die Schriftleitung des "Goldenen Zeitalters", mit Quellenangabe, dann Nachweise dafür, dass Sie sich sehr wohl auch schon kritisch über die Sowjetunion geäußert hatte. Insbesondere wird moniert, dass es den Zeugen Jehovas nach wie vor verwehrt sei, auch in der Sowjetunion Fuß zu fassen.

Bezeichnenderweise wird jedoch in dieser Antwort in keiner Weise auch eine eingeforderte Stellungnahme zum Nationalsozialismus abgegeben. Weder in Pro noch in Kontra. Das Thema wird als Luft behandelt, während man dem nazistischen Kritiker in der Frage der Kritik an der Sowjetunion, durchaus glaubt entgegenkommen zu können. So war es also um den "antifaschistischen" "Widerstand" zu jener Zeit bestellt!

Zum Thema "Antifaschismus" gilt es noch eine Zusatzbemerkung zu machen. Die Zeitschrift "Das Goldene Zeitalter" erschien in Deutsch, in den Jahren vor 1933 in zwei verschiedenen Ausgaben. Eine in Deutschland redigierte und eine in der Schweiz. Es sind diverse inhaltliche und zeitliche Unterschiede zwischen den beiden Ausgaben nachweisbar! Nicht alles, was man in der Schweiz lesen konnte, war auch in der deutschen Ausgabe enthalten - und umgekehrt.

Also in der Schweizer Ausgabe des "Goldenen Zeitalters" gibt es durchaus einen Artikel, den man als antifaschistisch einschätzen kann. Und zwar in der dortigen Nummer 246 vom 15. Dezember 1932. Meines Wissens wagte es die deutsche Redaktion jedoch nicht, diesen Artikel gleichfalls nachzudrucken! Ein Zeichen, wie es um ihren "Mut" bestellt war. In der Sache stellt dieser Artikel lediglich einen Nachdruck aus einer anderen Zeitschrift dar. Aber man wird schon sagen können, dass er in seiner Aussage deutlich ist.

"Kirche mit Hakenkreuz

Wer Gelegenheit gehabt hat, in der letzten Zeit mit Pfarrern der evangelischen Kirche (Deutschlands) zusammenzukommen, wird eine merkwürdige Entdeckung gemacht haben: Sie sind zusehends moderner geworden. Nicht nur einzelne, sondern die Mehrzahl von ihnen.

Man könnte den Sachverhalt allerdings auch einfacher umschreiben. Aber dann wirkt er nicht mehr so eindrucksvoll. Dann muss man trocken und nüchtern feststellen, dass die Kirche heute darauf und daran ist, sich zum Evangelium Hitlers zu bekehren. Die Begründung für diesen Entschluss ist bezeichnend.

'Wir wollen dem Nationalsozialismus gegenüber', so sagen die pastoralen Apostel jüngster Prägung, 'nicht wieder den gleichen Fehler begehen, den die Kirche ehedem der Sozialdemokratie gegenüber begangen hat. Wir wollen nicht abermals den Vorwurf auf uns laden, an einer zeitgeschichtlich bedeutungsvollen Bewegung vorübergegangen zu sein, ohne ihren Idealismus anerkannt zu haben und für ihre berechtigten Forderungen eingetreten zu sein. Jetzt oder nie ist der Augenblick gekommen, den verlorenen Boden zurück zu erobern und die Sympathien der Massen wieder zu gewinnen.'

Und nach wie vor kümmert sie sich nicht darum, ob die Macht, der sie sich zu verschreiben gedenkt, zu ihrem angeblichen innersten Wesen, nämlich zu der Lehre von der bedingungslosen Nächstenliebe, denn auch nur die mindeste Beziehung aufweist. Täte sie es, so müsste sie ja doch wohl bemerken, dass der Nationalsozialismus im schroffsten Gegensatz zu allem steht, was christlich ist, dass er die Gewalt verherrlicht und die Nation vergattert, während Jesus die Gewaltlosigkeit gepredigt hat und in erster Linie darum gekreuzigt worden ist weil er ein schlechter Patriot war und es mit den 'Zöllnern und Sündern' hielt, d. h. den als Volksverrätern geltenden Steuereinnehmern des Landesfeindes und den Römern selbst, die dem jüdischen Nationalisten als unrein und als Sünder galten.

Die Kirche will die Massen auf ihre Seite bekommen. Glaubt sie, dass sie es so erreicht? Ich fürchte, sie wird sie nur weiter sich entfremden, - selbst wenn sich nach ihrem Übertritt zum Hitlerismus die Gotteshäuser für eine Weile wieder füllen sollten. Es wird ihr gehen wie im Kriege, als sie es unternahm, die Waffen zu segnen und denen, die sie führen sollten, ein gutes Gewissen zu machen. Der Zeitlauf, den sie sich durch diese ihre Wendigkeit und Modernität verschaffte, wurde von ihr schon nach ein paar Jahren durch eine Kirchenaustrittsbewegung gebüßt, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Und diesmal wird es ihr nicht besser gehen. Sie wird sich nicht zu wundern brauchen, wenn sie auf ihren Hakenkreuzen ebenso sitzen bleibt wie ehedem auf ihren eisernen Kreuzen

Aus 'Die Sonntags-Zeitung' von Dr. E. Schairer, ehem. evang. Priester in Stuttgart."

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1932er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte