Prohibition

Es war eine amerikanische Erfindung, jenes totale Alkoholverbot in den zwanziger Jahren in den USA, dass in der Praxis aber auf die vielfältigste Weise unterlaufen wurde. Wer Geld hatte, der konnte auch Alkohol haben. Es waren besonders die Kirchen, die sich auf jenes Alkoholverbot vieles zugute hielten. Und es war wiederum bezeichnend, dass ebenfalls ein religiöser Führer, namens Rutherford, mit zu den schärfsten Kritikern der Prohibition gehörte. Der Fairness halber wird man einräumen müssen, dass Rutherford mit seiner Agitation gegen die Prohibition, so "schief" nicht lag. Die Kritik gilt in diesem Punkt also eher seinen kirchlichen Kontrahenten.

Ein Beispiel, wie Rutherford gegen die Prohibition argumentierte, kann man auch seiner 1932 erschienenen Broschüre "Frohe Botschaft" entnehmen, wenn darin ausgeführt wird:

"Bei der Hinausführung seiner Pläne gebraucht Satan stets Betrug und Täuschung, wodurch viele Menschen guten Willens irregeführt werden. Zum Beispiel waren manche Leute mit guten Absichten dabei behilflich, in Amerika ein Prohibitionsgesetz [Alkoholverbot] einzuführen, und manche behaupteten sogar, daß Jehova dessen Einführung und Durchführung überwaltete. Trotz ihrer guten Absichten wurde das Prohibitionsgesetz ein Grund für die große Zunahme von Verbrechen. Das allein beweist, daß Jehova Gott mit diesem Gesetz nichts zu tun hatte. Satan möchte, daß die Menschen denken sollen, Gott sei der Urheber des Alkoholverbots, und damit glaubt Satan viele nüchtern denkende Menschen dahin zu bringen, ihr Vertrauen zu Gott zu verlieren und sich von ihm abzuwenden. Jehova ist allmächtig, und wenn er einmal damit beginnen wird, das Alkoholübel und andere ähnliche Übel auszurotten, so wird er es gründlich besorgen, und es wird nicht notwendig sein, eine ganze Armee von fanatischen, mit Gewehren ausgerüsteten Menschen anzustellen, um diesen Zweck zu erreichen.

Die Schlacht von Harmagedon wird bald ausgetragen werden, und durch sie wird jede ruchlose Organisation unter der Sonne gänzlich vernichtet werden."

Ein besonders markantes Dokument dazu, ist in der (Schweizer) Ausgabe des "Goldenen Zeitalters" vom 1. 11. 1930 in der Form einer Frage und ihrer Beantwortung abgedruckt. Im einzelnen wurde dort dazu ausgeführt:
"Frage: Da das Prohibitionsgesetz in Amerika hauptsächlich von der Geistlichkeit befürwortet wird, möchte ich gern wissen, ob die Bibel etwas darüber sagt? …

Das Prohibitionsgesetz stützt sich in keiner Weise auf die Bibel. Auch mit dem gesunden Verstande kann man es nicht gutheißen, während die Bibel sowohl wie auch der gesunde Verstand zu Mäßigkeit rät. Die Bibel verwirft Trunkenheit. Wenn aber die Menschen ein Gesetz aufstellen, dass jemand, der auch nur mäßig berauschende Getränke genießt, lebenslänglich ins Zuchthaus wandern muß, so ist das ungerecht, brutal und böse.

Warum also von allen Ausschweifungen gerade eine herausgreifen und zu einem Verbrechen machen? Ist ein Mensch, der in mäßiger Weise gegorenen Fruchtsaft genießt, deshalb in irgend einem Sinne des Wortes ein Verbrecher? Er schadet weder sich noch anderen damit, während ein unzüchtiger Mensch oder jemand der dem Tabakgenuß frönt, sich selbst schädigt und anderen lästig wird. Warum sperrt man nicht lieber solche lebenslänglich ein?

Außerdem hat Gott niemals einem Menschen oder einer Gruppe von Menschen das Recht gegeben, den freien Willen oder die sittliche Entscheidung anderer zu beeinträchtigen. Wenn wir uns anmaßen, einen Menschen im mäßigen Genuss von Dingen, die Gott nicht verboten hat, zu hindern, so ist das eine Beschränkung der Gewissensfreiheit unseres Nächsten und ein unberechtigtes Eingreifen in die Anordnungen Gottes.

Man verstehe uns jedoch ja nicht so, als wollten wir für einen übermäßigen Genuss berauschender Getränke eintreten. Keineswegs, wir betrachten die Sache nur vom Standpunkt des Prinzips und der göttlichen Gesetze aus, und sind selbst gegen jede Unbotmäßigkeit im Trinken wie im Essen.

Außerdem hat das Alkoholverbot in Amerika das Gegenteil von dem bewirkt, was bezweckt war. Das ganze Land ist mit Verbrechen und Gewalttat erfüllt. Es gibt heute mehr des giftigen Wirkens und des Bootlegginggeschäftes als früher. Dieses Gesetz ist das Ergebnis menschlicher Weisheit, die nicht nach Gott fragt, und die Torheit bei Gott ist, wie uns die Bibel sagt. Es ist nichts weiter als ein Bestreben einer gewissen Klasse, Gewalt über ihre Mitmenschen zu bekommen und wie alle anderen Gewaltmaßnahmen muss auch diese ein Fehlschlag sein."

Eine Polemik in Sachen Prohibition ist auch in der 1930 (dt.) erschienenen Rutherford-Broschüre "Verbrechen und Unglück" enthalten. Nachstehend das entsprechende Zitat (S. 9-11):

"Die Vereinigten Staaten traten 1917 in den Weltkrieg ein und sandten Millionen ihrer Männer auf die Schlachtfelder. In deren Abwesenheit erwirkten die daheimgebliebenen selbstischen Interessengruppen, gedrängt durch die Geistlichen und Spirituosenschmuggler, daß der sogenannte achtzehnte Verbesserungsantrag zu einem Teil der Verfassung der Vereinigten Staaten erklärt wurde. Die Tatsache, daß dabei die Geistlichkeit eine führende Rolle spielte, veranlaßte viele Millionen ordnungsliebender Leute, zu glauben, sie müßten sich dieser Bewegung anschließen. Bald hierauf aber begannen die Verbrechen überhandzunehmen, und seither haben sie weiter zugenommen, und die Schuld hierfür ist großenteils den fanatischen Religionsführern zuzuschreiben, die die Einführung und die grausame Handhabung des Gesetzes veranlaßt haben. Berauschende Getränke werden in Amerika immer noch in Überfluß hergestellt, und gewisse Leute können sie sich ohne Schwierigkeit verschaffen, aber der arme Mann muß, wenn bei ihm auch nur eine kleine Menge Alkohol gefunden wird, dafür Strafe verbüßen. Die Geistlichkeit und andere Fanatiker haben auf die strengste Durchführung des Alkoholverbots gedrängt, ungeachtet dessen, wie viele andere Gesetze dabei verletzt werden.

Die New Yorker Tageszeitung 'American' schreibt am 11. Dezember 1929:

'In Towanda, Pennsylvanien, wurde etwas über ein Viertelliter Branntwein in der Mauer eines Ladens gefunden, wofür Georg Vogle zu drei Jahren Gefängnis und 5000 Dollar Geldstrafe, seine Schwester zu einem Jahr Gefängnis und 1000 Dollar Geldstrafe verurteilt wurden. Am gleichen Tage wurde in Philadelphia Edward Beaner zu zwei Jahren Gefängnis und 200 Dollar Geldstrafe verurteilt, weil in der Seitentasche seines Automobils ein Viertelliter Schnaps gefunden wurde."

Im November 1929 veröffentlichte der Washingtoner 'Herald' Auszüge aus öffentlichen Berichten, woraus hervorgeht, daß 1360 Männer, Frauen und Kinder bei den Maßnahmen zur Durchführung des Alkoholverbotes getötet worden sind. Die Zeitung 'New York American' bezeichnet es als ein 'Flinten-Alkoholverbot'.

Ein Gericht in den Vereinigten Staaten entschied kürzlich, daß jemand, der wisse, daß sein Nachbar im Besitze berauschender Getränke sei, und es unterlasse, dies der Behörde anzuzeigen, sich eines Kapitalverbrechens schuldig mache. Die grausame, ungewöhnliche Weise, in der dieses Gesetz durchgeführt wird, ebnet den Weg und veranlaßt die Bürger, sich gegenseitig zu bespitzeln, um andere in Schwierigkeiten zu bringen. Auch hat das Gesetz gewissenlosen Menschen den Weg geebnet, giftigen Schnaps herzustellen und zu verkaufen, der den Tod von Tausenden verursacht hat."

Das Thema Prohibition war für die WTG offenbar so bedeutsam, dass sie dazu (in Englisch) im Jahre 1930 eine eigene Broschüre veröffentlichte von J. F. Rutherford. Deren Titel:

"Prohibition und Völkerbund. Aus Gott oder dem Teufel geboren. Was ist der richtig? Der biblische Beweis". Sie beinhaltet ein Konglomerat mehrerer kleinerer Vorträge, die Rutherford auch über das Radio publiziert hatte (Watchtower national chain program). Auch darin erteilt er der offensichtlich besonders von kirchlichen Kreisen getragenen Anti-Akoholbewegung (oder wie in dieser Broschüre formuliert wird Anti-Salon-Liga) eine klare Absage. Ein Zitat daraus:

"Die Wirkungsmethoden der Liga haben das hervorgebracht, was man als Schwarzbrenner kennt. Jemand verschafft sich billigen Whisky und macht ihn noch schlechter, und dann bietet er ihn den Leuten zu einem exorbitanten Preis an, und daraus ergibt sich viel Leid und Tod. Der Schwarzbrenner bereichert sich und verdirbt viele Leute. Niemand kann ehrlich behaupten, dass Gott so etwas auch noch unterstützt.

Ein großes Heer von Beamten ist von der Regierung dazu ernannt und bevollmächtigt worden, dem Prohibitionsgesetz Geltung zu verschaffen. Diese Männer sind mit tödlichen Gewehren ausgerüstet und angewiesen, sie zu benutzen, wenn es nach ihrem Dafürhalten notwendig ist. Der professionelle Blockadebrecher kommt an diesem Heer bewaffneter Beamter vorbei, vorausgesetzt, er teilt seinen Profit genügend. Der arme und harmlose Bürger, der die Straße entlangfährt und den man zum Halten auffordert und der das nicht sofort tut, wird von einem Angehörigen dieses Beamtenheeres unter dem Vorwand, der Mann besitze verbotenen Alkohol, sofort niedergeschossen. Oft findet man, dass der arme Mann nichts derart hatte und dass sein Tod vollkommen ungerechtfertigt war. Der vor einigen Monaten veröffentlichte offizielle Bericht zeigt, dass bei dem gescheiterten Versuch, dem Prohibitionsgesetz Geltung zu verschaffen, bereits 1 360 Menschen getötet wurden."

Die Anti-Salon-Liga sagt, wenn diese Beamten unschuldige Menschen niederschössen, so sei das gerechtfertigt, weil sie für eine gerechte Sache töteten. Recht häufig beschlagnahmen diese Beamten, die von Übeltätern zu Unrecht besessenen Alkohol, nehmen diesen an sich zum eigenen Gebrauch und verkaufen ihn gesetzeswidrig an andere. Die Operationen der Anti-Salon-Liga fördern daher das Lügen, Stehlen und Morden. Alles dies wird durch das Wort Gottes angeprangert. Diese Früchte, die die Liga und ihre Anhänger bei den Menschen tragen, beweisen über jeden Zweifel erhaben, dass die Anti-Salon-Liga kein Abkömmling Gottes ist und in keinerlei Hinsicht seine Anerkennung genießt. Die Anti-Salon-Liga setzt sich großenteils aus professionellen Religionsführern zusammen, die den Anspruch erheben, Gottes Wort zu predigen, die das aber nicht tun."

Mag man Rutherford in dieser seiner Argumentationsdiktion auch weitgehend zustimmen. Mag man die amerikanische Prohibitionspolitik als in der Sache verfehlt einschätzen. Dennoch gibt es auch etwas an Rutherford selbst zu kritisieren. Er selbst bringt in seiner Broschüre das Beispiel Russland, wo sich eine starke antikirchliche Strömung breit gemacht hat. Er erwähnt aber auch (und da hat er so unrecht nicht), dass dort das Pendel in die andere Richtung ausgeschlagen ist. Das Gegenteil der sowjetischen Entwicklung war das Staatskirchentum der Zarenzeit in Russland. Rutherford befürchtet nun, dass die kirchlichen Prohibitionisten, mit ihrer überspannten Politik, vielleicht gar auch in den USA eine solche Entwicklung provozieren könnten und das möchte er vermeiden. Soviel zu seiner Motivation.

Er äußert aber noch einen anderen bedeutsamen Satz:

"Aber jemand mag fragen: 'Ist es heute nicht die Pflicht eines Christen, die Welt zu erneuern zu versuchen sie zu bessern?' Die Bibel antwortet darauf mit einem 'Nein', weil das unmöglich ist. Ein Christ hat die Aufgabe, ein Zeuge für den Namen und das Wort Jehova Gottes zu sein und den Menschen zu sagen, warum es soviel Leid auf der Erde gibt, und die Menschen und die Herrscher auf die bevorstehende Drangsal und auf die Segnungen des darauf folgenden Königreiches aufmerksam zu machen. Das ist der einzige Grund dafür, heute das Evangelium über Rundfunk, von Haus zu Haus oder durch gedruckte Publikationen zu predigen."

Mit anderen Worten: In einer innenpolitischen Kontroverse in den USA, unter maßgeblicher Beteiligung kirchlicher Kreise. In einer Kontroverse, wo man festzustellen hat, dass diese kirchlichen Kreise eine verfehlte Politik mittrugen, wenn nicht gar deren Motor waren. In dieser Kontroverse sagt Rutherford nicht einfach nur: Ändert eure Politik. Nein, er geht darüber hinaus und nimmt dies zum Anlass um den klassischen Opiatcharakter der Religion zu betonen. Er möchte also seine kirchlichen Gegner auch in die Ecke jener drängen, die durch ihre Praxis die Religion zum Opium des Volkes degradieren. Indem der Dealer Rutherford gravierende Fehler seiner kirchlichen Kontrahenten wahrnimmt, glaubt er eine günstige Chance diesbezüglich zu haben. Dies ist der reale Kern der Zeugen Jehovas-Religion. Auch am Beispiel des Prohibitionsstreites belegbar!

Thematisch zuortbar auch jene Meldung, welche die Schweizer Ausgabe des „Goldenen Zeitalters" in ihrer Ausgabe vom 15. 6. 1929 weitergab:
„Religion und das Prohibitionsgesetz in Illinois (Ver. St)
Ein Bibelforscher kam mit seinen Büchern auf eine Farm in der Nähe von Carriers Mill in Illinois, erzählte dem Inhaber derselben von dem hereinbrechenden Königreich und bot ihm die Literatur der Bibelforscher an. Der Mann hörte ihn ruhig an und sagte dann, er sei gewiß ein Fremder; denn wenn er aus seiner Gegend wäre, würde er sicher nicht mit religiösen Schriften zu ihm kommen, wegen seines Geschäftes. Er sagte:
"Ich bin ein Whiskyhändler und besorge den Whisky für den Geistlichen von Carriers Mill. Tatsächlich habe ich ihm erst vorgestern ein "Demiyong" in seinen Keller gebracht. Auch verschiedene Glieder seiner Kirche kaufen Whisky bei mir, sogar der Superintendent der Sonntagsschule.
Sie haben mir gesagt, ich könne Whisky verkaufen so viel ich wolle, wenn ich nur jede Woche zehn Dollars für ihre Kirche gäbe.
Ich selbst gehe nie in die Kirche, aber ich schicke meine Frau mit den zehn Dollars hin. Ich wohne jetzt drei Jahre hier und jeder kennt mein Geschäft. Was denken Sie darüber?"
Ich antwortete ihm, daß ich weit mehr Achtung vor ihm habe, als vor dem Geistlichen; denn er behauptet nichts anderes zu sein als er ist, während der Geistliche durch und durch ein Heuchler und Lügner ist.

Parsimony.22179

Mysnip.524023

Die Ära Rutherford

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1930er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte