Obrigkeit

Es ist zur Genüge bekannt, dass im Jahre 1929 die Rutherford'sche Bibelforscherorganisation den allgemein christlichen Konsens in der Obrigkeitsfrage gemäß Römer Kapitel 13, kappte. Man weis auch, dass gerade jene dogmatische Zäsur es gewesen ist, die sie dann noch im Hitlerregime dazu befähigen sollte, im besonderem Masse die Kraft für widerständiges Verhalten zu entwickeln. Man weiß weiter, dass im aufbrechenden kalten Krieg der Nachkriegsjahre, jene modifizierte Obrigkeitslehre weiter wirksam war und sich auch in den Speerspitzenaktivitäten der Zeugen Jehovas im kalten Krieg "bewährte". Man weiß schließlich auch, dass bezeichnenderweise nach dem "DDR"-Mauerbau jene modifizierte Obrigkeitslehre wieder zu den Akten gelegt wurde, dieweil sie die theoretische Möglichkeit beinhaltete, vom passiven zum aktiven Widerstand umschlagen zu können. Dies aber war selbst den Brooklyner Gewaltigen nicht "geheuer". Weniger indes weiss man, wie seinerzeit im Jahre 1929 jener dogmatische Schwenk im "Wachtturm" begründet wurde. Im nachstehenden sei daher aus jenen Ausführungen des "Wachtturms" vom 1 + 15. Juli 1929 zitiert, der sich dem Thema der vermeintlichen "Höheren Gewalten" widmete:

"Die Anweisung im dreizehnten Kapitel des Römerbriefes ist lange falsch angewandt worden. Diese unpassende Anwendung ist tatsächlich die Grundlage für die falsche Lehre, dass Könige oder Herrscher ein ihnen durch Gottes Gnade gegebenes Recht hätten, die Menschen zu beherrschen und zu unterdrücken. Die hier von dem Apostel gegebene Anweisung war aber nicht für die Menschen im allgemeinen bestimmt, sondern zum Nutzen der Versammlung Gottes.

Viele Abhandlungen sind bereits über das dreizehnte Kapitel des Römerbriefes geschrieben worden um zu zeigen, dass die Nationen oder Regierungen dieser Welt 'diese (obrigkeitlichen Gewalten), welche (vorhanden) sind', darstellten und das diese Regierungen ihre Gewalt und Macht von Jehova Gott erhalten hatten. Man sieht sofort, dass dadurch die Grundlage für die "König-von-Gottes-Gnaden-Idee" gelegt wäre; denn man sucht zu beweisen, dass jede von einer Nation innegehabte und ausgeübte Gewalt von Gott verordnet sei und dass das Kind Gottes deshalb dieser Obrigkeit gehorchen müsse.

Die Verfassung der Vereinigten Staaten erklärt, dass ein Mensch seine Religion in irgendeiner ihm gefälligen Weise ausüben mag. Diesem grundlegenden Gesetz zuwider machen einige Staaten dieses Landes ein Gesetz, dass das Evangelium an gewissen Orten oder unter gewissen Bedingungen nicht gepredigt werden darf, und sie verhaften und bestrafen solche, die versuchen, es nach ihrer Weise zu predigen. In Russland bestimmt das Gesetz, dass man das Evangelium überhaupt nicht ohne Erlaubnis der Regierung predigen darf. Gott befiehlt seinen Söhnen durch Jesus Christus, sein Evangelium allen Nationen zu einem Zeugnis zu predigen (Matthäus 24:14). Soll nun das Kind Gottes den Gesetzen der Vereinigten Staaten und Russlands oder dem Gesetze Gottes gehorchen? Ist es möglich, dass Gott den verschiedenen Nationen das Recht und die Autorität gegeben hat, Gesetze zu machen und in Kraft zu setzen, die nicht mit seinem zum Ausdruck gebrachten Willen übereinstimmen, ja geringschätzig darüber hinweggehen?

Ist es nicht klar, dass die Worte des Apostels Paulus ganz entschieden verkehrt ausgelegt worden sind, wenn sie auf die Regierungen dieser Welt angewandt wurden? Wenn Paulus sagt: 'Diese (obrigkeitlichen Gewalten), welche sind, sind von Gott verordnet', bezieht er sich da irgendwie auf die Nationen der Erde? Ist es nicht vernünftiger anzunehmen, dass Gott seine Worte ausschließlich an jene obrigkeitlichen Gewalten richtet, die in der Organisation Gottes bestehen und funktionieren, und nicht an die Gewalten in der Organisation Satans?

In den Vereinigten Staaten von Amerika ist es für einen Bürger ungesetzlich, berauschende Getränke zu besitzen oder zu versenden. In Deutschland, England, Kanada und andren Ländern, die auch christliche Länder zu sein behaupten, ist es nicht ungesetzmäßig berauschende Getränke zu besitzen oder zu versenden. Hat Gott diesen verschiedenen Nationen verschiedenartige Gewalt oder Vollmacht gegeben? In den Vereinigten Staaten kann in Friedenszeiten kein Bürger gesetzlich einberufen und zum Militärdienst herangezogen werden. In Italien und andren sogenannten christlichen Ländern sind alle Bürger selbst in Friedenszeiten dem Militärdienst unterworfen; im Weigerungsfalle würden die Betreffenden schwer bestraft werden. Welche Nation macht nun ihre Militärgesetze in Übereinstimmung mit dem Gesetz Gottes, da wir doch sehen, dass ihre Gesetze verschieden sind?

In den Vereinigten Staaten gilt für Kriegszeiten ein Gesetz, dass Personen zwischen bestimmten Altersgrenzen zwingt, in den Militärdienst einzutreten. Ist nun das Gesetz Gottes zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern verschieden? Die Schrift antwortet: Gott verändert sich nicht (Maleachi 3:6) Notwendigerweise muss Gott zu allen Zeiten mit sich übereinstimmen, und er ist es auch.

Die 'Emphatic-Diaglott'-Übersetzung gibt den Text in folgender Weise wieder: 'Jede Seele unterwerfe sich den höheren Autoritäten.'

Diese Schriftstellen sind lange Zeit von Christen auf die Regierungen und obrigkeitlichen Gewalten der Nationen bezogen worden. Es ist jedoch klar, dass Paulus, als er diese Worte schrieb, nicht solche Gedanken zum Ausdruck bringen wollte. Kann etwa geleugnet werden, dass auch die Herrscher der jetzigen Regierungen gerade für das 'gute Werk' ein Schrecken sind? Völlig Geweihte und von Gott Gesalbte ziehen durch das Land, indem sie durch die Predigt der frohen Botschaft über Gott und sein Königreich Gutes tun, und gerade die Regenten der Nationen verhaften und bestrafen sie mit Geld- und Gefängnisstrafen, eben weil sie in dieser Weise Gutes tun. Werden treue Ganzmissionsgehilfen und die Missionsarbeiter der Ortsgruppen, die - von Tür zu Tür gehend - Gutes tun, indem sie den Völkern der Erde die Botschaft des Königreiches bringen, für diese Arbeit von den Fürsten oder Herrschern dieser Welt 'gelobt'? Niemand hat jemals gehört, dass sie deswegen Lob empfangen hätten.

Wir geben hier ein Beispiel. Ein Vertreter der Gesellschaft, ein Kind Gottes in dem ferngelegenen Land Liberia, Afrika, begann dort das Evangelium zu predigen, indem er Ansprachen hielt und Bücher mit der Evangeliumsbotschaft unter dem Volke verbreitete. Die Regierung teilte ihm mit, dass er davon Abstand nehmen müsse, dass er keine Bücher oder Broschüren oder irgendwelche Literatur verbreiten und keine öffentlichen Reden halten dürfe, bis die obrigkeitlichen Gewalten ihm die Erlaubnis hierfür geben würden. Er fuhr dessen ungeachtet mit der Arbeit fort und brachte eine große Anzahl von Büchern unter das Volk. Wenn er den weltlichen Obrigkeiten gehorcht hätte, so würde er das Evangelium nicht gepredigt haben. Er gehorchte aber dem Herrn und wurde beschützt. Er tat ein gutes Werk, erhielt aber kein Lob von den Regenten der Nationen.

Die Tatsache, dass der Apostel von der Entrichtung von Steuern spricht, ist als starker Beweis dafür angesehen und angeführt worden, dass das ganze Kapitel sich auf die Nationen beziehe. Dieses Argument ist aber nicht stichhaltig und die Schlussfolgerung nicht gerechtfertigt.

Was ist demnach die richtige Stellung der gesalbten Söhne Gottes hinsichtlich der Teilnahme am Kriege, wo die Absicht vorliegt, Menschen zu töten? Das dreizehnte Kapitel des Römerbriefes und die Worte des Apostel Petrus (1. Petrus 2: 13, 17) sind häufig gebraucht worden um zu beweisen, dass Christen unter dem Zwang ständen, an den Krieg und Verderben bringenden Schlachten des Krieges teilzunehmen, weil die Gesetze des Landes es bestimmen. Eine solche Auslegung ist ganz verkehrt. Diese Schriftstellen nehmen nicht Bezug auf die Gesetze der Nationen, wie die vorhergehende Beweisführung gezeigt hat; sie beziehen sich vielmehr auf die Regierung, Ordnung und Disziplin in der Organisation des Herrn. Die Anwendung dieser Schriftstellen auf irdische Regierungen ist, soweit Christen in Frage kommen, irreleitend und falsch gewesen. Das für sein Volk bestimmte Wort Gottes ist klar und deutlich, indem Gott seinem Volke sagt: 'Du sollst nicht töten'. Der Christ, der im Kriege tötet, bricht nicht nur das von Gott gegebene Gebot, dass wir gerade angeführt haben, sondern auch den ewigen Bund Gottes, und wird deswegen nicht gebilligt und von einem Anteil am Reiche Gottes ausgeschlossen werden.

Es ist nicht die Aufgabe der Bibelforscher als Christen, den Nationen und Völkern der Erde zu sagen, dass sie nicht am Kriege teilnehmen sollten. Das ist nicht ihre Angelegenheit. Es würde verkehrt sein, wenn sie versuchten, die Nationen daran zu hindern, in den Krieg zu ziehen oder Mannschaften für diesen Zweck zu rekrutieren. Ein Christ hat kein Recht, sich irgendwie einzumischen, wenn sich eine Nation ans Werk macht, eine Armee auszuheben und einzuexerzieren. Das ist eine Angelegenheit, die von der Nation selbst entschieden werden muss. Aber kein wirklich geweihter Christ kann an einem fleischlichen Kampfe teilnehmen und dennoch seine Stellung Gott gegenüber unverletzt bewahren. Es ist seine Pflicht, sich von den Angelegenheiten der Nationen, die unter sich Krieg führen, fernzuhalten, und sich dem Herrn zu widmen und seinen Geboten zu gehorchen.

Wenn ihm von den Herrschergewalten der Nationen befohlen wird, in den Krieg zu ziehen und zu töten, dann muss er sich weigern, in den Krieg zu ziehen um so dem Gebote Gottes treu zu sein. Eine solche Weigerung wird dem Christen aller Wahrscheinlichkeit nach den Zorn der Regierung zuziehen, die ihm gebietet, in den Krieg zu ziehen. Der Christ sollte sich aber lieber dem Zorn einer irdischen Regierung aussetzen, als den Grimm Gottes durch Ungehorsam gegen sein Gesetz auf sich zu ziehen.

Der geweihte und gesalbte Christ weiß, dass er sterben muss um zu einem Gliede des herrlichen Leibes Christi gemacht zu werden. Wenn er wegen seiner Treue Gott und seinem Bunde gegenüber den Tod erleidet, so steht es gut um ihn. Wenn er Gott ungehorsam ist und lieber willentlich der irdischen Herrschergewalt gehorcht, in den Krieg zieht und darin umkommt, dann ist seine Gelegenheit, einen Platz in dem Königreiche Gottes zu erhalten, auf immer dahin. Er muss daher die Wahl treffen, entweder den Menschen oder Gott zu gehorchen, wohl wissend, was die Folgen sein werden.

Seit langer Zeit sind Christen hinsichtlich ihrer Dienstpflicht in der Organisation des Herrn in einem schlafenden Zustand gewesen. Sie haben versucht, den Herrschern dieser Welt zu gefallen, und hierzu haben sie eine Handlungsweise eingeschlagen, die ein Kompromiss zwischen Treue zum Herrn und zur Welt ist. Sie sagen dem Sinne nach etwa folgendes: 'Wir müssen der Welt zeigen, dass wir so nett und harmlos sind, dass die Herrscher bemerken werden, dass wir mit Jesus gewesen sind und von ihm gelernt haben.' Die Schrift ist verdreht worden um eine solche Haltung zu rechtfertigen.

So ist auch Gott nur mit denen zufrieden, die kühn und furchtlos in der Vertretung seiner Sache und der Verkündigung seines Namens sind.

Möge ein jeder, der den Anspruch erhebt, zu den Gesalbten Gottes zu gehören, mit der gegenwärtigen Wahrheit und mit Christus, dem Haupt der Organisation Gottes, Schritt halten."

Die neue Obrigkeitslehre blieb nicht ohne Folgewirkungen. Im "Wachtturm" (1931 S. 229) wurden sie mit den Worten umschrieben:
"Jehova ist der große König und Christus Jesus ist Gottes gesalbter König, der Gottes Willen ausführt. Sie sind die in der Schrift angeführten 'obrigkeitlichen Gewalten'. Bis vor kurzem dachte Gottes Volk, dass diese Schriftstelle, nämlich Römer 13: 1, die von den 'obrigkeitlichen Gewalten' spricht, auf weltliche Herrschermächte Bezug habe. Die sich von der Gesellschaft zurückgezogen haben, haben immer noch diese verkehrte Ansicht. Jetzt aber sieht der treue Überrest ganz deutlich, dass sich diese Schriftstelle nicht auf Satans Organisation, sondern auschließlich auf Gottes Vorkehrung für sein Volk innerhalb seiner Organisation bezieht. Die sich weigern, diese Wahrheit zu sehen, und die Erklärung des Wachtturms hierüber bestreiten, haben die Auslegung als eine Entschuldigung dafür benutzt, Anstoß zu nehmen, und sie haben sich zurückgezogen und sind in die Finsternis gegangen."

Man vergleiche: Höhere Gewalten

Die Ära Rutherford

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1929er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte