Run zu Rutherford

Das "Deutsche Tageblatt", war durchaus nicht die "einzigste" Tageszeitung, die über jenen Berliner Bibelforscherkongress berichtete. Auch die bis heute existierende Zeitung "Berliner Morgenpost" informierte am 30. 8. 1927 zu diesem Thema. Aus ihr sei wie folgt zitiert:

"Die Internationale Vereinigung ernster Bibelforscher, die seit ungefähr fünf Jahren in Deutschland festen Fuß gefasst hat, hielt ihre Jahres-Heerschau im Sportpalast ab, die gestern Abend mit einem Vortrag ihres geistigen Oberhauptes, des Richters Rutherford aus New York, abschloss. Die große Halle war bis auf den letzten Platz gefüllt … Selbst der große Hof vor dem Gebäude war dicht mit Menschen gefüllt, die vergebens hofften, Einlass zu finden.

Die Bewegung, deren Sprecher Rutherford ist, und die durch wörtliche Auslegung der Bibel den Beweis zu führen sucht, dass wir am Beginn des tausendjährigen Reiches stehen, ist nicht neu. In allen Zeiten, in denen die Menschen durch große Leidensperioden, wie sie der Weltkrieg mit sich gebracht hat, geschritten ist, tauchten die Verkünder des bevorstehenden Reiches Gottes auf und fordern Zuspruch von Tausenden.

Der große Saal, der mit den blau-weiß-gelben Fahnen der Vereinigung und mit Bibelsprüchen geschmückt war, machte einen festlichen Eindruck, als Richter Rutherford die Rednertribüne bestieg und seine Ansprache in englischer Sprache hielt, die Satz für Satz ins Deutsche übersetzt wurde … Jede seiner Behauptungen belegte er mit Bibelzitaten. Jetzt sei die Zeit gekommen, von der alle Propheten reden. Nun habe der Kampf Aller gegen Alle begonnen, von dem die Heilige Schrift spreche. Es war ergreifend auch für die, die Rutherfords Gedanken nicht zu folgen vermögen, als der geschickte Redner am Schluss seiner Ausführungen die Frage an die Versammelten richtete, ob sie nicht für eine Regierung des Rechtes, eine Regierung der Verbrüderung, eine Regierung, die keinen Unterschied, keinen Krieg und keine Arbeitskämpfe kenne, eintreten wolle. Und sich Zehntausend, die den Sportpalast füllten, wie ein Mann erhoben. Gleichzeitig setzten die geschickt verteilten Chöre der Gläubigen ein, und machtvoll scholl das 'Lobe den Herrn' von geschulten Stimmen gesungen durch die Halle."

Interessant an diesem Pressebericht ist auch noch der Hinweis, auf ein anschließendes Interview, das der Vertreter der "Berliner Morgenpost" mit Rutherford hatte. In ihr ragt besonders die Aussage hervor, Wortwahl offenbar von dem Journalisten gestaltet:

"Er (Rutherford) habe in Magdeburg der deutschen Zentrale der Bibelforscher, eine große Druckerei für 100 000 Dollar gebaut."

Auch andere Pressevertreter hatten anlässlich der 1927-er Berliner Bibelforscherveranstaltung, die Möglichkeit zu einem Interview mit Rutherford. In dieser Sparte ragt besonders jenes hervor, welches Robert Fischer unter der Überschrift "Run zu Rutherford" am 30. 8. 1927 in der "Berliner Volks-Zeitung" veröffentlichte. Chefredakteur dieser Tageszeitung war zum damaligen Zeitpunkt Otto Nuschke. Nuschke spielte insofern später noch eine Rolle, als er in der inzwischen auch der Vergangenheit angehörenden "DDR" eine Zeitlang deren Kirchenpolitik nach außen hin vertrat. Insider wissen indes, dass Nuschke dort nichts reales zu sagen hatte. Das die Moskauhörigen Kommunisten schon alsbald dafür sorgten, dass der ihnen zu liberale Nuschke faktisch entmachtet wurde. Lediglich als "Gallionsfigur" hatten sie für ihn Verwendung.

Also, in dem genannten Rutherford-Interview der "Berliner Volks-Zeitung" konnte man lesen:

"Etliche Stunden vor seinem Vortrag gewährte er ein Interview. Der erste Eindruck: eine Hüne von Erscheinung, breitschulterig, nicht übermäßig herkulisch, echt amerikanischer Typ. Im diametralen Gegensatz die Stimme, in welche wohl nie die Härte kam, weich das Wort, weich die Gesichtszüge, weich die Augen im eigentlichen Glanz. Kein Reformator aus unruhigem Blut, kein Feuerkopf, kein kriegerischer Geist. Gleich das erste Wort bestätigt das.

'Man hatte mich zu achtzig Jahren Zuchthaus verurteilt, weil ich nicht in die Kriegspropaganda einstimmen wollte, als Amerika der Entente zur Seite sprang.'

Den widerlichsten Prozess hat man ihm damals gemacht, mit den gemeinsten Mitteln, ihm und sieben Mitarbeitern. Und hat sie doch wieder freigelassen, nach neun durchbüßten Monaten, als der Krieg beendet war. Auch das erzählt er ruhig, unter Begleitung eines feinen Lächelns, als sollte es zeigen, wie leid ihm die Menschen tun, die nicht anders als in den Gedankengängen Krieg und Zuchthaus denken können.

'Das ist das Lebenswerk, für die Armen zu schaffen. Von den Regierungen kommt ihnen keine Hilfe. Auch von den Kirchen nicht. Wohl steht die Wahrheit in der Bibel. Aber die Priester lehren sie nicht. Sie lehren lediglich die Politik.'

'In Amerika stehen die Prediger in Verbindung mit den Bankiers. Dr. Hillig, einer ihrer bekanntesten Sprecher hat in den Krieg mit Deutschland gehetzt und die American Bankers Association hat ihn dafür bezahlt. Ich bin nicht dafür!'

Und - wer weiß, welche Ideenverbindung ihm das eingab - 'Die Deutschamerikaner sind gute Bürger. Die Deutschen sind die besten Bürger!'

Das ist kein Kompliment gegen das Land, dessen Boden er betrat. Bestimmt nicht. Das ist so echt so - wie seine Traurigkeit über die amerikanischen Priester. Und es lässt nur einen Abschnitt Hillischen Geistesgut abschreiben, dass eine einzige Gemeinschaft ist, so pervers, dass man ihn keinem Papier anvertrauen kann.

Inzwischen sagt mir Paul Balzereit, wie es heißt: ein ehemaliger Werftarbeiter, nun Leiter des deutschen Zweiges der IVEB ein Wort für den deutschen Arbeiter:

'Sie sollten erkennen, dass die Bibel das wichtigste Mittel in ihrem Kampfe ist. In ihr finden sie ihr verbrieftes Recht. Es gibt keine Forderung, die sie erheben und die sie nicht auf ein biblisches Zeugnis stützen könnten. Es ist die weiseste Politik der Führer, den Massen das immer wieder vor die Augen zu führen. Der deutsche Arbeiter sucht etwas Höheres, etwas was ihn erhebt. Dieses Suchen treibt ihn stetig in die Arme der Kirche zurück, aber wie er sagt' - und Balzereit deutet auf Rutherford - 'die Priester bringen die Politik, nicht die Bibel.'"

Einen von Ironie triefenden Artikel über die gleiche Veranstaltung konnte man auch in der "Vossischen Zeitung" vom 30. 8. 1927 lesen. Nach jeden Abschnitt seiner Berichterstattung, die im wesentlichen mit der anderer Presseorgane identisch ist, "würzte" der Journalist der "Vossischen Zeitung" seine sachliche Berichterstattung mit der persönlichen Anmerkung: "Wenn man ihnen glauben darf". Dieser Floskel begegnet man etliche Male in dem Artikel. Auch sein Schlusssatz liegt auf dieser Linie:
"Zehntausend hörten sich die Botschaft an, sangen ergriffen den ehrwürdigen Choral: 'Lobet den Herrn' und dankten im Gebet Gott dafür, dass die Herrschaft des Messias so nahe bevorsteht. Es sah so aus, als glaubten sie dem Richter Rutherford. Hoffentlich darf man ihnen glauben."

(Repro aus dem digitalisierten Zeitungsbestand der Berliner Staatsbibliothek)

Mysnip.137602

Die Ära Rutherford

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