Zscheile, Birgit

"Der Einfluss von Sekten - insbesondere auf Kinder und Jugendliche - am Beispiel 'Zeugen Jehovas' in den neuen Bundesländern".
Kiel 1997 Diplomarbeit, 80 + 7 Seiten.
Zentralbibliothek der Fachhochschule Kiel (Ki 95) Dip 1226a
Mit Birgit Zscheile meldet sich erstmals (in der Form einer Diplomarbeit) eine AutorIn zum Thema Zeugen Jehovas zu Wort, die in ihrer eigenen Biographie auch in den neuen Bundesländern angesiedelt ist. Die Entwicklung nach 1990 brachte auch in den neuen Bundesländern einen Umbruch im Schulwesen mit sich. Den diesbezüglich relevanten Aspekt beschreibt sie mit den Worten: "Das Gemeinschaftsgefühl der Schüler und Schülerinnen war sehr ausgeprägt, bedingt durch das überwiegend gemeinsame Durchlaufen aller zehn Klassenstufen der P(olytechnischen) O(ber) S(chule). Gab es im Leistungsvermögen schwächere Schüler, so wurden Gruppen organisiert, die den jeweiligen Schülern Nachhilfe gaben. Der Lehrstoff war (exakt) vorgegeben, der Leistungsdruck in der Schule moderat."
Mit der Übernahme der westlichen Schulstrukturen änderte sich auch dies. Der Leistungsdruck und die Tendenz zum Einzelkämpfertum wurden stärker. Auch an den Elternhäusern gingen die Veränderungen nach 1990 nicht "spurlos" vorüber. Der wirtschaftliche Existenzkampf, besonders im Zeichen einer keineswegs überwundenen hohen Arbeitslosenrate, forderte auch auf diesem Wege seinen Tribut. Hinzu kommt das massive Wegbrechen von seit DDR-Zeiten bestehender Freizeiteinrichtungen für Jugendliche aus Gründen ökonomischer Zwänge, der sie tragenden Kommunen.
"Die Familiensituation hat sich ebenso wie das übrige Umfeld der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den neuen Bundesländern verändert. Das Zusammenleben der Familienmitglieder ist heute größeren Belastungen ausgesetzt, die als innerfamiliäre Spannungen und Kontaktarmut sichtbar werden. Ursachen sind u. a. Arbeitslosigkeit, Unsicherheit des Arbeitsplatzes, Umstieg in die Selbständigkeit, soziale Zwänge (wie z. B. Steigende Mietpreise, Kostenerhöhungen im Bereich Werbungskosten), Geldmangel, Zukunftsangst, andererseits erweiterte Konsumtion, Statusdenken. Häufig kommt es nur noch zu funktionalen Gesprächen."
War zu DDR-Zeiten zu registrieren, dass jugendliche Zeugen Jehovas in nahezu allen Fällen ihre Sozialisation durch ein Elternhaus erfuhren, welches ebenfalls bereits den Zeugen Jehovas angehörte, so trat auch hier nunmehr ein Wechsel ein. Durch die bekannten Werbestrategien der Zeugen Jehovas, gelang es ihnen nunmehr auch Einbrüche in Schichten zu erreichen, die bislang von ihnen nicht erreicht wurden.
Zscheile formuliert: "Da die Zeugen Jehovas immer auf dem Gebiet der DDR vertreten waren, konnten sie ihre Erfahrungen nutzen und gezielt missionieren. Sie kannten die Bedürfnisse und Probleme, mit denen die Menschen jetzt lebten. Verstärkt … machten sie Hausbesuche bei noch nicht Bekehrten. Dabei zeigten die Zeugen Jehovas ein neues Verhalten. Sie umwarben nicht mehr nur Leute ab Ende zwanzig, sondern versuchten auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen, nach eigenem Angaben mit Erfolg. In Berlin gingen die Zeugen Jehovas in Schulen und Aussiedlerheime, um gezielt Mitglieder im Kinder- und Jugendalter anzuwerben."
Die AutorIn meint, bis etwa 1995 einen relativen Erfolg diesbezüglich wahrzunehmen, wenn sie etwa diesbezüglich notiert: "In den neuen Bundesländern war bis zum Jahre 1995 der Anteil der Zeugen Jehovas an der Bevölkerung höher, als in den alten Bundesländern. Seit Ende 1996 ist diesbezüglich eine Änderung eingetreten."
Auch Zscheile registriert aufmerksam die Schattenseiten der Zeugen Jehovas. Etwa wenn sie schreibt: "Sekten arbeiten oft mit Schwarz-Weiß-Denkweisen, wie Freund-Feind, Gut-Böse.
Sekten isolieren sich häufig vom gesellschaftlichen Umfeld (z. B. Ausbindung von Kindern aus bestimmten schulischen Veranstaltungen, Verweigerung staatsbürgerlicher Pflichten, die mit ihren Glaubensgrundsätzen konfrontieren; Widerstand gegen medizinische Eingriffe; Verweigerung von Kommunikation und Dialog mit Gruppen oder Einzelpersonen anderer gesellschaftlicher, weltanschaulicher und religiöser Richtungen, was u. a. auch in der Abweisung jeglicher Beantwortung von Fragen in Zusammenhang mit meiner Diplomarbeit zum Ausdruck kam; Verbot von Gesprächen der Mitglieder mit Außenstehenden, (sofern sie nicht mit Mitgliederwerbung beauftragt sind bzw. mit vorgegebener Wortwahl geführt werden).
Im Ergebnis stehen Dialogunfähigkeit und Isolation der Mitglieder gegenüber der Außenwelt.
Internes Wissen und interne Schriften unterliegen dem Verbot der Weitergabe an Außenstehende. Die Verteilung von Literatur, gezielte Gesprächsführungen u. ä. erfolgen nur mit konkretem Auftrag.
Jugendlichen wird von einem Studium abgeraten, ebenso von solchen Berufsrichtungen, die unmittelbar den Organisationen Satans dienen.
Die Zeugen Jehovas reden von Nächstenliebe und Heilung der Kranken, zeigen dabei aber keinerlei soziales Engagement, da sie nur um ihr Seelenheil Sorge tragen und die Heilung des Unheils in der Welt ihrer Meinung nach durch Jehova erfolgt."
Das daher die skizzierten Erfolge der Zeugen Jehovas unter vormaligen DDR-Jugendlichen auf einem durchaus morastigen Untergrund wurzeln, registriert auch Zscheile. In ihren Worten: "Bei den Zeugen Jehovas kann so ein auslösendes Moment das Verbot der außergemeinschaftlichen Kontakte sein, die für einen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sehr wichtig sind. Diese Zweifel können auch nach einer langen Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas aufkommen."
Um in der Literatur bereits veröffentlichte Veranschaulichungsbeispiele zu liefern, für ihre These; dass es unter den so von den Zeugen Jehovas angeworbenen Jugendlichen in den neuen Bundesländern, es eine nicht zu unterschätzende Fluktuation gebe, verweist sie auf die Fälle Hirlinger Wald und Marko Martin (auch auf dieser Webseite dokumentiert).
Insgesamt kann man sagen: Eine durchaus inhaltlich anregende Studie. Kritisch angemerkt sei noch, dass ihre beiläufige Streifung auch der Fragen "Körperschaft des öffentlichen Rechts" und Wehrersatzdienst einige Unkorrektheiten in ihrer diesbezüglichen Darstellung offenbaren. Der Bericht über ihre Arbeit sei mit der Wiedergabe jenes Absatz abgeschlossen, den sie selbst mit "Schlussfolgerung überschrieb:
"Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene erleben in der Sekte der Zeugen Jehovas, aufgrund der strikten Auslegung der Lehre, eine starke soziale Ausgrenzung. Schon im frühesten Kindesalter werden sie durch die Sekten überdimensional charakterlich geformt. Die in der Kinder- und Jugendzeit erforderliche Entwicklungsphase des Ausprobierens und Kennenlernens der Grenzen bleibt ihnen durch die strenge Erziehung und die damit von der Lehre geforderte Anpassung an die Gemeinschaft verwehrt. Durch die starke Unterordnung ist ihnen das Erwachsenwerden im psychischen Sinne nicht erlaubt. Eine Selbstbestimmung über ihren Körper und ihr Tun wird ihnen nicht ermöglicht. Das kommt nicht nur im Verbot der Bluttransfusion, was ebenso eine physische Gefährdung darstellt, sondern auch in der Reglementierung in Kindergarten, Schule und Freizeit zum Ausdruck.
Durch die starke Bindung an die Gemeinschaft (insbesondere wenn die Eltern der Sekte angehören) wird ein Austritt aus den Zeugen Jehovas erschwert.
Der Bruch mit den Zeugen Jehovas kann nur schwer vollzogen werden, da soziale Kontakte außerhalb der Gemeinschaft (meist) nicht mehr bestehen.
Die demokratische Willens- und Meinungsbildung ist den Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Zeugen Jehovas aufgrund der festgeschriebenen Haltung gegenüber Staat und Gesellschaft verboten. Damit verstoßen die Zeugen Jehovas gegen die Verfassung.
Die Zeugen Jehovas konnten im Zuge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene (Kinder hauptsächlich mit der Werbung, Bekehrung und dem Verbleib der Eltern in der Gemeinschaft) für die Sekte anwerben Hierbei nutzten sie ihre Kenntnisse aus der DDR-Zeit und den, mit der Wiedervereinigung, der beiden deutschen Staaten, auftretenden Problemen und Lebenssituationen der Jugend in den neuen Bundesländern. Trotz des starken Zulaufs, den die Zeugen Jehovas insbesondere durch die Missionierung in den Kreisen der Jugendlichen verzeichnen konnten, blieb das Gros derselben nicht in der Sekte, sondern stieg, aufgrund der fehlenden dauerhaften Lösungsmöglichkeiten für die sie betreffenden Probleme und der kritischen Hinterfragung, (wieder) aus."

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