Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Kathrin Westphal:
"Ursachen des Ausstieges aus religiös-fundamentalistischen Gruppierungen"

Diplomarbeit: Institut für Soziologie der Martin-Luther-Universität
Fachbereich Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften
Halle/S. 2000

In der Form von Interviews führt die Autorin einige religiöse Gruppierungen vor. Unter anderem auch die Zeugen Jehovas. Aber auch solche, für die Totalitarismus gleichfalls kein Fremdwort ist, wie z. B. die "Boston Church of Christ". Hier interessieren im besonderen die Zeugen Jehovas. Der Bericht über die diesbezügliche Gesprächspartnerin wurde auch mit der Überschrift versehen: "Wir saßen zwischen zwei Stühlen".

Einleitend werden einige Informationen über das familiäre Umfeld vermittelt. Der Vater, von Beruf Musiker, hatte bereits Eltern, die beide Zeugen Jehovas sind. Die Uroma mütterlicherseits ebenfalls. Jedoch die Oma mütterlicherseits hat sich dann von den Zeugen Jehovas distanziert.

Die 30-jährige Gesprächspartnerin, in diesem Interview "Johanna" genannt, berichtet, dass ihre Eltern die bereits bestehende Zeugen Jehovas Tradition fortsetzen und auch ihre Kinder in diesem Sinne erzogen. Geographisch, und das ist nicht unwichtig, spielte sich das ganze auf dem Gebiet der vormaligen DDR ab.

Über eine bemerkenswerte Konfliktlage wird in diesem Bericht informiert:
"In der Familie spielt Religion zwar eine Rolle, aber die Handlungen des Vaters gegenüber der fundamentalistischen Gruppierung und deren Glauben waren widersprüchlich. Johanna erinnert sich, daß ihre Eltern wählen gegangen sind, was von Seiten der Zeugen Jehova verboten ist. Dieser Verstoß gegen die Regel am weltlichen Geschehen n i c h t teilnehmen zu dürfen, führte zu einem heftigen Konflikt zumal die Handlung zur Wahl zu gehen, heimlich, also ohne Wissen der Gruppierung, begangen wurde. Im Zuge des Bibelstudiums wurde ihre Schwester von anderen Mitgliedern ausgehorcht. Daraufhin 'verriet' sie, daß ihre Eltern zur Wahl gegangen waren sind. Der Konflikt zwischen der Gruppe und dem Vater ging soweit, daß ihr Vater daran dachte die Zeugen Jehova zu verlassen.

'Mein Vater wurde vorgeladen und der hat dann so richtig ein Faß aufgemacht und dann hat er gesagt, 'ihr wollt Christen sein und ihr spioniert, integriert und verfolgt euch', also, er hat ihnen allerhand vorgeworfen, diesen oberen Brüdern, weil es ist ja so ein Hierarchiesystem. Diese leitenden Brüder sind immer Männer gewesen, Frauen haben eben nichts zu sagen. Ja vor diesen Männern hat er sich da eben, wie vor einem hohen Gericht, gerechtfertigt. Ich war ja nicht dabei, er hat es uns nur erzählt und er war auch sehr zornig und er wollte da auch kurz nichts damit zu tun haben. Das hat uns ja auch geprägt. Irgendwie hatten wir dann den Eindruck, daß das alles verlogen ist irgendwie oder, daß da irgendwas nicht stimmt."

Aber auch die Kinder sollten alsbald erfahren, dass solche Konfliktlagen, wie sie im Falle ihrer Eltern hier schon geschildert wurden, auch nicht an ihnen "vorüberziehen" würden. Ganz im Gegenteil! Auch dazu ein Zitat aus dieser Studie:

"Der Tatsache geschuldet, daß Johannas Schwester älter ist, machte sie bestimmte Erfahrungen schon früher. Zum einen ist hier die soziale Isolation in der Schule zu nennen, die beide durchlitten, weil sie beispielsweise nicht bei den Pionieren waren. Ständig kamen Anfragen von den Kindern wie auch den Lehrern. Johannas Schwester trat daraufhin heimlich bei den Pionieren ein, um ein stückweit dazuzugehören. Als Johanna in die Schule kam durchlebte sie ebenfalls ein Außenseiterdasein und trat aus diesem Grunde, wie auch auf Bitten ihrer Schwester es ihr gleich zu tun, den Pionieren bei. Später traten Johanna wie auch ihre Schwester der FDJ (Freie Deutsche Jugend) bei.

'Wir wollten, wir hatten einfach nur Lust dazu zugehören, weil man durfte ja so schon nichts. Wir haben eben kein Geburtstag gefeiert, kein Weihnachten, durften nicht mit, wenn Fasching war, wir durften eigentlich nirgendwo mit, wir hatten eigentlich keine Freunde, wir waren immer zu Hause angebunden und dadurch waren wir sowieso schon Außenseiter und da hatten wir wenigstens durch die Pioniere und die FDJ, wenigstens da, da hatten wir wenigstens unsere Ruhe, so und waren eben ein bißchen dazugehörig."

Ihre Eltern erfuhren diese Mitgliedschaft durch den Besuch eines Lehrers im Elternhaus. Zutiefst bestürzte und auch wütende Reaktionen waren das Ergebnis, aber ein Verbot bzw. eine Aufforderung wieder auszutreten folgte nicht. Diese Teilnahme am Weltlichen wurde zu einem Geheimnis der Familie gegenüber den Zeugen. Besonders dann, wenn Verwandte zu Besuch waren."

Auch im Falle dieser Familie offenbart sich der durchaus verallgemeinerungswürdige Fakt, dass ein wesentlicher Faktor, der etliche Zeugen Jehovas veranlasst, bei "der Stange zu bleiben", ihr ebenfalls durch die Zeugen Jehovas geprägtes familiäres Umfeld ist. Man ist sich durchaus im klaren, dass ein Bruch mit der Zeugendoktrin vielfach einem familiären "Spießßrutenlaufen" gleichkommt. Also schluckt man einiges herunter, und spielt - je nach Veranlagung- so gut oder schlecht wie möglich, das gewünschte Theater mit.

Dies zeigt sich auch im vorliegenden Fall. Auch dazu ein entsprechendes Zitat:
"Wir haben Westverwandte gehabt, die eben ganz fanatische Zeugen Jehova sind, das ist die Cousine von meinem Vater. Wenn die gekommen sind, dann war immer das reinste Theaterstück abgelaufen. Da waren wir schon ein bißchen größer, da wußten ja unsere Eltern, wir sind in der FDJ, da haben sie uns immer bevor die kamen instruiert, und ja nicht verraten, daß ihr in der FDJ seid und dann wurde alles, die Zügel noch straffer gezogen und noch einmal Bibelstudium gemacht, praktisch noch einmal richtig gedrillt auf den Besuch, das ist wie so ein Staatsbesuch gewesen und dann haben wir Rollen gespielt und da haben wir auch nichts verraten und dann haben wir auch viel mehr vor dem Essen gebetet als die da waren als wir es sonst machten, … Aber wie gesagt, wenn die da waren, da war den ganzen Tag von nichts anderem die Rede als von Zeugen Jehova und dieser Thematik und oh oh, das war so öde."

Zur Geschichte unserer Titelheldin "Johanna" wäre noch anzumerken, dass dieses "Hin- und Hergerissen sein" auch in ihrem Fall noch Konsequenzen haben sollte. Es trat auch bei ihr noch eine Phase ein, wo sie sich selbst fragte, ja wie soll es denn nun mit mir weiter gehen? In dieser Phase raffte sie sich dazu auf, verstärkt auf den Zeugen Jehovas-Kurs einzuschwenken. Ja sie fasste sogar den Entschluss, wieder aus der FDJ auszutreten. Und trotz elterlichem Abraten (und die Eltern sahen da durchaus klar, welche Folgen dies für sie, namentlich in der demnächst bevorstehenden beruflichen Ausbildungsphase haben könnte). Trotz diesem elterlichen Bremsversuch, setzte sie diesen ZJ-Rigorismus in die Tat um.

Allerdings, dies hat man auch zu registrieren, erwies sich das ganze als eine Art "Schuss in den eigenen Ofen". Nachdem Johanna sich anschickte, ihren Vorsatz aus der FDJ austreten zu wollen, in die Praxis umzusetzen, kam es diesbezüglich zu einem langen, sehr langen Gespräch zwischen ihr und einem Vertreter der Schule. Letzterem muss es offenbar wohl doch gelungen sein, Johanna in gewisser Hinsicht "die Augen zu öffnen". Jedenfalls endete die Sache dergestalt, dass de facto, sich Johanna von den Zeugen Jehovas trennte. Noch lebte sie im Elternhaus. Jedoch bereits mit 18 Jahren nutzte sie die Chance das Elternhaus zu verlassen um so nicht mehr dem akuten Zeugen Jehovas-Druck ausgesetzt zu sein.

Noch ein Abschlußzitat aus diesem interessantem Bericht:
"Mit dem Verlassen des Elternhauses wurde Johanna immer mehr klar, daß sie weder zu den Zeugen Jehova noch zur Familie zurückkehren wollte. Schnell fand sie Anschluß in einer jungen Gemeinde, wo ihr die soziale Einbindung gelang. Auf Grund der Wendebewegung waren dort nicht nur Christen. Zum Zeitpunkt des Interviews gehörte sie keiner religiösen Gemeinschaft an.

'In die Kirche gehe ich auch nicht. Ich weiß nicht, daß ich durch und durch Atheistin geworden bin, das würde ich gar nicht mal sagen. Ich glaube zwar an keinen Gott, aber ich bin vom Wesen her jetzt nicht so realistisch oder atheistisch oder so, aber ich würde mich nirgendwo mehr anschließen. Nein.'

Johanna machte das Abitur auf der Abendschule nach und begann ein Studium, welches sie als Befreiung empfindet."

28. 12. 2000

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