Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Am Vorabend des zweiten Weltkrieges

Am Vorabend des zweiten Weltkrieges, in der 1938 erschienenen Rutherford-Broschüre "Warnung", hämmerte die WTG noch mit aller Wucht auf dem Endzeitklavier herum. Symptomatisch auch ihre diesbezügliche Grundsatzthese

"So sagt Gott voraus, was in kurzem in Harmagedon geschehen wird." (S. 56).

In kurzem, Harmagedon. Das war es, was denn auch den Sinn der Rutherford-Anhänger beflügelte.

Nicht so sehr die tatsächlich bedrohliche Weltlage stand dabei im Vordergrund. Die diente nur als willkommene "Kulisse" der eigenen Endzeittheorien. Man kennt das auch auf der politischen Ebene. Die sich nach dem ersten Weltkrieg als Abspaltung der der SPD verfestigenden kommunistischen Kreise gaben auch die Parole aus. "Diesem System keinem Mann und keinen Groschen". Ihr Idol war auch die "Revolution", nicht die Evolution. Wohin das denn führen sollte, hat unter anderem George Orwell in seiner "Farm der Tiere" plastisch vor Augen geführt. Da gab es auch Tiere, die "gleicher als die anderen" wurden. Letztendlich wurden die ehrlichen Erwartungen der Revolutionsgläubigen schmählichst hinters Licht geführt.

Es bietet sich durchaus an, diesen Vergleich auch auf die WTG zu übertragen.

Die bedrohliche Weltlage interessierte Rutherford nur dergestalt, als seine Organisation von ihr auch in Mitleidenschaft gezogen wurde, und das in zunehmendem Maße. Es war also eine "Nabelschau" die da veranstaltet wurde.

Schon einleitend redet Rutherford von der "grössten Krise aller Zeiten" die "der Welt jetz bevorstehe". Dies sei der "verheerendste Sturm aller Zeiten".

Er geht weiter und belehrt:

"Nicht blos ein Krieg zwischen Menschen und Nationen wird diese große Drangsal bedeuten, wie zum Beispiel der Weltkrieg von 1914, sondern es ist die Schlacht Gottes, Jehovas und all seiner Streitkräfte, die Menschenaugen jetzt nicht sehen und die unter der Führung des Herrn Jesus Christus alle Feinde Gottes und des Menschen in die Vernichtung stürzen werden. Auf der Gegnerseite sind Satan der Teufel und seine ganze Heerschar böser Engel, die Religionseinrichtungen, die Armeen und Flotten, die Land- und Luftstreitkräfte aller Nationen der Erde - alle vom Geiste des Teufels erfüllt, dadurch angetrieben und zum Vernichtungskampf entschlossen."

Alsdann verkündet er drohend:

"Die Schlacht von Harmagedon wird so schrecklich sein, dass menschliche Sprache sie nicht hinreichend zu schildern vermag. Alle Nationen werden hinein verwickelt sein und keine einzige wird entfliehen dürfen."

Sich als Geschichtsphilosoph versuchend behauptet Rutherford dann:

"Der Mann namens Nimrod wurde der Gegenstand der Verehrung des Volkes und war der absolute Diktator des Volkes, gerade so wie Hitler das Volk zu zwingen sucht, ihm als Retter des Volkes 'Heil' zuzurufen. "

Widersprüchlich auch Rutherfords These, dass der "endgültige Beweis" erbracht sei, "dass die Religion vom Teufel ist und von diesem betrügerischen Feind dazu gebraucht wird, Menschen zu täuschen und sie ins Verderben zu führen".

Da eine solche These nicht unbedingt auf besondere "Gegenliebe" stößt, versucht er sich dann wenig überzeugend mit den Worten zu verteidigen:

"Religionisten beschuldigen Jehovas Zeugen, sie suchten boshaft das Bollwerk der Nationen durch Angriffe auf die Geistlichkeit und die Religion niederzureissen." Diese These meint er dann noch mit der unbewiesenen Behauptung krönen zu sollen: "Diese Beschuldigung entbehrt jeder Grundlage." Offenbar muss Rutherford wohl an hochgradiger Schizophrenie leiden, wenn er solche Behauptung an die ein paar Seiten vorher geäußerte These anhängt. "Religion sei vom Teufel".

Wieder sich als vermeintlicher Geschichtsphilosoph betätigend, belehrt er dann seine gläubige Leserschaft:

"Die Weltkriegsbefürworter posaunten die Losung: 'Der Krieg wird der Welt die Demokratie sichern.' Im Widerspruch dazu sind Demokratien von der Erde sozusagen verschwunden. Der Völkerbund wurde als ein Ersatz für Gottes Königreich hervorgebracht, damit er die Erde regiere, und diesen Bund kündigten die Religionsführer als das an, was auf der Erde an Stelle von Christus herrschen sollte … Durch dieses Handeln gaben die Religionsorganisationen offen bekannt, dass sie ein Teil dieser Welt sind, und Gottes Wort erklärt, dass die gegenwärtige böse Welt unter der Gewalt des Teufels steht. …

Aus dieser Völkerverbindung heraus ist ein mächtiges Ungeheuer gewachsen, dem heute die Religionisten völlig zustimmen. Dieses Ungeheuer ist die Regierung der verschiedenen Nationen unter einem einzigen Willkür-Diktator, das heißt eine diktatorische Regierung, mit einem Ausdruck 'totalitäre Herrschaft' genannt. Zuerst erhob es sich in Russland unter der Maske des Bolschewismus oder Kommunismus. Dann trat es in Italien unter dem Namen des Faschismus in Erscheinung und in Deutschland unter der Bezeichnung Nationalsozialismus."

Dieser These über die totalitären Regime mag man noch zustimmen. Dann aber interpretiert Rutherford weiter:

"Die große Organisation, die in der Religion der Welt führend ist, unterstützt dieses Ungeheuer, und das unbekümmert um den Namen oder die Maske, unter der es erscheint. Diese Monster-Diktatur-Regierungen suchen Vorschriften oder Gesetze zu erzwingen, wonach zum Beispiel Menschen 'Heil' zugerufen, zwangsweise Flaggen salutiert und ähnliches mehr getan werden soll."

Es ist offensichtlich, dass Rutherford besonders die katholische Kirche ins Visier nimmt. Das wird auch in der nachfolgenden Aussage deutlich:

"Über tausend Jahre lang stellte die römisch-katholische Kirche Jehova Gott über den 'Staat' oder das Gesetz von Menschen. Damals erschien es dieser Organisation passend, so zu handeln. Da sie nach zeitlicher Macht lechzte, hat diese Religionsorganisation nun offen und schamlos ein Abkommen mit dem radikalen Element, das die Nationen regiert, getroffen, und als Gegenleistung hat die faschistische Regierung dem Haupte der katholischen Organisation die zeitliche Macht wiedergegeben.

Der Vatikan stimmt jetzt dem grausamen Eroberungskrieg gegen die Abessinier, der Revolution und dem erbarmungslosen Gemetzel in Spanien und dem ungerechten Krieg Japans gegen China zu.

Dieselbe Religionsorganisation hat ein Abkommen mit dem Nazi-Diktator getroffen, und sich so … der jetzigen Monster-Diktatur-Herrschaft der Welt angepasst.

Alle jetzt herrschenden Diktaturen oder radikalen Elemente setzen den 'Staat' über den allmächtigen Gott und bestehen darauf, dass jedermann den Gesetzen von Diktaturen gehorche, selbst wenn solche Gesetze dem Gesetz Jehovas Trotz bieten.

Die Diktatoren und Religionsorganisationen, besonders die Führer, tun sich jetzt zur Verfolgung der Zeugen Jehovas zusammen. … Die Religionsorganisationen der Welt, mit der römisch-katholischen Hierarchie an der Spitze, setzen nun den 'Staat' oder die diktatorische Regierung über Jehova Gott und sein Gesetz, in der Absicht etwas gegen Jehovas Zeugen zu finden …"

Damit hat meines Erachtens Rutherford sein Credo offenbart. Bedauernd stellt er fest. Es gab mal eine Zeit, da stand die Kirche über dem Staat. Die Gegenwart sei allerdings nicht diese Zeit. Da stellt sich eher der Staat über die Kirche, und letztere versucht mit Opportunismus für sich zu retten, was zu retten ist. Das ist nicht das "Ideal", das Rutherford vorschwebt. In seiner Lesart, habe der religiöse Glaube über den Staat zu stehen. Da dies in der Konstellation totalitärer politischer Regime unweigerlich zu Konflikten führt, hat Rutherford, für seinen Bereich die Grundsatzentscheidung getroffen. Kein Opportunismus mit dem Staat (jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt). Dafür aber die Konfrontationsstrategie.

Das kennt man ja auch schon aus dem Urchristentum. "Kein Teil der Welt" wollten die ersten Endzeitsüchtigen sein. Ihre Sucht nutzte ihnen nichts. Die weltlichen Gesetzmäßigkeiten gingen ihre eigenen Wege. Die Nachfolger der ersten religiösen Narren mussten alsbald erkennen. Wir "müssen wohl die Kurve kriegen". Also, als es dann soweit war, und selbst der Staat es mit der Korrumpierung der religiösen Narren versuchte (Kaiser Konstantin), da konnte es ihnen gar nicht schnell genug damit gehen, sich korrumpieren zu lassen. Sei es damals als Staatskirche, oder heute eine Hausnummer niedriger; als "Körperschaft des öffentlichen Rechts".

Zu Zeiten Rutherfords war das noch nicht soweit, da war die Konfrontation angesagt. Es wäre in der Tat eine "Schauspiel für Engel und Menschen", würde heute ein Rutherford auferstehen und sich den KdöR-Begierigen Zeugen Jehovas anschliessen. Letztere hätten wohl nichts eiligeres zu tun, als ihn aus ihren Reihen wieder auszuschliessen. Treffend hatte schon Dostojewski diesen Konflikt in seinem "Großinquisitor herausgearbeitet.

Man vergleiche dazu:

Parsimony.8527

Als nächstes versucht sich Rutherford in der Rolle des Propheten:

"Man beachte indes folgendes. Dadurch, dass die Religionisten den 'Staat' über Jehova Gott gesetzt haben, sind sie zu weit gegangen und in eine Lage geraten, aus der sie sich nicht mehr zurückziehen können. Der Tag ist nahe, da zur grossen Qual der Religionisten das radikale Element, das heisst Faschisten, Nazi und derartige Herrscher, in der Erkenntnis, dass die Religionsführer Heuchler sind, sich gegen die Religionisten wenden und sie vcrnichten werden."

Auch diese Kalkulation Rutherfords ging letztendlich nicht auf. Im Jahre 1938 im Blick auf Hitlerdeutschland und der Sowjetunion etwa, mag einigen eine solche These schlüssig erschienen sein. Aber auch Rutherford konnte im voraus nicht wissen, dass es Politik namentlich der USA-amerikanischen Politik nach 1945 sein würde, Religion in allen Formen wieder aufzupäppeln. Insofern erwies sich Rutherford als ein Fehlspekulator. Fehlkalkulationen und Einschätzungen unterlaufen sicherlich auch anderen. Die allerdings nehmen (in der Regel) für sich nicht in Anspruch, ein "Sprachrohr Gottes" zu sein.

Rutherford setzte aber zeitgenössisch auf die Karte: Konfrontation mit den anderen Konkurrenzreligionen. Beispielhaft dafür sind auch seine Aussagen:

"Wie Jesus mutig erklärte, dass die Religion vom Teufel dazu erfunden worden sei, Menschen zu täuschen und sie von Gott weg ins Verderben zu ziehen, gerade so verkündigen heute Jehovas Zeugen im Gehorsam gegen die göttlichen Gebote die gleiche Botschaft, indem sie darauf hinweisen, dass Religion der verheerendste Racket ist, der je erfunden oder am Volke verübt worden ist."

Die Schablone in die Rutherford dabei die zeitgenössischen Geschehnisse hineinpresste, kann man auch aus dem nachfolgenden Textauszug entnehmen, mit den Textanstreichungen zeitgenössischer Zeugen Jehovas.

Auch die USA blieben von seiner Kritik nicht verschont. Etwa wenn er äußert:

"In den Vereinigten Staaten von Amerika rückt dieses Ungeheuer, der Diktator Geist, der den Staat über Gott stellt, rapid vor, und die Freiheiten des Volkes sind am Verschwinden. Der zwangsweise Flaggengruss und derartige Zeremonien sind nur ein Mittel oder ein Schritt, alle Menschen zu zwingen, sich der totalitären Regierung zu fügen. Es werden jetzt Nazivereine gegründet, die überall in den Vereinigten Staaten wirken und sich öffentlich für den Faschismus oder diese Monster-Regierungsform erklären."

Zusammenfassend wird man sagen können. Auf einige brennende Wunden hat Rutherford seinen Finger gelegt. Das ist unbestritten. Die unmittelbare Zeit vor Beginn des zweiten Weltkrieges war alles andere als eine "heile Welt". Indes nicht die Beschreibung kritikwürdiger Zustände ist es doch wohl, was ihm Zulauf verschaffte (das spielte mit herein, war aber nicht das Wesentliche). Das Wesentliche indes war, was er als "Rezept" anbot. Das angeblich "nahe" bevorstehende Harmagedon. Keiner der seine Rezepte annahm, hatte in der Folge eine "beschauliches Leben". Sei es, dass er sich in den Hitler'schen KZs wiederfand, sei es, dass er in den USA Wutausbrüche die bis zum teeren und federn gingen, auf sich zog. Rutherford gaukelte seiner Anhängerschaft eine Seifenblasen-Fata Morgana vor. Die Probleme der Welt wurden durch seine Doktrinen nicht gelöst. Politisch aktives Handeln war nicht sein Bier. Eher lähmte er politisch aktives Handeln.

So nahmen die Dinge so oder so, ihren abschüssigen weiteren Lauf. Rutherford ging es nur um eines. Um seine Machtausdehnung (siehe Beispiel Predigtdienst, Literaturverkauf). Dafür und nur dafür, wollte er das letzte aus seiner Anhängerschaft herauspressen. Und wo das aufgrund staatlicher Rahmenbedingungen eben so nicht mehr möglich war; dann auch billigend in Kauf zu nehmen, die eigene Anhängerschaft Märtyrerhaft zu verheizen.

Es war die "Kinderschar" des Rattenfängers aus San Diego, die da den verlockenden Tönen folgte, und letztendlich nur eines ereilte. Das Hineinrennen in das eigene Unglück.

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