Tragischer Selbstmord ...

Sie hatte keine Wahl: Von klein auf musste Sabine L... als Zeugin Jehovas missionieren. Erst spät fand sie den Ausstieg aus der Sekte. Heute blickt sie zurück auf eine

Geraubte Kindheit

Als Sabine L... im Oktober 1971 geboren wird, leben ihre Eltern bereits seit zwei Jahren „in der Wahrheit" – die neue Erdenbürgerin wächst in der Erdengemeinschaft der Zeugen Jehovas auf. Dieses System bestimmt ihre ganze Kindheit und Jugend, ihr Leben verläuft anders als das ihrer Altersgenossen. Schon als Säugling ist Sabine dreimal wöchentlich bei den Zusammenkünften der Zeugen mit dabei: Sie schläft im Kinderwagen, während ihre Eltern die Texte aus den Wachtturmheften lesen und interpretieren. Spielplatz, Kindergarten, diese Orte bleiben dem Mädchen und seinen beiden älteren Brüdern vorenthalten. Ein guter Zeuge Jehovas schützt seine Kinder vor den schlechten Einflüssen der Welt. Und Sabines Eltern sind vorbildliche Zeugen, ihr Vater ist sogar „Ältester": Er leitet Versammlungen, organisiert Predigtdienste, entscheidet in einem Rechtskomitee, ob ein Sünder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird.

Isoliert, ständig kontrolliert und streng behütet wächst das Mädchen heran. Alltag, Freizeit, Urlaub – alles spielt sich im Kreis der Zeugen Jehovas ab. „Ich habe gar nicht bemerkt, dass es noch andere Menschen gibt", erinnert sich Sabine.

Erst mit Schulbeginn trifft sie auf die „böse Welt". Doch Sabine ist gut gewappnet: Als Zeugin Jehovas ist sie besser als alle anderen. Dieses elitäre Bewusstsein ist ihr von klein auf eingetrichtert worden. Sie kann stolz sein dieser Religionsgemeinschaft anzugehören, sagen ihre Eltern und Sabine glaubt ihnen. Dass sie verspottet und ausgegrenzt wird, tut zwar sehr weh, zeigt aber, dass sie es richtig macht. Und das hilft der Siebenjährigen, die Hänseleien und Anfeindungen der Mitschüler auszuhalten, tagsüber. Nachts liegt das Mädchen oft verzweifelt und heulend im Bett. Als die Situation in der Klasse für sie unerträglich wird, wechselt sie die Schule. Vorsichtig und schüchtern bleibt Sabine aber auch in der neuen Klasse im Abseits: Außerschulischen Kontakt mit ihren Klassenkameradinnen dulden ihre Eltern nicht. Sabine zieht sich zu ihren Schularbeiten zurück, ist ehrgeizig und fleißig – auch in ihrer Religionsgemeinschaft.

Was bleibt ihr auch anderes übrig? Isoliert und ohne Freunde braucht die Jugendliche dringend die Zustimmung und Anerkennung ihrer Eltern und der Zeugen Jehovas. Die kriegt sie, wenn sie eifrig „Dienst von Haus zu Haus" macht und ihren Missionsauftrag gut erfüllt. Von Kind a gedrillt sagt Sabine vor den Haustüren ihre Sprüche auf und freut sich, wenn sie Erfolge aufweisen kann. Jeden Monat macht sie etliche Stunden Predigtdienst, verkauft mehrere Bibeln. Sie leistet viel für die Religion und die Lauterbachs sind sehr stolz auf ihre Tochter.

Unlust, Zweifel oder gar Kritik – das lernt Sabine schon früh runterzuschlucken. Nicht nur weil sie ihren Eltern gefallen will. Sie fürchtet auch den Schmerz. Ist sie „ungehorsam", wird sie von ihrer Mutter geohrfeigt und von ihrem Vater „ausgiebig" geschlagen – körperliche Züchtigung ist bei den Zeugen üblich und wird empfohlen. Kein Wunder, dass aus der kleinen Sabine ein schüchternes Mädchen wird. All die „heidnischen" Feste wie Weihnachten, Ostern, Geburtstag darf sie als Zeugin Jehovas nicht feiern. Doch „darüber bin ich sehr froh, weil mir viel Stress erspart bleibt", schreibt sie als 14-jährige in ihr Tagebuch. Heute weiß sie, dass sie „brav und angepasst glaubte", was man ihr einredete. Und sie weiß auch, warum sie als Jugendliche schon depressiv war: „Ständig unter Druck etwas falsch zu machen und bestraft zu werden, ständig meiner Freiheitsräume beraubt habe ich nur geschluckt und mich nicht gewehrt", erzählt Sabine. Und immer öfter überkommt sie diese Ausweglosigkeit: „Am liebsten würde ich sterben." Mit 23 Jahren beginnt Sabine ein Fachhochschulstudium in einer anderen Stadt und zieht daheim aus. Endlich hat sie eigene vier Wände, ist unbeobachtet, „ein wunderbares Gefühl". Zum ersten Mal in ihrem Leben geht sie abends lange aus und „tanzt, was das Zeug hält". Doch auch in ihrer neuen Freiheit geht Sabine zu den Treffen der Zeugen Jehovas, lebt sie ohne Freund, befolgt sie weitgehend die Regeln. Zwei Jahre später, im Herbst 1997, lernt die junge Frau bei einem Tanzkurs an der Uni Johannes* kennen. Es funkt zwischen den beiden. Sabine erzählt ihm zunächst nichts von ihrer Glaubensgemeinschaft. Doch die Zweifel, die sie jahrelang weggedrückt hat, fangen nun an, in ihr zu toben: „Was ist das für eine Religion, die mir verbietet andere Menschen, Nicht-Zeugen, zu lieben?" Und weil sie so verliebt ist und zum ersten Mal lernt, was menschliche Wärme und Nähe ist, spürt sie: „Ich will da raus." Im Januar 1998 schläft die 26-jährige mit ihrem Freund, begeht zum ersten Mal in ihrem Leben ganz bewusst einen „Fehltritt" und bekennt ihn vor den Ältesten. Sabine wird wegen „Hurerei und fehlender Reue" nach einer Woche Bedenkzeit ausgeschlossen. Jetzt ist sie Abtrünnige – „das Schlimmste, was einem Zeugen Jehovas passieren kann". Sie hat diesen Schritt geplant und sich entschieden.

Befreit läuft Sabine an jenem kalten Abend im Februar 1998 nach Hause. „Ein neues Leben beginnt", sagt sie sich immer wieder und kann es kaum fassen. Euphorisch und in aller Eile räumt sie in ihrer Wohnung auf: Zeitschriften, Bücher – die ganze Jehova-Literatur wandert ohne Zögern ins Altpaper. Nichts mehr von all dem will sie auch nur noch einen einzigen Tag länger in ihren Räumen haben.

Hungrig greift Sabine auf, was ihr bislang verwehrt war: Sie liest Bücher von anderen „Abtrünnigen" und fühlt sich bestätigt. Sie sucht Kontakte und hat endlich echte Freundinnen, Menschen, die sich freuen, wenn es ihr gut geht, die sie um ihrer selbst willen mögen und nicht, weil sie ihren Missionsauftrag erfüllt. Sie lernt Spaß am Leben zu haben, zu genießen, ganz allmählich.

Oft aber holt die Angst sie ein. Nachts träumt die junge Frau: Ihre Mutter dringt in ihre Wohnung ein, bedroht sie und sie kann sich nicht wehren. Und tatsächlich ruft ihre Mutter immer wieder bei ihr an, versuchen ihre Eltern Sabine „zurückzuholen". Dann geht es ihr immer schlecht, sie fühlt sich bedrängt, manipuliert und kraftlos. Doch sie will den Kontakt zu ihren Eltern nicht abbrechen. „Die sind einfach verblendet und tun ihr Bestes."

„Ich habe nicht gelernt mich abzugrenzen und zu wehren", hat Sabine erkannt. Deshalb auch erlebt sie Kritik schnell als lebensbedrohlich und vernichtend. Ein Streit mit ihrem Freund vor einigen Monaten setzte ihr so sehr zu, dass sie nicht mehr leben wollte. „Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn mir meine Freundin in letzter Minute nicht gut zugeredet hätte", sagt Sabine und fängt an zu weinen. Einige Male besucht sie eine Aussteigergruppe, doch die „Dramen", die sie dort hört, machen ihr mehr Angst als Mut. Und sie entscheidet, doch lieber wieder wegzubleiben.

Die Kindheit und Jugend in der Sektehaben bei Sabine tiefe Spuren hinterlassen. Das weiß sie, obwohl sie ihre Vergangenheit am liebsten abschließen, vergessen möchte. „Ich will es schaffen", sagt sie energisch, „aber einfach ist es nicht."

Rita P...

Quelle: Frau im Leben, Oktober 1999

*Namen von der Redaktion geändert

Tragischer Selbstmord einer Aussteigerin

Es war nur eine knappe Pressemeldung. In Weingarten bei Karlsruhe hatte sich eine junge Frau vor den Zug geworfen. Niemand wusste zunächst, wer sie war, woher sie kam und weshalb sie dieses schreckliche Ende gewählt hatte. Und nur wenige werden je erfahren, dass es sich bei der jungen Frau um eine ehemalige Zeugin Jehovas handelte, die ihrem Leben ein verzweifeltes Ende setzte. Weil sie sich nach einer Kindheit in der Sekte in dieser Welt nicht zurecht fand. Und weil das Leben nach dem Zerbrechen ihrer ersten großen Liebe keinen Sinn mehr zu haben schien.

Sie sah ruhig und nachdenklich aus, als sie zum ersten Mal beim Treffen der Sekteninitiative AUSSTIEG in Karlsruhe erschien. Eine attraktive junge Frau, die sich kurz zuvor von den Zeugen Jehovas gelöst hatte und den Kontakt zu anderen Aussteigern suchte. Doch als sie die teilweise erschütternden Berichte der anderen hörte, löste sich auch ihre Zurückhaltung und es brach förmlich aus ihr heraus. Sie erzählte von ihrer Kindheit als Zeugin Jehovas, von einem Leben ohne Freunde, abgeschirmt von der Welt und geprägt von religiösen Zusammenkünften und Predigen von Haus zu Haus. Und sie berichtete vom unbeschreiblichen Gefühl der Freiheit, als sie mit 23 Jahren ein Fachhochschulstudium begann, in eine andere Stadt zog und zum ersten Mal nicht mehr unter der strengen Überwachung ihrer Eltern stand.

Sie redete mehr als eine Stunde und jeder im Raum spürte, wie gut es ihr tat, endlich einmal die über viele Jahre aufgestauten Gedanken und Empfindungen los zu werden.

Wenig später reagierte sie auf die Anfrage einer Frauenzeitschrift und traf sich mit einer Redakteurin für einem Gespräch, das schließlich zu einem Artikel von Frau im Leben führte. Nur wenige wussten, dass sich hinter der darin beschriebenen Sabine L... die Sektenaussteigerin Daniela aus Karlsruhe verbarg.

Schon als Kind hatte Daniela Selbstmordgedanken. Sie erinnert sich an Situationen der Ausweglosigkeit, die in dem hoffnungslosen Wunsch endeten: "Am liebsten würde ich sterben". Zum Beispiel wenn sie sich mit Schulfreunden nur heimlich treffen konnte, weil sie ja als Zeugin Jehovas keinen Kontakt zu "Weltmenschen" haben durfte. Und wenn die anderen am Samstagabend ins Kino oder die Disko gingen, während sie zu Hause saß und für die sonntägliche Versammlung den Wachtturm studieren musste.

Danielas Ausstieg bei den Zeugen Jehovas bedeutete auch einen absoluten Bruch mit ihrem Elternhaus. Sie wusste nur allzu gut, dass sie dort erst wieder wirklich willkommen sein würde, nachdem sie wieder zu "Jehovas Organisation" zurück gefunden hatte. Ihre Eltern hielten es schlicht und einfach für eine Katastrophe, dass ihre Tochter den "Weg der Wahrheit" verlassen hatte, um zu einem Teil dieser Welt zu werden. Schließlich waren sie davon überzeugt, dass dieses "System der Dinge" in unmittelbarer Zukunft vernichtet würde, um Platz für das lang ersehnte "Paradies auf Erden" zu machen. Und ihre Tochter würde nicht dabei sein. Sie würde in der "Schlacht von Harmageddon" vernichtet werden. Ein unvorstellbarer Gedanke für Eltern, deren gesamtes Leben von den Lehren und Regeln der Wachtturm-Gesellschaft bestimmt war und die eigentlich von Karlsruhe wegziehen wollten, um ihren Lebensabend im "Vollzeitdienst" für Jehova zu verbringen.

Zwar gab es hin und wieder Telefongespräche zwischen Daniela und ihrer Mutter, doch die einst so gehorsame Tochter ließ sich nicht mehr dazu überreden, in die Sekte zurück zu kehren. Eine Entschlossenheit, die auch ihr Vater, angesehener Ältester in einer Karlsruher Zeugen-Jehovas-Versammlung, nicht verstehen konnte. Hatte er nicht alles getan, um seine Tochter nach den "Ratschlägen der Bibel" zu erziehen? Hatte er sie nicht von Kind auf von dieser Welt fern gehalten und sie mit der "liebevollen Zucht" aufwachsen lassen, wie es die Wachtturm-Gesellschaft empfiehlt? Für ihn war klar, dass hier Satan am Werk sein musst. Und dass vor allem die Karlsruher Sekteninitiative AUSSTIEG seiner Tochter den "rebellischen Geist dieser Welt" eingepflanzt und sie von der Familie entfremdet hatte. In diesem Sinne äußerte er sich zumindest einer früheren Lehrerin Danielas gegenüber, die sich im Karlsruher Raum aktiv für die Sektenaufklärung einsetzt und für die junge Frau zur vertrauten Gesprächspartnerin geworden war.

Wer sich noch nie mit den Auswirkungen einer Sekte auf die Persönlichkeit eines Menschen auseinandergesetzt hat, kann nicht nachempfinden, welcher ungeheuren psychischen Belastung Menschen ausgesetzt sind, die sich vom Absolutheitsanspruch einer solchen totalitären Gruppierung gelöst haben. Denn der Ausstieg ist erst der erste Schritt. Was folgt, ist eine heftige Phase der inneren Ablösung, die sich nicht selten über Jahre hinzieht. Dabei müssen Selbstzweifel überwunden, Schuldgefühle abgebaut und neue Lebensansichten entwickelt werden. Und das von von den Interessen der Sekte bestimmte Leben muss mit eigenen Inhalten und neuen Zielen gefüllt werden.

Vor allem aber gilt es, das bisherige soziale Umfeld durch neue Kontakte und Freundschaften zu ersetzen. Denn Zeugen Jehovas sehen wie die meisten totalitären Sekten Aussteiger als Abtrünnige an, die in Satans Welt zurückgekehrt sind und zu denen ein "wahrer Christ" alle freundschaftlichen Beziehungen abbricht. Da ist es gut, wenn man Menschen außerhalb der Sekte kennt, die mit freundschaftlicher Nähe über die Einsamkeit hinweg helfen.

Danielas Ausstiegshilfe war ein Student, den sie auf einem Uniball kennen gelernt hatte. Ein junger Mensch, der für sie genau die Freiheit verkörperte, nach der sie sich in ihrem bisherigen Leben so gesehnt hatte. Die erste große Liebe einer mittlerweile 26 Jahre alten Frau, die bisher eigentlich vom Leben nicht viel mitbekommen hatte. Sie war in einer Familie aufgewachsen, in der sich alles um das "neue System" drehte, um das Paradies auf Erden, das unmittelbar bevorstand. Dating war ein Fremdwort, Diskos galten als unmoralisch und junge Leute wurden in zahlreichen Wachtturm-Artikeln angehalten, sich nur dann mit dem "anderen Geschlecht" einzulassen, wenn sie konkrete Heiratsabsichten hegten.

Doch wer keine eigene Erfahrung mit Sekten hat, der tut sich oft schwer mit der Psyche eines Partners, der gerade erst der geschlossenen Denkwelt einer extremen religiösen Gruppe entronnen ist und zahlreiche Schwierigkeiten hat, sich in dieser Welt zurecht zu finden. Und so kam, was kommen musste. Danielas Freund zog sich immer mehr von ihr zurück. Der großen Liebe folgte der noch größere Liebeskummer und Daniela sah keinen anderen Ausweg, als vom Dach ihres Hauses zu springen und sich das Leben zu nehmen.

Zum Glück konnte ihr erster Selbstmordversuch vereitelt werden. Die Beziehung zu ihrem Freund ging doch nicht ganz in die Brüche und Daniela traf sich fortan regelmäßig mit einem Psychotherapeuten, der sie bei der Bewältigung ihrer Lebenskrise unterstützte.

Gleichzeitig zog sie einen dicken Trennungsstrich zu ihrem früheren Leben. Sie bezog ihre erste eigene Wohnung und teilte ihre neue Adresse und Telefonnummer nur einigen wenigen, vertrauten Menschen mit. "Ich will einfach nicht, dass einer von der Familie bei mir anruft oder sogar hier auftaucht. Danach bin ich jedes Mal für Stunden deprimiert", waren ihre Worte. Dazu kam, dass sie endlich den lange gesuchten Job gefunden hatte und das Leben immer freundlichere Züge annahm. Alle, die Daniela kannten, beobachteten, wie sie sich immer mehr zu einem lebensfrohen Menschen entwickelte. Sie blühte förmlich auf, erschien gelegentlich wieder bei Treffen der Selbsthilfegruppe und erzählte - mit erkennbarem Abstand - von der Welt der Zeugen Jehovas mit ihren tausend Verboten, mit der sie nichts mehr zu tun haben wollte.

Doch die Probleme mit ihrem Lebenspartner hielten an. Der junge Mann zog zu seinen Eltern und die tagsüber lebensfrohe junge Frau spürte an den langen Abenden allein und ganz besonders am Wochenende die Einsamkeit. Sie führte Telefongespräche mit Freunden, die bis spät in die Nacht dauerten und sich immer wieder um die Probleme ihrer Beziehung drehten. Dazwischen der Ausspruch "...dann mach ich Schluss".

Die Nachricht traf alle, die Daniela gekannt und schätzen gelernt hatten, wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

Eine Familie am Ort, die im ständigen Kontakt mit ihr stand, hatte sich zunächst gewundert, warum Daniela schon seit Tagen nicht mehr erreichbar war. Beim Treffen der Selbsthilfegruppe am 18. März 2000 erwähnte jemand die Notiz aus der Zeitung über einen Vorfall in Weingarten. Ein leiser Verdacht kam auf. Ein Telefongespräch mit der Polizei brachte Gewissheit: Daniela F. hatte sich das Leben genommen.

Es ist ein sinnloser Tod. Die Verzweiflungstat einer jungen Frau, die gerade daran war, innerlich aufzublühen und das Leben zu genießen. Die Folge einer Kindheit und Jugend in der Enge und Abgeschlossenheit einer Sekte. Das tragische Ende eines Lebens, das nie die Chance hatte, sich richtig zu entfalten.

Der Schreiber dieser Worte ist entfernt mit Daniela verwandt. Er gibt nicht ihrem Lebenspartner und nicht ihren Eltern die Schuld an ihrem Tod. Sondern einer eiskalten Organisation, die Menschen ihre Lebensperspektive nimmt, sie von der menschlichen Gesellschaft isoliert und ihren Glauben manipuliert, indem sie seit über hundert Jahren die Hoffnung auf ein Paradies auf Erden nährt.

Stephan E. W.
26.03.2000

Nachtrag

Daniela F... hat in ihrem Abschiedsbrief verfügt, dass ihr kleines Vermögen zur Hälfte Ihrem Arbeitgeber und zur Hälfte an die Selbsthilfegruppe und Betroffenen-Initiative AUS/STIEG gehen soll. Sie hat in ihrem Interview in Frau in Leben deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie einen klaren Strich zwischen sich und ihrem Elternhaus zieht. Eigentlich der eindeutige Wille einer Verstorbenen, die sich aus Verzweiflung das Leben genommen hat.

Der Arbeitgeber Danielas hat darauf verzichtet, das Erbe anzutreten. Nicht so ihr Vater. Er teilte dem Nachlassgericht in einem vier Seiten langen Schreiben mit, dass alle Äußerungen seiner Tochter gegenüber den Medien und ihr nahestehenden Menschen nicht der Wahrheit entsprechen. Besonders leugnete er ab, sie geschlagen zu haben und betonte, dass sich seine Kinder freiwillig dazu entschlossen hätten, Zeugen Jehovas zu werden. Außerdem forderte er mit Nachdruck seinen Pflichtanteil am Erbe seiner Tochter.

Die Antwort des Nachlassgerichts war knapp und treffend: "Selbstverständlich steht Ihnen der gesetzliche Pflichtanteil zu. Ob dies im Sinne Ihrer Tochter ist, wage ich zu bezweifeln. Das Testament spricht hier eine eindeutige und erschütternde Sprache, die Ihnen zu denken geben sollte."

Es gab ihm aber offensichtlich nicht zu denken. Nach einjährigem Kampf erhielt er schließlich seinen Pflichtteil am Erbe seiner Tochter. Sein Kommentar zu AUS/STIEG: "Sie hat gewusst, dass mir dieser Anteil zusteht und hat ihn daher nicht ausdrücklich ausgeschlossen."

Suizid von Sabine S. - ein Jahr danach

Eine junge Frau wirft sich vor den Zug, nachdem sie den Zeugen Jehovas den Rücken gekehrt hatte. Fast auf den Tag genau ein Jahr her ist diese Tragödie, die sich in Karlsruhe ereignete. Oder war der selbstgewählte Tod die Reaktion auf eine zerbrochene Liebe? Die wahre Antwort kennt niemand. Soviel ist jedoch gewiss: Die Wunden sind längst nicht verheilt. Sekte und Gegner weisen sich gegenseitig die Schuld am Tod der jungen Frau zu.

Karlsruhe, 17. März 2000, der Frühling erobert Karlsruhe. Sabine S. (alle Namen im Text von der Redaktion geändert) ist gerade 28 Jahre alt geworden und hat ihr Studium beendet. Trotzdem will sie nicht mehr weiterleben und wählt einen grausigen Freitod: Sie springt vor einen Zug.

Die beiden Parteien schildern die Vorgeschichte des Dramas in verschiedenen Versionen: "Wir haben Sabine im Sinne der Zeugen Jehovas erzogen," berichtet ihr Vater, Heinz S., der selbst Mitglied der Zeugen Jehovas ist. Als Jugendliche habe sich seine Tochter freiwillig entschieden, Mitglied zu werden, betont er. "Mit 26 hatte sie eine Beziehung zu einem Nichtmitglied - das ist bei uns unüblich." Es folgte der Austritt. "Seit ihrer Jugend war unsere Tochter psychisch nicht stabil. Wir dachten, das verflüchtigt sich, sie hat schließlich erfolgreich studiert."

Liebe zerbrochen

Zwei Jahre später zerbrach Sabines große Liebe, sie wählte den Freitod. "In ihrem Abschiedsbrief hat sie nicht uns die Schuld gegeben, sondern der gescheiterten Beziehung," sagt Heinz S. Nachdem die 28-jährige der nicht-staatlichen Glaubensgemeinschaft den Rücken gekehrt hatte, schloss sich Sabine der Karlsruher Selbsthilfegruppe AUS/STIEG an, die Sektenaussteigern hilft, sich in ihrem neuen Leben zurecht zu finden. "Eine der Nebenwirkungen war, dass sich unsere Tochter von ihrem Elternhaus immer mehr entfernt hat. Vielleicht hat ihr das geschadet. Vielleicht hätte sonst alles anders ausgehen können," urteilt Sabines Vater.

Hohe Selbstmordrate

Katrin H. ist Gründungsmitglied der Karlsruher Gruppe von AUS/STIEG. Für sie ist Sabines Tod ein Resultat ihrer Trennung von den Zeugen Jehovas: "Wenn Sektenmitglieder aussteigen, sind sie meist nicht in der Lage, sich in der Normalität zurecht zu finden, die Selbstmordrate ist hier erschreckend hoch." Da Sabine in die Sekte hiengeboren worden ist, hätte sie in vieler Hinsicht keine Ahnung vom wirklichen leben gehabt. In manchen Dingen sei sie ihren Altersgenossen um Jahre hinterher gewesen.

Grundsätzlich wirft Katrin H. Sekten vor, dass sie Aussteiger mit ihrem alleinigen Anspruch auf Erlösung und Psychostress setzen: "Die Hilfesuchenden haben Angst vor der satanischen Außenwelt, die ihnen immer gepredigt wurde - und vor dem Ende der Welt, bei dem nur die Mitglieder gerettet werden. Sie fragen immer wieder. Und wenn doch was dran ist, was wenn wir doch vernichtet werden?" Nach Schätzungen der Pädagogin benötigt ein Aussteiger rund die Hälfte der Zeit, die er in einer Sekte Mitglied war, um sich anschließend von ihr innerlich zu befreien.

Alles nur Übertreibung?

Für Sabines Vater sind solche Aussagen glatte Übertreibungen. Trotzdem gibt er zu, dass ein Ausstieg nicht ganz unproblematisch ist: "Das ist wo, wie wenn ein Ehepaar auseinander geht." Anders sieht das Dr. Jan Badewin, Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen und Direktor der Evangelischen Akademie Baden: "Wer aussteigt, verliert schließlich seine geistige Heimat." Eine andere hätten die Mitglieder nicht, da sie vom Alltag der Gesellschaft isoliert würden. Als Beispiel nennt Badewin die Zeugen Jehovas, bei denen Weihnachten und Geburtstage als heidnisch verurteilt werden.

Wieviele Sektenmitglieder es in der Fächerstadt gibt, kann der Akademiedirektor nicht genau beziffern. Deutschlandweit lägen die Schätzungen bei ein bis anderthalb Prozent der Bevölkerung. "Gewalttätige Sekten in Karlsruhe sind uns nicht bekannt, dafür jedoch solche, die versuchen, ihre Mitglieder psychisch unter Druck zu setzen."

In der Fächerstadt kennt Dr. Badewin Sekten mit christlichen Wurzeln wie die Neuapostolische Kirche und die Zeugen Jehovas. Weiterhin vertreten sind Scientologen, Mahikari, Eckankar, das Universelle Leben sowie esoterische Gruppierungen mit sektiererischen Zügen wie Bruno Gröning Freundeskreis.

Kritischeres Bewusstsein

"Das Bewustsein zu den problematischen Seiten von Okkultismus und klassischen Sekten wächst," hat Badwin durch seine Arbeit als Sektenbeauftragter beobachtet. Exotische Gruppen wie die Moon-Sekte oder die Kinder Gottes fänden in Karlsruhe weniger Zulauf als noch vor einigen Jahren. ...Quelle: Boulevard Baden 18. 03. 2001

Leserbrief

Menschen, die sich mit der unbiblischen und damit scheinheiligen Doktrin der Zeugen Jehovas befasst haben, kennen die engen Grenzen, den kolossalen psychischen Druck und all die Verboten gleichkommenden Einschränkungen, die die Wachtturmgesellschaft heranwachsenden Menschen auferlegt. Aus vielfältiger Erfahrung weiß ich, wie es mit der Psyche dieser jungen Menschen bestellt ist, wenn sie Zweifel an der Wahrhaftigkeit der ihnen indoktriniertenLehre bekommen. Und ich erlebe immer wieder, in welchem Zustand sie in unsere Selbsthilfegruppe kommen, wenn sie die Sekte gerade verlassen haben oder gar wie Sabine S. hinausgedrängt wurden.

Man hat sie zynisch zur „Hure" und zur „Abtrünnigen" abgestempelt, nur weil sie verliebt war und eine Beziehung mit einem jungen Studenten pflegte, der eben kein Zeuge Jehovas war. Eine Beziehung mit einem Nichtmitglied ist also nicht nur „unüblich", wie es Herr S. formuliert, sondern sie zieht eine persönliche Katastrophe nach sich.

Sollte in einem solchen Fall eine abgeschlossene Fachhochschulausbildung für psychische Stabilität sorgen, jetzt, wo alle ihre ehemaligen Glaubensgenossen wegschauten, wenn sie der Geächteten auf der Straße begegneten? Sollten die ständigen Beweihräucherungen der „Organisation", die sie, wenn immer sie ihre Eltern besuchte, mit anhören musste, weiterhelfen?

Sabine hatte das wahre, intolerante und gehässige Verhalten dieser Organisation erlebt und ihre Konsequenzen gezogen: Die ganze angesammelte Literatur samt der ohnehin gefälschten Wachtturmbibel wanderten unverzüglich in den Mülleimer. Sie konnte und wollte nicht mehr an diesen Jehova glauben.

Aus eigenem Antrieb kam sie in unsere Selbsthilfegruppe und erkannte in mir eine frühere Lehrerin wieder. Allerdings war sie nicht in der Lage, die oft erschütternden Berichte anderer Aussteiger und Betroffener anzuhören; sie hatte, wie sie mir sagte, mit der Bewältigung ihrer eigenen Vergangenheit genug zu tun. Deshalb war sie nur ein seltener Gast in der Gruppe; Telefongespräche mit mir oder Besuche bei mir zuhause waren für sie wichtiger. Auch nahm sie regelmäßige Besuche bei einem Gesprächstherapeuten auf.

Ich verwahre mich hier nachdrücklich dagegen, dass Herr S. unserer Selbsthilfegruppe die Schuld an der Entfremdung Sabines vom Elternhaus zuschieben möchte. Im Gegenteil: Immer wieder habe ich ihn, noch zu Sabines Lebzeiten, dringend um Gespräche gebeten und ihm versichert, dass es mein Bestreben sei, Eltern und Tochter einander wieder näher zu bringen. Auch mit Sabine habe ich oft über dieses Thema gesprochen und stets betont, Eltern und Kinder sollten einander nahe bleiben. Meinen Vorschlag, mit ihr zusammen ihre Eltern zu besuchen, lehnte sie aus panischer Angst vor nächtlichen Albträumen, die sie regelmäßig nach solchen Besuchen hatte, ab. Nicht grundsätzlich, wie sie sagte, aber vorerst.

Auch wenn Herr S. die Meinung vertritt, meine Aussagen zur Sekte der Zeugen Jehovas seien glatte Übertreibungen, stehe ich voll dazu, denn sie sind es eben nicht. Der erschreckend naive Vergleich eines Ausstiegs aus seiner Sekte mit der Trennung von Ehepartnern spricht für sich selbst und bedarf keines Kommentars mehr.

Sabine hat wenige Stunden vor ihrem Freitod mit mir telefoniert. Ihr Freund, der ihre Lösung von den Zeugen Jehovas verursacht und an den sie sich wie an einen Strohhalm geklammert hatte, hatte sich von ihr losgesagt.

Herr S. lehnte mein Angebot eines Gesprächs von Mensch zu Mensch auch nach dem Tod seiner Tochter ab. Wichtiger schien ihm, an den Pflichtteil des Erbes zu kommen, das Sabine aus Dankbarkeit zur Hälfte der Gruppe AUS/STIEG zugedacht hatte. Darum hat er ein Jahr lang gekämpft und hat ihn nun auch bekommen. Was wohl seine Tochter dazu sagen würde, diese liebenswerte, traurige junge Frau, die keinen Kindergarten besuchen und nicht mit andern Kindern spielen durfte, die ein heimlich aus der Bibliothek geliehenes Buch („Die Blechtrommel") sofort zurücktragen und stattdessen lächelnd mit ihrer Mutter von Haus zu Haus gehen musste, der auch ihre Leidenschaft, das Tanzen, verboten wurde und die letztlich an einem ebenso labilen und schwachen jungen Mann vollends zerbrochen ist?

Katrin H.

http://web.archive.org/web/20040131053507/www.infolink-net.de/docs/news/presse066.htm

http://web.archive.org/web/20040129131433/www.infolink-net.de/docs/news/presse131.htm

Suizid

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