Zwölf Jahre meines Lebens
von Gerhard Peters

Romane die das Leben schrieb, wäre ich geneigt diesen über etliche Fortsetzungsfolgen in der "Christlichen Verantwortung" veröffentlichten Bericht zu benennen. Er ist meines Erachtens ein Zeitdokument der Zeugen Jehovas, Anfang der 1950er Jahre. Damit zu einem Zeitpunkt, den etliche der heutigen nur vom Hörensagen kennen. Dennoch: Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht begreifen und die Zukunft nicht gestalten. Eine Überheblichkeit nach dem Motto: Das waren die Probleme der "Altvorderen" ist meines Erachtens fehl am Platze. Impliziert im Petersbericht sind auch einige Aspekte des kalten Krieges zwischen Ost und West. In  Kurzkommentaren hatte ich versucht sie zu umreißen:


Bei der Tragödie des Gerhard Peters kamen eine ganze Reihe Faktoren zur gleichen Zeit zur Wirkung , die sein Leiden potenzierten. Einmal seine Eheverhältnisse. Seine durchaus anspruchsvolle Frau erachtete es als nicht notwendig, selbst eine Berufstätigket auszuüben und hatte für diese Position die volle Rückendeckung der Zeugenorganisation. Dieweil ja auf diesem Wege auch weitere Zeit für den Predigtdienst zur Verfügung stand.

Ihr Ehemann in der permanenten Überlastung. Streßvoller Beruf + Ansprüche der Zeugenorganisation, zuzüglich vielleicht noch gepaart mit einer gewissen Hitzköpfigkeit in Krisensituationen, vermasselt
sich seine weiteren beruflichen Perspektiven selbst. Am Boden zerstört, glaubt er nur durch einen
Ortswechsel von West- nach Ostdeutschland eine neue berufliche Perspektive zu finden. Seine schon vorher angeschlagene Ehe geht darüber endgültig zu Bruch.

Als Ausgeschlossener verfemt, bemüht wenigstens dieses Manko wieder zu beseitigen, erreicht er
eine Aussprache beim damals höchsten Zeugenfunktionär Konrad Franke. Auch die geht für ihn
ungünstig aus. Dazu Peters:

"Ich traf auch den Versammlungsdiener von Hamborn, Bruder Kolpatzek. Ich trug meinen Wunsch vor. Er sagte, er wolle mit Bruder Franke sprechen und mir Bescheid geben, ob er sich von mir sprechen
lassen will. Ich demütigte mich auch unter diese Überheblichkeit. Schließlich erhielt ich Bescheid, ich sollte sofort zu Bruder Franke kommen, er habe sich bereit erklärt, mein Anliegen anzuhören. … In einem Vorzimmer mußte ich warten. Welche Distanz. Nach einer halben Stunde öffnete sich die Tür, ein Bruder kam heraus und sagte, bitte schön. Ich folgte ihm ins "Allerheiligste."

Bruder Franke saß am Schreibtisch. Neben ihm stand für mich völlig unerwartet - meine Frau. Kein brüderlicher Gruß. Nichts. Sie sind Herr Peters? Ja, sagte ich. Und was wünschen Sie? Ich erklärte
ihm nun kurz, daß ich möchte, daß meine Angelegenheit nochmals überprüft wird, weil ich der festen
Überzeugung sei, mir ist Unrecht widerfahren. Ich sei extra deswegen aus der DDR auch zu diesem
Kongress hergekommen, um ihn sprechen zu können. Ich hatte tatsächlich DDR gesagt, und er hatte
das deutlich registriert. Damit hatte ich schon politisch alles verdorben und verloren. Für die
Organisation gab es nur eine "Ostzone".

Dann sagte Franke: Ich habe Ihren Fall genauestens überprüft, und wenn ich sehe, wie Sie hier sprechen, so erkenne ich, daß Sie nicht die geringste Demut zeigen und noch nicht das mindeste bereut haben. Es ist unmöglich, Sie jemals wieder in die Gemeinschaft Gottes aufzunehmen. Bitte verlassen Sie sofort das Zimmer. Ich wollte noch etwas sagen, aber er schnitt mir jedes weitere Wort ab mit der nochmaligen Aufforderung: Bitte verlassen Sie sofort das Zimmer. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich umzudrehen und zu gehen."

Erneut am Boden zerstört, absolviert Peters ein Jahr später (1958) die von den Zeugen Jehovas
erwartete Mutprobe. Er hatte Westdeutschland verlassen und war in die DDR übergesiedelt wo seine Eltern wohnten. Sein Versuch, die Wiederaufnahme bei den Zeugen Jehovas zu erreichen, blieb jahrelang ohne Erfolg. Nun im Jahre 1958 bot sich die Möglichkeit seine "Standhaftigkeit" unter Beweis zu stellen.

Als gebürtiger DDR-Bürger registriert man es durchaus, dass Peters, vom DDR-Staat, drastisch
formuliert "Zucker in den Allerwertesten geblasen bekommen hat". Es waren zu jener Zeit mit
Sicherheit nicht viele, die diesen Weg von West nach Ost beschritten hatten. Das war dem
DDR-Staat schon mal was wert. Und so fand sich auch Peters alsbald auf einem Drückerposten wieder ausgestattet mit eigenem Dienstwagen.. Dieser Glückseligkeitstraum sollte allerdings für Peters nicht allzu lange vorhalten.

Da war noch die "Standhaftigkeitsprobe", die seitens der Zeugen Jehovas erwartet wurde und die er auch in ihrem Sinne absolvierte. Fast überflüssig anzumerken - nicht ohne Folgen. Peters dazu: "Wie zu erwarten, kommen am Abend die Wahlhelfer mit der Urne zu mir in die Wohnung, um mir eventuell den Weg zum Wahllokal abzunehmen. 'Jetzt hast, du Gelegenheit, dachte ich, jetzt wirst du beweisen, dar du noch ein Zeuge bist!'. Gefragt nach den Gründen meines Verhaltens sage ich ihnen nun meine Meinung als Zeuge! Politik - Satanswerk! Staat - Werkzeug des Teufels. Sozialismus - Vom Teufel gezeugt, und zur Reife gebracht! Hochempört verlassen die Wahlhelfer meine Wohnung."
 
Der Bericht endet in der CV 36. Letzterer versucht den Eindruck zu erwecken, als wäre der Kurswechsel in der Obrigkeitslehre, in den Jahren 1962/63, für Peters nunmehr der formale Anlass gewesen, mit den Zeugen Jehovas Schluß zu machen. Dieser Interpretation in der CV 36 stehe ich aus gewichtigen Gründen sehr kritisch gegenüber.

Mir ist bekannt, dass dieser Petersbericht eine "Zweitfassung" ist. Seine Erstfassung wurde nicht veröffentlicht. Und es wurde Sorge dafür getragen, dass er entsprechende Ghostwriter Unterstützung bekam, für den Text, so wie er nun vorliegt. Die Sachlage war nämlich die, dass Peters versucht hatte im Taucheranzug die Elbe zu durchschwimmen, um so wieder nach Westdeutschland gelangen zu können. Sein "Republikfluchtversuch" mißlang. Selbstredend wurde er von den DDR-Behörden anschließend über seine Motive dafür "ausgequetscht". Dabei stellte sich sein Zeugen Jehovas-Background heraus.

Aus diesem Grunde laße ich in dieser Separatdarstellung des Petersbericht die Aufführungen in der CV 36 als "apokryph" außen vor. Ich füge aber hinzu, dass ich seine sonstigen Ausführungen als durchaus authentisch einschätze.
Aber genug der Vorrede. Laßen wir Peters im nachfolgenden selbst zu Wort kommen.

Wenn ich heute in CV über meine Erlebnisse innerhalb der WT-Gesellschaft berichte, so möchte ich doch ganz am Anfang darauf hinweisen, dar es nicht Haß- oder Rachegefühle sind, durch die ich mich veranlaßt fühle, über die WT-Gesellschaft zu schreiben. Ich fühle mich einzig und allein verantwortlich dafür, durch meinen Beitrag in CV diejenigen, die wirklich "guten Willens" sind, zu warnen. Mögen sie aus dem lernen, was ich durchleben mußte. Liebe Brüder und Schwestern, es ist so sicher, wie das Wasser bergab fließt, daß für die meisten von Euch das Erwachen kommt, ein Erwachen, das nur dann furchtbar erscheint, wenn man alleine dasteht und noch immer die Furcht in sich fühlt, vielleicht zu den Menschen zu, gehören, die kurz vor "Harmagedon" zu Fall kommen.

Aus diesem Grunde will ich nun berichten, was ich während und nach meiner Zugehörigkeit zur WT-Gesellschaft erlebt habe. Es ist nichts Außergewöhnliches, und gerade deswegen ist es ein reales Spiegelbild von dem, was Ihr irrtümlich noch immer als die "einzige Wahrheit" betrachtet.

Lest doch von heute ab einmal offenen Auges und mit klarem Verstand die "Wachttürme", und dann werdet Ihr gewiß erkennen, wie immer wieder darin der drohend erhobene Zeigefinger eingebaut ist. Ja, man könnte fast über jeden WT die Überschrift setzen: "Vogel friß oder stirb!" Diejenigen, die in der WT-Gesellschaft in erster Linie Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit suchen, werden darum auch bald erkennen, daß sie in dieser Organisation, wie sie heute ist, nie ihren inneren Frieden finden können. Sie werden aber auch erkennen, wie tief die Furcht bereits in ihrem Herzen verankert ist, und wie weit sie sich schon von ihren wirklichen menschlichen Pflichten in der Gesellschaft entfernt haben. Denkt doch in diesem Zusammenhang einmal darüber nach, wie es war, als Ihr zum ersten Mal mit der WT-Gesellschaft in Berührung kamt und welche Gründe Euch am Ende dazu bewogen haben, ein Zeuge Jehovas zu werden.

Bei mir war es so, daß ich 17-jährig Soldat wurde, fast fünf Jahre als Kriegsgefangener im Bergwerk schuften mußte, drei Brüder im Krieg verlor und nach meiner Heimkehr vor den Ruinen meiner Zukunftsträume stand. Damals schwor ich mir, mich nie wieder von einer ungerechten Sache mißbrauchen zu lassen. Ja, es ging sogar so weit. daß ich in meiner Verachtung der menschlichen Gesellschaft gegenüber zu einem richtigen Einzelgänger wurde und doch hörte ich nie auf, unbewußt und trotz allem nach etwas zu suchen, was man schlicht und einfach die "Wahrheit" nennen kann.

Krieg und erste Kontakte mit Zeugen Jehovas
Ich will nun meine Erlebnisse in kurzer Zusammenfassung erzählen. Als Kinder hatten wir daheim sehr viel Freiheit. Wir spielten viel im Wald und waren gesund und munter. Begabt war ich auch, und da meine Eltern für mich das Schulgeld nicht aufbringen konnten, erhielt idi vom Staat eine Freistelle in der Mittelschule. Ja, und dann brach der Krieg aus, und ich brauche wohl nicht näher zu schildern, was er für Leid über uns alle gebracht hat Ich möchte nur noch kurz erwähnen, daß wir zu Hitler aufblickten wie zu einem Gott, und als ich 1944 Soldat wurde, da gingen wir in den Kampf wie in einen Gottesdienst. "Gelobt sei, was hart macht" war unser Leitspruch bei den Fallschirmjägern, und wir haben wahrlich gekämpft bis zur Selbstaufopferung; denn man hatte uns ja oft genug eingehämmert, wie furchtbar unsere Feinde sind. Also haben wir geschossen bis zur letzten Patrone, und was dann noch von uns übrig geblieben war, geriet in englische Kriegsgefangenschaft. Die Behandlung war dort sehr gut und neben sehr guter Ernährung wurde uns im Lager täglich Varieté, Kino und alle Arten von sportlicher Betätigung geboten.

Trotz aller anders lautenden Nachrichten glaubten wir auch jetzt noch unbeirrbar an den Sieg, weil wir uns eine Niederlage gar nicht vorstellen konnten, und so kamen uns diese erholsamen Tage wie ein wohlverdienter Urlaub vor; denn die "Wunderwaffe", die Hitler uns versprochen hatte, konnte jeden Tag zum Einsatz kommen und den endgültigen Sieg bringen.

Ja, liebe Brüder und Schwestern, es war damals ähnlich wie heute, denn genauso klammert auch Ihr Euch fanatisch oder auch verzweifelt an den Glauben, daß die Wunderwaffe "Harmagedon" alle Schwierigkeiten mit einem lauten Knall aus der Welt schaffen wird. Auch Ihr leidet keine materielle Not, und auch Ihr nehmt all die angenehmen Dinge dieser Welt, die Ihr so sehr verachtet, als eine Selbstverständlichkeit entgegen, und keiner von Euch rührt auch nur einen Finger, wenn es darum geht, noch bestehendes Unrecht aus der Welt zu schaffen.

Auch für uns, denen man damals Tag für Tag eingehämmert hatte, daß wir das auserwählte Herrenvolk auf dieser Erde sind, kam eines Tages das böse Erwachen; denn die Glocken, die am 8. Mai 1945 zu uns herüberschallten, verkündeten wohl einen Sieg, aber leider war es nicht der unsrige.

In mir brach damals eine ganze Welt zusammen, und ich konnte es einfach nicht fassen, was da geschehen war. Das seelische Chaos war bei den meisten von uns einfach perfekt. Auch kann ich es nicht in Worten zum Ausdruck bringen, in welcher seelischen Verfassung wir die weiteren Ereignisse über uns ergehen ließen. Der schöne Traum vom tausendjährigen Reich war jedenfalls ausgeträumt und ehe wir richtig wach waren, kamen bereits französische Offiziere zu uns ins Lager, um uns als billige Arbeitssklaven in Empfang zu nehmen. Eng zusammengepfercht in offenen Güterwagen ging nun dieFahrt quer durch Frankreich, und überall, wo der Zug hielt, wurden wir von der Bevölkerung verhöhnt und verspottet. Ja, es kam sogar vor, daß man von den Brücken allerhand Unrat und sogar Eisenbahnschwellen zu uns hinabwarf. All dies mußten wir wehrlos über uns ergehen lassen, und die Wachsoldaten schossen auf jeden von uns, der nur den Kopf über den Wagenrand streckte. Viele von uns waren damals dem Wahnsinn nahe, und wir empfanden es wie eine Erlösung, als wir nach Tagen endlich das für uns vorgesehene Lager im französischen Kohlenrevier "Bassin du Nord" erreichten.

Hier haben wir dann jahrelang unter Tage im Schweiße unseres Angesichtes und von Hunger und Heimweh geplagt das wieder gut machen müssen, was uns der große göttliche Führer und seine vielenkleinen und großen Helfershelfer eingebrockt hatten. Ich kann mich noch gut erinnern, daß wir
während des ersten Jahres nicht einen Tag richtig satt geworden sind. Während der Frühstückspausenhabe ich mich immer möglichst weit von den Franzosen weggesetzt, um nicht den Duft des frischen Weißbrotes riechen zu müssen, und mir sind vor Hunger oft die Tränen gekommen, weil ich diesen verlockenden Duft nicht mehr aushalten konnte. Vor Erschöpfung bin ich oft fest eingeschlafen, und jedesmal wurde ich mit Fußtritten wieder in die Wirklichkeit zurückgerufen.

Zu meinem Glück kam ich dann eines Tages zu einer anderen Brigade, die aus drei Deutschen und sechs älteren Franzosen bestand, und denen verdanke ich es, daß ich heute hier noch sitze und alles niederschreiben kann. Besonders einer, nämlich der Vorarbeiter, ist mir noch sehr gut in Erinnerung. Er war ein aus dem Ruhrgebiet stammender Pole, und er sprach darum auch ein perfektes Deutsch.

Jeden Tag teilten die Franzosen mit uns ihre Frühstücksbrote, und während einer dieser Frühstückspausen erfuhren wir auch dann von dem Martin - so hieß nämlich der Vorarbeiter-, daß er ein Zeuge Jehovas ist. Zuerst aus Dankbarkeit für die Brote, hörten wir uns alles an, was er uns gerne sagen wollte, doch merkten wir auch bald, daß wir mit unserem Zuhören die Frühstückspausen beträchtlich verlängern konnten. Wenn nämlich Martin einmal in seinem Element war, hörte er nicht so
schnell wieder auf, und wenn ihm tatsächlich mal der Redefluß stockte, dann regten wir ihn immer wieder durch neue scheinheilige Fragen zu weiteren Ausführungen an. Wir nahmen ihn nie richtig ernst obwohl wir ihn als Mensch doch sehr geachtet haben. Wir haben ihn auch später, nachdem wir bereits Zivilarbeiter waren, noch oftmals besucht; aber dann haben wir nicht mehr so eifrig zugehört.

Ich schaffe mir eine soziale Grundlage
Ende 1949 war es dann endlich so weit, und ich hatte den Entlassungsschein in der Tasche. Mein Weg führte mich aber nicht zu meinen Eltern in die DDR, sondern ich blieb im Ruhrgebiet bei meiner Schwester. Die Währung war bereits gewesen, und ich erhoffte mir nun dort einen guten Verdienst und eine neue Existenz zu gründen Wohl besaßen wir nur eine Dachkammer als Wohnung, doch waren wir glücklich und zufrieden; denn mein Schwager und ich verdienten sehr gut auf der Zeche und zu kaufen gab es auch wieder alles. Nachdem, was ich in den vergangenen Jahren alles erlebt hatte, glaubte ich nun, im Schlaraffenland zu leben.

Ich war also wieder Bergmann geworden; denn nach der Währung war die Arbeitslosigkeit groß. Ja, man hatte mir sogar großzügig die Zeit als Kriegsgefangener im französischen Bergbau als Praktikum angerechnet, und es bedurfte jetzt nur noch einer kurzen Bewährungszeit von einem halben Jahr, um dann vielleicht vom Betrieb aus zum Bergbaustudium vorgeschlagen zu werden. Ich habe diese Probezeit glänzend bestanden, weil ich oftmals Arbeiten ausgeführt habe, die wohl zu den gefährlichsten im Bergbau zählen.

Der Herr Betriebsführer war also zufrieden mit mir, und mit einem guten Zeugnis in der Tasche, setzte ich meinen Fuß auf die erste Sprosse der Erfolgsleiter. Es galt, nun erst einmal ein Jahr Aufbauklasse in Abendschulungen zu absolvieren, um die Schulkenntnisse in den allgemeinen Grundfächern aufzufrischen. Hiernach kamen weitere zwei Jahre Bergvorschule, wo uns das Wissen in den wichtigsten Fächern eines Abiturienten vermittelt wurde. Auch während dieser zwei Jahre fand der Unterricht abends statt, und das jeweils dreimal in der Woche. Es war oftmals nicht leicht, sich nach der schweren Arbeit unter Tage noch einige Stunden auf die Schulbank zu setzen. Mein jugendlicher Traum, einmal Förster zu werden, war durch den Krieg und die lange Gefangenschaft ausgeträumt, und es galt jetzt für meine Zukunft zu retten, was eben zu retten war. Es ging wieder langsam bergauf mit mir, und dieses Gefühl gab mir auch die Kraft, diese körperlichen Überbeanspruchungen durchzuhalten Die schwerste Hürde musste von mir aber noch genommen werden, und das war nach Abschluß der Bergvorschule die Aufnahmeprüfung für das eigentliche Bergbaustudium.

Diese Prüfung fand 1952 in Bochum statt, und von 450 anwesenden Bewerbern waren ca. 40 Mann für ein weiteres Studium vorgesehen. Ich mußte also sehr gute Leistungen in allen Prüfungsfächern bringen, um überhaupt in die engere Wahl zu gelangen. Ich habe es aber trotzdem geschafft, und einige Tage später lag bereits der Bescheid bei mir auf dem Tisch, mich dann und dann in der Bergschule Hamborn zum Unterricht einzufinden.

Ich gerate in die Familie eines Versammlungsdieners
Im Jahre 1950 lernte ich auf der Strecke zwischen Oebisfelde und Magdeburg - ich hatte meine Eltern in der DDR besucht - im Abteil meine spätere Frau kennen. Es wurden Adressen ausgetauscht, und nach vielen netten Briefen lud sie mich dann auch ein, sie mal bei meinem nächsten Urlaub in Oebisfelde zu besuchen. Der Urlaub kam, und da ich sowieso über Oebisfelde fahren mußte, nahm ich die Gelegenheit natürlich wahr, um meine Reisebekanntschaft neu aufzufrischen.

An der Haustür wurde ich von meiner späteren Schwiegermutter recht herzlich empfangen. "Guten Tag, Herr Peters, das ist aber sehr nett, daß Sie nun endlich gekommen sind. Bitte kommen Sie doch herein, die Hannelore erwartet Sie schon sehnsüchtig."

Ja, und dann standen wir uns endlich gegenüber, und jetzt erkannte ich, das dieses Mädel ja noch viel hübscher war, als ich sie noch von unserer Bekanntschaft im trüben Licht des Zugabteils in Erinnerung hatte. Mir pochte jedenfalls das Herz bis zum Halse, und es war bei mir wirkliche echte, ehrliche Liebe auf den ersten Blick, was da so machtvoll in mir emporstieg. -

Viele von Euch werden jetzt gewiß denken: "Was sollen diese ganzen Schilderungen, und was hat das alles mit unserem Glauben zu tun?" Ja, ich muß das alles niederschreiben; denn es steht ja alles in engem Zusammenhang mit dem, was mich dazu bewogen hat, eines Tages Mitglied der WT-Gesellschaft zu werden. Auf alle Fälle war es nicht der Heilige Geist, der mich leitete, sondern es waren ganz schlicht und einfach die Lebensumstände und vor allen Dingen meine Mentalität, hervorgerufen
durch die schlechten Lebenserfahrungen, die ich gemacht hatte. -

Wie es nun mal bei solchen ersten Begegnungen ist, verging die Zeit wie im Fluge. Es wurde viel erzählt, und es wurden viele Komplimente gemacht. Mit einem Wort, es herrschte eitler Sonnenschein. Bei diesem Gespräch erfuhr ich dann auch, daß mein zukünftiger Schwiegervater während der Hitlerzeit zum Polizeioffizier avanciert war und während der Kriegsjahre in dieser Eigenschaft seinen "unschuldigen Dienst" in Jugoslawien versehen hatte. Beim Zusammenbruch hatte er noch rechtzeitig sein Soldbuch vernichten können und war so als einfacher Landser in Gefangenschaft geraten. Bevor dies aber alles geschah, war es ihm in seiner Stellung als Offizier aber doch noch gelungen, sich bis nach Deutschland durchzuschlagen, und er hatte sogar noch das seltene Glück, nach verhältnismäßig kurzer Zeit entlassen zu werden.

Ganze 180,- Mark verdiente er nun im Monat, und es fiel ihm auch gar nicht ein, sich nach einer einträglicheren Arbeit umzusehen. Polizeioffiziere seines Schlages waren ja nun nicht mehr gefragt und Mehrverdienst war in jenen Jahren eben nur durch körperliche Betätigung zu erzielen gewesen. Aber das wäre doch eine zu große Zumutung für einen Mann mit solchen "Kenntnissen" gewesen. Lieber nagte man am Hungertuch, und als dann eines Tages die Zeugen Jehovas an ihre Tür klopften und von der "Neuen Welt" sprachen, die in unabsehbarer Zeit kommen würde, da wollten natürlich auch sie, die keinen anderen Ausweg mehr sahen, Nutznießer dieses ewigen Paradieses sein.

Daß die ganze Familie zur Zeit meines Besuches bereits schon eine ganze Zeit Zeugen Jehovas und mein Schwiegervater sogar Versammlungsdiener war, davon erwähnten sie natürlich vorerst nichts, und es wurde auch bei den Mahlzeiten nicht gebetet, um mich ja nicht zu vergrämen; denn man hatte ja inzwischen von mir erfahren, welche guten beruflichen Aussichten ich in Westdeutschland hatte.

Es war inzwischen Abend geworden, und ich hatte den festen Vorsatz, mit dem letzten Zug nach Hause zu fahren, aber da stieß ich besonders bei meiner späteren Schwiegermutter auf entscheidenden Protest. "Aber, Herr Peters, das dürfen Sie uns doch nicht antun und heute schon wieder wegfahren. Wir haben uns alle so auf Ihren Besuch gefreut, und nun bleiben Sie aber wenigstens noch die Nacht bei uns."

Nach einigem Hin und Her willigte ich dann auch ein, und für mich wurde nun in der Wohnstube auf der Couch das Bett gerichtet. Meine zukünftige Frau hatte ihr Zimmer gleich nebenan, während meine Schwiegereltern weitab im anderen Flügel des Hauses schliefen. Man sperrte sozusagen ihre Tochter mit einem Weltmenschen eine ganze Nacht zusammen, und ich möchte den jungen Mann sehen, der dann den Versuchungen widerstehen kann, zumal er noch zu dem, was dann geschah, von seiner Angebeteten provoziert wird. Einige Jahre später besaßen dann aber meine Schwiegereltern vor dem Brüderkomitee in Hamborn die Frechheit, mich als den bösen Wolf hinzustellen, der das unschuldige Lamm gefressen hat, und das wurde ihnen sogar noch geglaubt. Aber davon werde ich später noch ausführlicher berichten.

Am anderen Morgen bin ich glücklich und zufrieden zu meinen Eltern gefahren und es war wohl die erste Neuigkeit, die ich ihnen mitteilte, daß ich ihnen bald ein sehr hübsches und nettes Mädel als zukünftige Schwiegertochter vorstellen werde.

Als ich dann einige Tage später wieder in Oebisfelde an die Tür klopfte, war es meine spätere Frau, die mir öffnete, und das erste, was sie mir sagte, war: "Du, meine Mutter hat alles gemerkt. Was glaubst Du wohl, was bei uns los war!" Ja, und nun erzählte sie mir, daß sie und auch ihre Eltern Zeugen Jehovas sind, und daß es in ihren Kreisen eine Todsünde ist,
wenn zwei unverheiratete Menschen miteinander geschlechtlichen Verkehr haben. Natürlich war ich im gemacht und wußte darum auch, daß die Zeugen Jehovas gute Menschen sind.

Bekanntlich verbietet die Zeugen-Leitung jeden vorehelichen Geschlechtsverkehr unter Verliebten oder Verlobten, indem sie das als Hurerei anprangert. Nun ist es aber so, daß auch unter den Zeugen Jehovas kein Fall bekannt ist, wo irgendein Paar bis zur Hochzeitsnacht sich des Geschlechtsverkehrs enthalten hat. Das Verbot der Zeugenleitung ist deshalb eine erste Verleitung zu religiöser Heuchelei und eine Ursache für viele Liebes- und Ehetragödien.

Heirat
Wahre Liebe überwindet alles, und so war es auch bei mir, nachdem ich diese große Neuigkeit von meiner zukünftigen Frau erfahren hatte. Ich beruhigte sie also erst einmal so gut ich konnte:

"Hannelore, es tut mir leid, daß Du soviel Unannehmlichkeiten erleiden mußtest; aber Du kannst mir glauben, ich habe Dich sehr, sehr lieb und ich werde jetzt gleich mit Deiner Mutter sprechen und ihr meine ehrlichen Absichten darlegen. Den Kopf wird sie mir ja nicht gleich abreißen."

Trotz meiner äußerlichen Ruhe, war mir der nun folgende Gang zur gestrengen Schwiegermutter äußerst peinlich, zumal ich doch nun wußte, welche strengen Gesetze in der WT-Gesellschaft herrschen.

Meine Schwiegermutter war gerade in der Küche tätig, und noch heute kann ich mich noch sehr gut an die Leichenbittermiene erinnern, die sie bei meinem Eintreten aufgesetzt hatte.

"Na, das kann ja gut werden", dachte ich schnell noch, und ich übernahm auch gleich die Initiative, um alles so schnell wie möglich zu einem guten Ende zu bringen.

"Guten Tag, Frau Beich, Hannelore hat mir eben alles erzählt; aber ich kann Ihnen nur versichern, daß ich kein Luftikus bin und von meiner Seite wirklich ernste Absichten bestehen."

Kaum hatte meine Schwiegermutter diese Worte vernommen, da hellte sich ihr Gesicht zusehens auf; denn das entscheidende Wort, auf das sie voller Bangen gewartet hatte, war nun endlich von meiner Seite aus gefallen. Die sogenannte Todsünde spielte nun keine Rolle mehr, wo doch der Fisch nun endgültig angebissen hatte.

Später, als ich selbst ein überzeugter Zeuge Jehovas war, mußte ich noch oft an diese Szene denken, und ich konnte es nie richtig begreifen, daß eine Mutter mit der eigenen Tochter so ein verwerfliches Spiel treiben konnte, zumal man sie noch vorher von seiten ihrer Glaubensbrüder ernsthaft gewarnt hatte, ja keinen Weltmenschen in ihre Familie aufzunehmen; aber dies verschwieg man mir wohlweislich, und man erzählte mir stattdessen nur, daß sie zu dem auserwählten Volk gehören, das von Jehova dazu auserwählt wurde, um ewig in Glück und Frieden auf dieser Welt zu leben.

Selbstverständlich klangen mir diese Voraussagen vom "ewigen Schlaraffenland" zuerst ein wenig phantastisch; aber was mich damals sofort fasziniert hat, waren die Berichte von den Brüdern, die während der Nazizeit getreu dem Gebot "Du sollst nicht töten", jeglichen Wehrdienst abgelehnt haben, und für diese Überzeugung, ohne mit der Wimper zu zucken, in den Tod oder ins KZ gegangen sind. Kurz und gut gesagt, alles, was ich in jenen Tagen zu hören bekam, erschien mir gut und wahr und sprach mir aus dem Herzen, und ich bin dann auch mit der felsenfesten Überzeugung nach Westdeutschland zurückgefahren, endlich die "Wahrheit" und das "ganze große Glück" gefunden zu haben. Ende 1951 habe ich meinen Heiratsurlaub genommen, und das grobe Ereignis fand dann am Heilig Abend 1951 statt.

Nach dem Westen
Dieser Urlaub war für mich ein einziger "Siebenter Himmel", und als es am Ende meines Urlaubs ans Abschiednehmen ging, da tröstete ich meine junge Frau mit den Worten: "Hannelore, ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, damit ich bald eine Wohnung für uns bekomme, und dann werde ich keinen Tag länger warten, um Dich nachzuholen." Ich versäumte aber auch nicht meine Schwiegermutter darauf hinzuweisen, daß die kommenden zwei Jahre nicht ohne Schwierigkeiten sein werden; denn die Gründung eines Hausstandes während meines Studiums erfordert für uns beide so manchen Verzicht und sehr viel gegenseitiges Verständnis.

"Aber, Gerhard, was glaubst Du wohl, wie verständnisvoll, tatkräftig und lieb Dir unsere Hannelore zur Seite stehen wird; denn Du hast es doch selbst gehört, daß bei uns Zeugen Jehovas jegliches materielle Denken verpönt ist, und unsere Hannelore ist ja so ein liebes und bescheidenes Menschenkind. Sie wird Dir in den nächsten Jahren, auch wenn Schwierigkeiten auftreten, immer eine liebe und treue Frau sein", sagte mir darauf meine Schwiegermutter, und ich war damals auch fest davon überzeugt, daß es so sein wird.

Wie es nun mal bei jungverheirateten Menschen ist - jegliche Trennung ist eine unsagbare Qual, und obwohl ich noch keine Wohnung hatte, entschloß ich mich, meine Frau im Frühjahr 1952 zu mir zu holen. Meine Schwester hatte sich nämlich bereit erklärt, uns solange bei sich aufzunehmen. Außerdem glaubte ich, daß ich, wenn meine Frau nun einmal da war, das Wohnungsamt etwas mehr unter Druck setzen zu können. Es hat dann aber trotzdem noch etwa acht Wochen gedauert, bis unser Wunsch, endlich ein eigenes Heim zu besitzen in Erfüllung ging.

Erste persönliche Konflikte
Bereits in den ersten Wochen stellte sich heraus, daß wir charakterlich doch ganz verschieden waren. Für mich war zum Beispiel jede freie Stunde, die ich nicht in der Dunkelheit unter Tage verbringen brauchte, etwas sehr Kostbares, und es kostete mich immer wieder, Tag für Tag, unendlich viel Überwindung, wenn ich oben auf der Hängebank stand und auf den Korb wartete, der mich in die Tiefe bringen sollte. Aus diesem Grunde nutzte ich auch jede Gelegenheit zu ausgedehnten Spaziergängen.

Für mich war es ein richtiger Schock, als ich, nachdem meine Frau nun bei mir war, plötzlich erkennen mußte, das sie für die Dinge, die mir einfach ein Bedürfnis waren, und die mir immer wieder neue Kraft gaben, keinerlei Neigung und Verständnis aufbrachte. Immer mehr ließ sie in jenen Tagen durchblicken, daß sich alles nach ihr zu richten hat, und daß auch ich amusisch zu sein habe, wenn sie nun schon mal so veranlagt ist.

Meine Frau war zu jener Zeit gerade 18 Jahre alt geworden und hatte darum auch sehr wenig Erfahrung im Kochen und in der Haushaltsführung. Trotzdem nahm sie keinen Rat von meiner Schwester an, und wenn diese ihr mal etwas zeigen wollte, dann sagte sie nur immer wieder: "Nein, meine Mutti hat das anders gemacht, und für mich ist nun mal nur meine Mutti maßgebend." Damals fing es also schon an mit ihrer "Mutti".

Ja, und dann kam es eines Tages auf ganz harmlose Art und Weise wegen eines Füllhalters zum ersten Ehekrach. Ich hatte ihr nämlich einen Füllhalter geschenkt, damit sie nicht immer meinen nimmt; denn jeder Mensch hat eine andere Schreibhand, und da ist es nicht gut, wenn er immer wieder von anderen Personen benutzt wird. Jedenfalls hatte sie eines Tages ihren Füller mal wieder verlegt und hatte nun meinen benutzt, um einige Briefe zu schreiben. An sich kein Beinbruch, und ich habe ihr auch gar
keine ernsthaften Vorhaltungen gemacht. Was mich nur ein wenig in Rage gebracht hat, war, daß sie nicht aufrichtig war und ihre kleine Schwäche, nicht nach ihrem eigenen Füller gesucht zu haben, zugeben wollte. Ich wollte es jedenfalls auf keinen Fall zu einem ernsthaften Streit kommen lassen, und so sagte ich nur noch so nebenbei: Hör mal, wegen dieser Kleinigkeit, brauchst Du mir doch nichts vorzuschwindeln, und Du hättest doch ruhig zugeben können, daß Du Deinen Füller............

Den Satz konnte ich nicht mehr beenden; denn wie von einer Tarantel gestochen bekam meine Frau plötzlich einen wahren Tobsuchtsanfall und schrie, daß es im ganzen Hause zu hören war. Mir war das natürlich sehr peinlich; aber sie ließ mich einfach nicht mehr zu Worte kommen. Sie benahm sich genau wie ein kleines verzogenes Kind, das Wutkrämpfe bekommt, wenn es seinen Willen nicht durchsetzen kann, und darum konnte ich auch nur lachen, als sie versuchte, auf mich einzuschlagen; aber das brachte sie nur noch mehr außer Rand und Band, und sie warf nun mit allem, was ihr gerade in die Hände fiel, nach mir. Mir blieb nichts anderes mehr übrig, als sie so lange festzuhalten, bis der Anfall vorüber war; denn sie hätte sonst noch sämtliches Geschirr, das auf dem Tisch stand, demoliert.

Später, als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, habe ich wie ein Vater auf sie eingeredet, und sie tat dann auch so, als wenn sie ihre falsche Handlungsweise eingesehen hat.

Wenig später bekamen wir auf mein Drängen vom Wohnungsamt erst mal ein Zimmer zugewiesen, und als wir es eingerichtet hatten, da waren wir beide richtig glücklich Meine Frau nahm nun auch etwas Anteil an dem, was mich interessierte, und es gab kaum etwas, das wir nicht gemeinsam taten.

Selbstverständlich besuchten wir auch die Buch- und Wachtturmstudien, und langsam aber sicher fing ich immer mehr Feuer von dem, was hier gelehrt wurde, und wenn mir damals jemand prophezeit hätte, das ich eines Tages einmal kritisch über diese Organisation schreiben würde, so hätte ich ihn für einen Irren gehalten. Denn eine Organisation, die den Kriegsdienst ablehnt und noch dazu ein ewiges Leben in Glück und Frieden verheißt, mußte einfach das Ideal sein, nachdem ich mich im Unterbewußtsein so lange gesehnt hatte. Heute ist mir klar, daß diese Organisation die Menschen im Grunde genommen bei
ihren bei ihren materiellen und kulturellen Bedürfnissen und Interessen zu packen sucht. Die himmlischen Dinge dabei nimmt man hin und glaubt sie, wie die Organisation sie darstellt; aber die Hauptabsicht ist dabei auf das Irdische gerichtet. Es geht also, genau wie seit eh und je, nur um die "irdische Machtfrage". -

Den letzten sogenannten Schliff bekam ich damals von einem Bruder, namens Theo Dahlmann. Dieser hatte bei uns das Heimbibelstudium übernommen, um besonders mich im Glauben zu fördern. Er war im gleichen Alter wie ich und machte einen sehr netten und gepflegten Eindruck auf mich. Auch musizierte er sehr gern, und so waren wir beide bald ein Herz und eine Seele, und was er in Glaubensdingen sagte, erschien mir gut und einleuchtend.

Eines Tages kam Theo und sagte: "Hör mal, Du hast in letzter Zeit sehr gute Fortschritte gemacht, und es wäre, glaube ich, sehr gut für Dich, wenn Du mal mit in den Felddienst gehst." Ich wollte schon, selbstverständlich, aber zuerst war mir doch ein wenig komisch zumute, so ohne weiteres bei fremden Menschen anzuklopfen, um ihnen von unserem Glauben zu erzählen.

Pünktlich, wie vereinbart, kam er dann auch am kommenden Sonntag vormittag und holte mich ab. Straßen und Hausnummern waren auf den Gebietskarten vorgeschrieben, und so gingen wir dann los. An diesem Sonntagvormittag kriegte ich das erste Mal einen Einblick, was es heißt, in den Felddienst zu gehen. Die meisten Leute, bei denen wir anklopften, klappten uns, kaum daß wir drei Worte gesprochen hatten, die Tür vor der Nase zu. Nur wenige hörten uns also wirklich an, und wenn es uns dann noch gelang, einen Wachtturm abzusetzen, so war die Freude groß. Nach und nach habe ich dann auch mitgekriegt, wie man am besten an die Leute herankommt, und im Grunde genommen waren es dieselben Triks, die jeder andere Vertreter auch anwendet, um seine Ware an den Mann zu bringen.

Bei den Leuten, wo es uns tatsächlich gelang, eine Zeitschrift abzusetzen, notierten wir uns draußen deren Namen, damit der nächste, der dieses Gebiet wieder bearbeiten mußte, gleich wußte, wo er eventuell in bezug auf ein Heimbibelstudium Glück haben könnte. Später, als ich alleine in den Felddienst ging, machte ich immer mehr die Erfahrung, daß die meisten Leute uns nur einen Wachtturm abnahmen, um uns möglichst schnell wieder loszuwerden.

Einmal habe ich den Theo gefragt: "Du, sag mal, warum gehen wir immer wieder zu den Leuten hin, die nichts von uns wissen wollen, das ist doch unnütze Zeit, die wir da vergeudend?" Ich empfand es jedenfalls immer wie eine Demütigung, wenn ich immer wieder wie ein Hausierer an den Türen abgefertigt wurde.

"Ja", sagte Theo, "der Geist Jehovas tut manchmal Wunderdinge, und es ist darum einfach unsere Pflicht, immer wieder zu diesen Menschen hinzugeben, auch wenn sie die Hunde auf uns hetzen würden. Aus einem Saulus ist ja bekanntlich auch eines Tages ein Paulus geworden." -

Obwohl es mein Studium zeitmäßig eigentlich gar nicht erlaubte, besuchte ich doch immer regelmäßig die Versammlungen; denn im Hintergrund befand sich immer der erhobene Zeigefinger der Organisation, und erst sehr spät ist es mir zum Bewußtsein gekommen, daß nicht der Glaube und die Überzeugung zählen, sondern: Felddienststunden, die Zahl der abgegebenen Bücher, Broschüren und Zeitschriften, Abonnements und Heimbibelstudien -, also nur Zahlen und Quoten.

Je mehr ich an Erkenntnis zunahm, um so mehr packte mich die Angst, eines Tages mit den Maßen der WT-Gesellschaft gewogen und zu leicht befunden zu werden, und so blieb es auch gar nicht aus, daß die Schule bei mir nur noch an zweiter Stelle stand. Wegen eines kurzfristigen weltlichen Erfolges wollte ich auf keinen Fall die Aussicht auf ein ewiges Leben verspielen. -

Dann aber entwickelte sich zwischen meiner Frau und dem Wachtturmstudienleiter der Versammlungmehr als christliche Nächstenliebe.

Eines Tages trat eine Frau an mich heran - sie wohnte bei uns in der Straße, und sagte: "Herr Peters, sind Sie Herr Peters?" - Ich sage "ja, Sie wünschen?"
"Sagen Sie mal, Herr Peters, ich gucke mir das schon eine ganze Weile mit an. Sind Sie eigentlich auch ein Zeuge Jehovas, wie dieser Herr Neumann?" -
Ich sage wieder "ja".
"Ach", sagt sie, dann ist das, glaube ich, etwas anderes." Ich sage wieso? - warum fragen Sie denn?" - "Ich sah neulich Ihre Frau mit diesem Herrn Neumann noch abends spät auf der Straße gehen." -
Ich fühlte in diesem Moment förmlich, wie mir das Blut ins Gesicht stieg, und ich konnte den Gedanken, daß mir da jemand Hörner aufsetzt, einfach nicht unterdrücken.

Ein WT-Studienleiter setzt mir Hörner auf.
Plötzlich glaubte ich nun auch die Vorgänge des vorhergegangenen Sonntags zu verstehen. An diesem Tage war nämlich nach dem WT-Studium folgendes geschehen:
Ich hatte aus dem Nebenraum unsere Garderobe geholt, und als ich nun mit unseren Sachen den Königreichssaal betrat, da sah ich gerade noch, wie der Bruder Neumann meiner Frau etwas sagte und dann weg ging, um seine Sachen, die er zum WT-Studium benötigt hatte, wegzuräumen. Nichtsahnend half ich meiner Frau in den Mantel, und ich war doch sehr überrascht, als sie mir nun plötzlich erklärte:

"Ich gehe noch nicht mit - ich möchte noch so lange warten, bis Sylvi fertig ist." Auf meinen Einwand, daß das aber noch eine ganze Weile dauern kann, und daß ich doch mit ihr noch gerne einen Schaufensterbummel gemacht hätte, erwiderte sie mir nur ganz schnippisch-. "Was nützt mir schon Dein Schaufensterbumrnel - wenn Dir das nicht paßt, dann kannst Du ja schon losgehen und Deinen Schaufensterbummel allein machen!"
Ich kannte meine Frau ja bereits gut genug, und ich wußte daher auch ganz genau, daß es zwecklos ist, sie von einem einmal gefaßten Entschluß abzubringen, und so wartete ich eben auch so lange, bis der "Bruder Sylvi" endlich kam. Der Zorn, der damals in mir rumorte, war keine Eifersucht; sondern ich fühlte mich einfach tief gekränkt, daß meine Frau so wenig Rücksicht auf mich nahm.

Die ganze Woche hatte ich 800 m unter der Erde geschuftet und wenn ich zu Hause war, dann war für mich noch lange kein Feierabend; dann hieß es für die Weiterbildung lernen, um es später einmal besser und leichter zu haben. Der Sonntag war also der einzige Tag in der Woche, an dem man auch mal ein wenig mehr an die Familie und an sich denken konnte.
In Gegenwart von dem Sylvi war dann meine Frau später auf dem Heimweg wie umgewandelt, und ein stiller Beobachter, der uns nicht kennt, hätte gewiß annehmen müssen, das die beiden miteinander verheiratet sind, und daß ich nur so ein lästiges Anhängsel bin.

Von diesem Sonntag an habe ich kaum noch einmal einen Spaziergang mit meiner Frau gemacht; denn sie entdeckte nun plötzlich ihr Herz für den Felddienst. Dieser Eifer hatte aber einen Haken. Sie ging nämlich nicht, wie es so üblich ist, mit einer anderen Schwester in den Dienst, sondern, wie kann es schon anders sein, mit diesem Sylvi, weil sie, wie sie mir so schön erklärte, bei ihm so viel lernen konnte. Obwohl in meinem tiefsten Inneren eine leise Stimme immerzu warnte, verließ ich mich doch ganz auf meinen Verstand, und dieser sagte mir: "Laß sie ruhig gehen. Die augenblickliche Schwärmerei wird schon bald vergehen, wenn sie bemerkt, daß dieser Sylvi auch nur ein Mensch ist."

Ich habe mir weiterhin gesagt: "Dieser Mann ist verheiratet und ist noch dazu ein leitender Bruder - was kann da schon groß passieren." Was ich zuerst für ein Strohfeuer gehalten hatte, wurde dann aber doch immer mehr, und es verging nun kaum noch ein Tag, an dem nicht dieser Sylvi zu uns kam, und ich habe in meiner damaligen Verblendung auch dann noch immer gedacht, daß dies alles nur reine brüderliche Zuneigung zu uns ist.

Eines Tages, als ich aus der Schule kam, lag, wie in letzter Zeit so oft, mal weder ein Zettel auf dem Tisch mit dem üblichen Wortlaut: "Bin in den Felddienst gegangen. Mache Dir das Essen warm, das von gestern übriggeblieben ist. -Hannelore - " Verstimmt murmelte ich für mich hin: "Na, Essen hättest Du wenigstens noch vorher kochen können", und damit wäre eigentlich die Angelegenheit für mich erledigt gewesen, wenn dieser "Felddienst" nicht bis mitten in die Nacht gedauert hätte.
Es verging Stunde um Stunde, und meine Unruhe wurde immer größer.

Kurz nach 24 Uhr kam sie dann endlich, und als ich ihr dann sagte: "Dein Diensteifer in allen Ehren" aber das geht ein wenig zu weit", da sagte sie: "Na ja, es ist heute ein wenig spät geworden, weil ich mit Sylvi noch bei seiner Tante - die wohnt in Neumühl - war." Am anderen Morgen, als ich mich von meiner Frau verabschiedete, kam mir plötzlich folgender Gedanke: "Du müßtest eigentlich in Zukunft auch mal etwas mehr Felddienst tun", und so machte ich ihr spontan denVorschlag: "Du, wollen wir nicht gemeinsam in den Dienst gehen, daich während der letzten Zeit sehr wenig dazu gekommen, und gewiß würde uns dieser gemeinsame Dienst mal ganz gut tun."

Ich habe meiner Frau in der folgenden Zeit noch mehrmals denselben Vorschlag gemacht; aber immer wieder die Antwort erhalten: "Nein, das geht leider nicht, ich bin bereits mit Sylvi verabredet." - Jeder, der sich in meine Lage versetzen kann, wird es verstehen können, daß ich nun langsam anfing, ein wenig ungehalten zu werden, und als dann eines Tages noch diese Frau aus der Nachbarschaft an mich herantrat und mir berichtete, daß sie meine Frau mit diesem Sylvi wie ein Liebespärchen spät abends auf der Straße gehen gesehen hätte, da platzte mir doch endgültig der Kragen, obwohl ich mir immer wieder einzureden versuchte: "Na, die Leute machen gewiß mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten."

Zu Hause angekommen, sprach ich natürlich sofort mit meiner Frau über diesen Vorfall, und im Laufe des nun folgenden Wortgeplänkels sagte ich dann zu ihr:
"Hör zu, ich möchte das nicht mehr, daß Du noch weiterhin mit dem Sylvi in den Felddienst gehst; denn man spricht schon in der ganzen Siedlung über uns, und es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit als Zeugen Jehovas, so etwas zu verhindern - auch wenn es, wie in Deinem Fall, harmlos ist. Auch möchte ich hier in der Siedlung nicht als Hanswurst gelten, und was noch schlimmer ist, es fällt auch ein schlechtes Licht auf die Organisation."

Die Reaktion meiner Frau kann ich nicht beschreiben; denn das muß man schon selbst erlebt haben. Sie bekam einen richtigen hysterischen Anfall, und dabei fielen von ihrer Seite die übelsten Schimpfworte, die ich hier nicht anführen möchte, weil sie einfach zu gemein waren. Auf alle Fälle schrie sie mir unter anderem immer wieder ins Gesicht: "Du hast mir gar nichts zu verbieten, und ich gehe in den Felddienst mit wem ich will und wie lange ich will!'

Die viele Arbeit und meine angebotene Gutmütigkeit ließen auch diesmal wieder Gras über alles wachsen, und außerdem war ich fest davon überzeugt, daß der gemeinsame Glaube ganz gewiß stärker sein würde als alle bestehenden Mißstimmigkeiten. Trotzdem war es deprimierend zu sehen, was mit dem Gottesdienst - dem Felddienst der Zeugen Jehovas - alles verbunden sein kann. Allein die Nachsicht von mir - dem man später die Gemeinschaft entzog - hat die Sache aber immer wieder so
einigermaßen im Lot gehalten. Heute wundere ich mich darüber nicht mehr, daß es vielen widerstrebt, alles Persönliche im Leben immer mit Jehova in Verbindung zu bringen.
Obwohl mir das damals nicht bewußt war, waren dies alles Erlebnisse, die mir die Illusion einer göttlichen Führung der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas am eigenen Leibe offenbarten, als das Maß voll war. -

Wo ist der Geist Gottes im täglichen Leben?
Es war dann 1953 die Zeit gekommen, wo unser erstes Kind zur Welt kommen sollte. Meine Frau hatte sich während der Schwangerschaft grundlegend geändert und glücklich sahen wir dem für uns großen Ereignis entgegen.
Doch da erhielten wir plötzlich eines Tages ein Telegramm aus Bayern, aus dem ersichtlich war, daß meine Schwiegereltern aus der DDR geflüchtet waren und sich nun dort in einem Flüchtlingslager befanden. Nun teilten sie uns mit, daß sie in absehbarer Zeit zu uns kommen wollten. Selbstverständlich stimmte ich dem zu; denn ich dachte mir, daß es gewiß für Frau meine große Hilfe sei, wenn ihre Mutter ihr während der letzten Zeit der Schwangerschaft und auch bei der Entbindung zur Seite stehen wurde. Ja, und dann kamen sie auch einige Tage später bei uns an. Wegen Wohnraummangel konnten sie natürlich nicht bei uns wohnen; aber sie hielten sich doch während der Tageszeit bei uns auf und gingen nur abends zum Schlafen in das nicht weit von uns entfernte Flüchtlingslager.

Was ich erhofft hatte, trat leider nicht ein; denn von Stund an ging es mit meiner Ehe unaufhaltsam bergab. Ich war nur noch der Geldverdiener, der den Lohn abzuliefern und dann wieder zur Arbeit zu verschwinden hat. Zu sagen hatte ich bei dem Regiment, das meine Schwiegermutter führte nichts mehr, und für jeden Groschen, den ich ausgab, sollte ich Rechenschaft ablegen.

Ich bin bestimmt kein Mensch, der das Geld vergeudet, und Biertrinken und in Kneipen sitzen, hat es bei mir nie gegeben. Trotzdem rechnete man es mir als Verschwendung an, wenn ich nach Schichtende mal eine Flasche Brause getrunken habe.

Endlich war eines Tages das Kind da - ein kleines Mädchen - und ich konnte es vor Freude gar nicht fassen, daß dieses kleine Bündel Mensch da vor mir nun in unser Leben getreten war. Aber schon wenige Tage später gab es die ersten Schwierigkeiten; denn bei dem Kind traten plötzlich Verdauungsstörungen auf, und ich machte mir natürlich die größten Sorgen, zumal meine
Schwiegermutter sich auch keinen Rat wußte, und so frug ich dann meine Schwester um Rat. Sie hatte schon mehrere Kinder gehabt und hatte darum auch schon etwas mehr Erfahrung, und sie sagte mir, daß man bei Verdauungsstörungen dies und jenes tun müsse; denn das habe ihr der Kinderarzt einmal verordnet und das habe gut geholfen.

Zu Hause angekommen war es natürlich das erste, daß ich das, was mir meine Schwester geraten hatte, erzählte; doch da fuhr mich meine Schwiegermutter gleich mit den Worten an: "Was Deine Schwester sagt, geht uns überhaupt nichts an, und sie soll man ihre "guten Ratschläge" für sich behalten."
Natürlich war ich von diesem Ton meiner Schwiegermutter ein wenig aufgebracht und so erwiderte ich: "Ich kann doch mal einen gutgemeinten Rat geben - egal, ob er von meiner Schwester stammt oder nicht - und außerdem habe ich als Vater wohl noch das gute Recht, mir Sorgen um mein Kind zu machen."
Doch da fuhr meine Schwiegermutter wie von einer Natter gebissen herum und schrie mich an: "Was, Du der Vater? jetzt willst Du auf einmal der Vater sein? - Vor so viel Unverfrorenheit kann man nurmit dem Kopf schütteln; denn vor ein paar Tagen hast Du doch noch hier im Hause erklärt, daß Du gar nicht der Vater bist!" -

Ich glaube kaum, daß es mir jemand verdenken kann, daß mir damals der Geduldfaden riß und ich in ziemlich energischer Form Auskunft verlangte, wer diese ungeheure Verleumdung über mich verbreitet hatte. Zuerst wollte meine Schwiegermutter nicht mit der Sprache heraus, und erst, als sie merkte, daß sie den Bogen doch zu sehr überspannt hatte, nannte sie mir den Namen.
Ich stellte natürlich diese Frau sofort zur Rede, und dabei stellte sich dann eindeutig heraus, daß meine Schwiegermutter die Wortverdreherin gewesen war. In Wirklichkeit war nämlich am Tage der Geburt meiner Tochter folgendes geschehen: Ich traf im Treppenhaus eine gewisse Frau Krenn - diese Frau wohnte direkt unter uns -, und als sie mir zur Geburt meiner
Tochter gratulierte, sagte ich folgendes:

"Recht herzlichen Dank, Frau Krenn; aber eigentlich gebührt doch meiner Frau die Ehre; denn sie hat ja die meiste Arbeit dabei gehabt, und die meiste Last und Sorge. Ich persönlich habe eigentlich herzlich wenig dabei tun können." Genau in demselben Sinn hatte es diese Frau auch meiner Schwiegermutter erzählt, und die hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als alles nach ihrem Sinne umzudrehen. Aber so etwas bringt nur ein Mensch fertig, der mit Gift und Galle erfüllt ist. Und das waren Zeugen Jehovas, die sich gegenseitig mit "Bruder" ansprechen und bei denen die Liebe zu ihrem Nächsten an erster Stelle stehen soll. -

Ich war in diesen Tagen unglücklich wie nie zuvor in meinem Leben, und unter diesem seelischen Druck kam es nun immer häufiger vor, das ich oftmals die Gefahren, die unter Tage überall lauern, nicht mehr bemerkte, und so kam es dann auch, daß ich eines Tages die Schrämmaschine nicht bemerkte, die sich durch den Riß des Haspelseils selbständig gemacht hatte, und nun wie eine Lokomotive den Streb heruntergeschossen kam. Nur eine Reflexbewegung im letzten Augenblick rettete mir das Leben, und so kam ich mit einer zerquetschten Hand und aufgerissenem Rücken noch einmal mit dem blauen Auge davon.

Selbstverständlich wurde ich sofort ins Krankenhaus geschafft, und man hatte auch sofort meine Frau von dem Unfall unterrichtet. Doch wer nicht kam, um nach mir zu sehen, war meine Frau - nur meine Schwiegermutter kam und schaute kurz herein, um zu sehen, ob sie mich nun endlich los sind oder nicht.
Ich hatte wahnsinnige Schmerzen, und darum hatte mir ein Bettnachbar eine Zigarette angeboten, um mir etwas Linderung zu schaffen, und das sah nun ausgerechnet meine Schwiegermutter, die in Moment gerade das Krankenzimmer betrat. Ohne erst einmal zu fragen, was mir fehlt, legte sie gleich vor all den anderen Kranken los: "Du willst ein Zeuge Jehovas sein, der genau weiß, daß Rauchen ein von Jehova verpöntes Laster ist!? Aber so bist Du eben und denkst nur an Dich. Du solltest Dich schämen, das Du als Zeuge Jehovas so wenig Beherrschung aufbringst!"

Mir war der Auftritt meiner Schwiegermutter natürlich sehr peinlich, und ich habe darum auch nichts auf ihre Vorhaltungen erwidert; denn ich wollte auf keinen Fall noch mehr Öl aufs Feuer gießen. Nicht den geringsten Geist von Verständnis, Mitgefühl oder Nachsicht - von Takt ganz zu schweigen - brachte sie auf, und das als Frau eines Versammlungsdieners.
Meine Frau kam erst am dritten oder vierten Tag zu Besuch, trotzdem das Krankenhaus nur wenige hundert Meter von unserer Wohnung entfernt war. Ich habe das alles damals noch nicht auf die Goldwaage gelegt; denn ich war noch jung, und als junger Mensch verliert man eben nicht so schnell den Glauben und die Hoffnung, und man besitzt auch noch das Gespür, Intrigen, die gegen einem gesponnen werden, zu bemerken. Böse Gedanken kamen mir darum gar nicht in den Sinn; denn ich war fest überzeugt, daß Menschen, die zum "Volke Gottes" gehören, gar keine schlechten Absichten im Schilde führen können. -

Zum ersten Mal vor dem Brüderkomitee
An einem Sonntagnachmittag kommt der Versammlungsdiener Werner Kolpatzek nach der Versammlung auf mich zu und spricht mich an: "Bruder Peters, willst Du vielleicht noch eine Weile hierbleiben? - Wir haben mit Dir noch etwas zu besprechen."
Ich wartete völlig ahnungslos, und nach einer Viertelstunde wurde ich dann in ein Zimmer gebeten. Dort war das Brüderkomitee zusammengetreten - der Versammlungsdiener, Gruppendiener, Hilfsgruppendiener und Bibelstudiendiener. "Wir müssen mit Dir einmal ernsthaft sprechen", begannen sie. Von Deiner Frau ist bei uns eine Eingabe gemacht worden, daß Du sie an der Ausübung des Felddienstes hinderst." Wie vom Donner gerührt konnte ich nur noch fassungslos stammeln: "Was, ich hindere meine Frau am Felddienst?" "Ja, Du hast gesagt, sie soll lieber zu Hause bleiben und sich um das Essen kümmern, anstatt in den Felddienst zu gehen." -

Natürlich versuchte ich nun, die Sache so hinzustellen, wie sie sich wirklich zugetragen hatte, und ich erwähnte dabei auch die Angelegenheit mit dem Sylvi und dem Gerücht, das in der Siedlung im Umlauf war, und daß ich meine Frau mehrmals gebeten hatte, mit mir oder mit einer Schwester in den Dienst zu gehen. Ich konnte reden, was ich wollte, aber man glaubte mir nicht so richtig; denn da waren ja auch noch meine Schwiegereltern, die genau so ausgesagt hatten, wie meine Frau, und außerdem zeigte meine Verkündigerkarte so einige Lücken in bezug auf die Erfüllung meiner Quote. Ja, und das Letztere war auch wohl der Ausschlag dafür, daß man mich einfach zum Lügner stempelte, indem man sagte:
"Denke bitte immer daran, daß Du wohl Menschen, aber niemals Gott täuschen kannst, und wir möchten Dich darum heute noch einmal ernsthaft ermahnen, in Zukunft mehr an das Gleichnis von dem Baum, der keine Fruchte trägt und ins Feuer geworfen wird, zu denken, und außerdem solltest Du mehr daran denken, daß eine Frau nun mal das schwächere Gefäß ist, dem man mit aller Feinfühligkeit zur Seite stehen muß."

Diese Worte waren deutlich genug, und ich glaube, in diesem Moment, als es für mich darum ging, schon im Interesse der Wahrheit und auch im Interesse meiner Ehe standhaft zu bleiben, fühlte ich plötzlich bittere Reue in, mir aufsteigen; denn ich erinnerte mich daran, einmal in einem Wachtturm gelesen zu haben, daß jeder aufrichtige Diener Gottes - auch wenn ihm von seiten der leitenden Brüder Unrecht zugefügt wird -, sich nicht dagegen auflehnen soll; sondern er soll dieses Unrecht als eine Prüfung Gottes betrachten und alles in Demut tragen.

"Du hast Deinen Dienst für Jehova wirklich in letzter Zeit sehr vernachlässigt", dachte ich, "und Du kannst darum auch keine Hilfe von ihm erwarten, wenn Du auch in Zukunft den weltlichen Dingen den Vorzug gibst." Je mehr ich in den folgenden Tagen darüber nachdachte, um so mehr stieg in mir die Angst auf, nicht nur meine Frau, sondern auch Gottes Gnade für immer verloren zu haben.
Von dieser Angst getrieben, bei dem Wettlauf auf Leben und Tod bereits ein ganzes Stück zurückgeblieben zu sein, nutzte ich nun in der Folgezeit jede freie Stunde, um in den Felddienst zu gehen. Über jedes Buch und jede Zeitschrift, die ich verkaufen konnte, freute ich mich wie ein kleines Kind; doch nachts, wenn ich abgespannt und übermüdet über meinen Schularbeiten saß und kaum noch fähig war, etwas in mir aufzunehmen, kam mir immer häufiger der Gedanke: "Warum quälst Du Dich eigentlich noch mit diesem unnützen Kram ab, wo doch in wenigen Jahren schon Harmagedon kommt."
Die Organisation gegen gesundes soziales Denken

Meine berufliche Tätigkeit und Weiterbildung erwies sich immer mehr als Gegensatz zu den ständig steigenden Forderungen der Organisation nach mehr Dienst. Schon das Brüderkomitee hatte keinerlei Verständnis für meine beruflichen Belastungen gehabt. Sie hatten meine beruflichen Interessen nicht verurteilt, aber es war doch zu merken, wie mich meine geringeren Felddienstleistungen als die meiner Frau in ihren Augen unglaubwürdig machten. Weniger Felddienststunden zugunsten weltlicher oder beruflicher Arbeit ist kein gutes Zeugnis vor einem solchen Komitee.

Ich wurde dann auch bald entsprechend belehrt. Vor allem mein Studium zur beruflichen Weiterbildung paßte der Organisation nicht, und ein Bruder versuchte, mich sogar eines Tages davon zu überzeugen, daß ich besser diese Weiterbildung aufgeben sollte. Auch er sei durch das Studium zur beruflichen Weiterbildung nicht zurecht gekommen. Um mehr und unbelasteter in den Felddienst gehen zu können, habe er das Studium dann aufgegeben. Auch von der Versammlung ging dieser Einfluß aus. Es
wurden laufend Demonstrationen gemacht, die dieses Thema zum Inhalt hatten.

Ich kann mich noch sehr gut an ein junges Ehepaar erinnern, das zu jener Zeit auf einem Kongreß eine Demonstration durchführte, und in der sie zum Ausdruck brachten, daß sie beide noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit Studenten waren, und daß sie beide sehr wenig Zeit zum Felddienst aufbringen konnten. Sie seien damals sehr unglücklich gewesen, weil sie laufend Kompromisse zwischenden weltlichen Dingen und der Wahrheit schließen mußten. Inbrünstige Gebete zu Jehova hätten ihnen aber die Erkenntnis gebracht, in nur "einem Herrn" dienen kann, und so hätten sie dann kurz entschlossen ihr Studium aufgegeben, um ihre ganze Freizeit in den Dienst der "Wahrheit" stellen zu können. Selbstverständlich brachten sie am Schluß ihrer Demonstration noch zum Ausdruck, daß sie erst jetzt richtig glücklich geworden seien.

Immer wieder stellte ich mir damals die Frage: "Sollst Du nun Dein Studium aufgeben oder nicht?"
Doch ich kannte meine Frau zu gut, um zu wissen, was für Folgen so ein Entschluß für meine Ehe gehabt hätte. Im Grunde genommen konnte ich meine Frau nur mit einer dicken Lohntüte beeindrucken, und ich wußte darum auch zu genau, was geschehen würde, wenn ihre Träume von der schönen Dienstwohnung, dem großen Gehalt und dem Dienstmädchen nicht in Erfüllung gehen würden.

Weiter mit Teil II: Gerhard Peters 12 Jahre meines Lebens (2)

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