(Fortsetzung von: Gerhard Peters "12 Jahre meines Lebens" Teil I siehe: Gerhard Peters 12 Jahre meines Lebens

Vier Jahre Schule hatte ich bereits hinter mir, und es galt jetzt, nur noch ein Jahr durchzuhalten, um mit allem fertig zu sein, und so entschloß ich mich dann doch, meine berufliche Ausbildung zum Abschluß zu bringen. Alles sollte sich aber als ein großer Selbstbetrug offenbaren.

Ich begriff damals noch nicht, daß die Forderungen der Organisation nach möglichst geringster weltlicher Arbeit als ein Hauptgrundsatz für Christen in der Welt eine sozialpolitisch verantwortungslose Sache sind. Wo würden zum Beispiel Wirtschaft und Industrie hingeraten, wenn sich keiner mehr weiterbildet, nur um Jehova zu dienen? Darüber denkt bloß keiner nach. Ich natürlich damals auch noch nicht, und die Herren in New York und Wiesbaden täten gut daran, einmal darüber nachzudenken, was wohl für ein Chaos auf der Welt herrschen würde, wenn alle Christen ihre Ratschläge befolgen würden.

Wieder und wieder: Kein Geist Gottes - alles nur menschlich, allzu menschlich .
Es muß erst eine ganze Menge passieren, bevor man wirklich kritisch und nachdenklich wird. Wir war ich doch gutgläubig und arglos - sehr, sehr lange, ungeachtet vieler Vorkommnisse. Zwölf Jahre lang wehrte ich mich gegen die letzte Konsequenz, um sie dann doch schmerzlich und bitter zu ziehen. Trotz aller guten Vorsätze und Versuche meinerseits wurde mein Eheleben nicht besser. Ich blieb auch weiterhin nur der "Geldverdiener".

Eines Tages brachte mein Schwiegervater das 131. Gesetz für sich durch, und das heißt, er erreichte seine Rehabilitierung als Beamter der Nazizeit. Gleichzeitig erreichte er dadurch einen Lohnausgleich für all die Nachkriegsjahre (neun Jahre), und er kam auch gleich wieder im Amt und Würden mit Dienstwohnung und allem Komfort.

Ich war natürlich nun nicht mehr standesgemäß. Früher als er noch in der DDR wohnte - als ehemaliger Beamter hatte er für körperliche Arbeit zwei linke Hände - da war ich in der Familie mit meinen beruflichen Aussichten eine gute Partie -, doch jetzt war ich nur noch ein "billiger Kumpel". Besonders meine Frau gebrauchte diesen Ausdruck nun immer häufiger.

Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurde mir nun mein Schwiegervater als Vorbild hingestellt, was der alles in seinem Leben schon geleistet hat, und welches Ansehen er bereits wieder erlangt hat usw. Wenn ich dann versuchte, ihnen klarzumachen, wie hoch die Verantwortung ist, die ein Steiger zu tragen hat, dann erntete ich nur spöttische Bemerkungen: "Was ist denn schon so ein Steiger? Im Grunde genommen ist er doch auch nur ein dreckiger Kumpel, der nur deswegen diesen Beruf ergriffen hat, weil er zu etwas anderem nicht taugt." Was mir jetzt fast täglich geboten wurde, war in wahrstem Sinne des Wortes Hochmut, Dünkel und Dummheit in höchster Potenz, und das alles unter Zeugen Jehovas, muß man wissen.

Als nun meine Schwiegereltern ihre neue Wohnung bezogen hatten, war auf einmal meine Frau kaum noch zu Hause. An sich hatte ich nichts dagegen, daß sie sich während der drei Tage, die ich in jeder Woche außerhalb arbeiten mußte (zu jener Zeit hatte ich bereits eine Anstellung als Lehrsteiger auf der Zeche Neunkirchen erhalten - 20 km von meinem Wohnsitz entfernt) bei ihren Eltern aufhielt. Womit ich aber nicht einverstanden war - und da wird mir gewiß jeder beipflichten -, war die leere und ausgekühlte Wohnung, die ich oftmals vorfand, wenn ich Mittwochnachmittags nach Hause kam.

Besonders gut kann ich mich noch an so einen Tag erinnern An jenem Tage war es grimmig kalt, und ich war völlig steifgefroren, als ich nach 20 km Fahrt vom Moped stieg, und voller Vorfreude auf die Familie und auf die warme Stube, klingelte ich an der Wohnungstür. Leider ohne Erfolg; denn meine Frau war mal wieder ausgeflogen und hatte nicht daran gedacht, an diesem Tage rechtzeitig nach Hause zu kommen.

Ich war gerade dabei Feuer zu machen, als sie kam. Selbstverständlich war meine Stimmung nicht gerade rosig, und so blieb es auch nicht aus, daß ich ihr einige Vorhaltungen machte wegen der kalten Wohnung und wegen ihrer Gleichgültigkeit mir gegenüber. Aber das war schon wieder zuviel, was ich da gesagt hatte.

"Ich bleibe, so lange es mir paßt, bei meinen Eltern", schrie sie mich daraufhin an, und wenn Du mir noch öfter Vorhaltungen machst, bleibe ich ganz bei meinen Eltern und komme gar nicht wieder." Scheinbar hatte sie nur auf diese Auseinandersetzung gewartet; denn sie hörte mich nicht mehr weiter an, sondern verließ, indem sie die Tür krachend hinter sich zuschmiß die Wohnung.

Kaum eine Stunde später ist sie wieder da, aber diesmal in Begleitung ihres Vaters. Ohne überhaupt zu grüßen, fährt er mich gleich an: "Hör mal, ich erfahre eben gerade von Hannelore, das Du ihr für die Zukunft jeglichen Besuch bei uns untersagt hast?"

"Ich habe ihr das gar nicht untersagt", erwiderte ich, "sondern ich habe ihr nur gesagt, daß sie mittwochs zu Haus sein - soll, wenn; ich heimkomme!" Ich wollte noch einiges hinzufügen; aber dazu ließ es mein Schwiegervater gar nicht mehr kommen, indem er geifernd schrie: "Ich lasse es mir einfach nicht mehr bieten, daß Du meine Tochter wie eine Sklavin behandelst, und ich möchte Dir darum heute mitteilen, daß meine Tochter nichts mehr mit Dir gemein hat. Entscheide Dich also bitte, welches Zimmer Du ab heute bewohnen willst."

Zunächst war ich sprachlos, und ich wußte gar nicht, was ich sagen sollte, so ungeheuerlich war mir diese Eröffnung. Wie vom Donner gerührt stand ich da, und nun fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Diese Auseinandersetzung war schon lange eingeplant, und man hatte nur noch auf einen günstigen Moment gewartet.

Trotz allem versuchte ich, meinen Schwiegervater auf theokratischer Basis davon zu überzeugen, wie sehr er im Unrecht ist; denn ich konnte es einfach nicht fassen, daß so etwas unter Zeugen Jehovas überhaupt möglich ist. Aber statt einer Antwort winkte er nur hämisch grinsend ab. Scheinbar war er sich damals seiner Sache bereits ganz sicher; denn anders konnte ich mir sein Verhalten nicht erklären.

Schon lange hatte man mich wie einen dummen Jungen behandelt; doch nun platzte mir endgültig der Kragen. Ich ging also zur Tür - öffnete sie und sagte dann zu meinem Schwiegervater: "Höre nun meine Entscheidung: Hier hat der Maurer für Dich das Loch gelassen, und wenn Du noch einmal unter ähnlichen Umständen meine Wohnung betrittst, dann fliegts Du achtkantig raus!"

Jetzt war es an ihm, wie vom Donner gerührt dazustehen; denn so eine konsequente Reaktion hatte er bei mir nicht erwartet. Das einzige, was er nur noch sagte, war: "Komm, Hannelore, wir haben hier nichts mehr verloren."

Wenig später, als ich mich wieder ein wenig gefangen hatte, wurde mir erst richtig klar, was hier geschehen war. Hier schlug mir von seiten meiner Schwiegereltern eine unüberbrückbare Feindschaft entgegen, und da nützte auch der gemeinsame Glaube nichts. Damals stieg in mir zum ersten Mal die bange Frage auf: "Sollte die Eintracht der Zeugen Jehovas nur eine äußere Tünche sein?"

Ja, die Grundsätze der Bibel waren wirklich gut. Nur in der Organisation der Zeugen Jehovas erlebte ich sie nicht. Vieles fiel mir nun plötzlich auf, worüber ich mich bisher nie Gedanken gemacht hatte. Zum Beispiel hatten sich in der Versammlung schon richtige Cliquen gebildet, sorgsam getrennt voneinander nach Rang und Namen. Und diese Cliquen hatten im Königreichssaal bereits ihre Stammplätze, damit sie nicht mit jemand zusammen sitzen brauchten, der ihnen nicht genehm war. -

Während ich noch dasaß und voller Verzweiflung über alles nachdachte, öffnete sich plötzlich die Tür, und meine Frau war wieder da. Zuerst nahm ich an, sie sei nur wiedergekommen, um etwas zu holen, was sie vergessen hatte; aber sie tat nun so, als ob nichts geschehen war, kochte Essen, deckte den Tisch und sah mich mit treuherzigen Augen an. Sie kannte genau ihre Waffen und wußte sie auch gut einzusetzen.

Ich beruhigte mich damit, daß sie noch jung war - es würde sich gewiß noch alles zum Guten ändern. Sie ist noch zu eigensinnig wie ein ungezogenes Kind. Es wird schon werden. In jenen Tagen habe ich oft an die Ermahnungen in der Bibel gedacht, daß die Liebe geduldig ist, vieles erträgt und verzeiht . . .

Ja, die Grundsätze der Bibel waren wirklich gut. Nur in der Organisation der Zeugen Jehovas erlebte ich sie nicht. Der Studienleiter Sylvi Neumann kam mir in den Sinn. Auch das Brüderkomitee beargwöhnte mich nur. Und dann die Feindschaft in der eigenen Familie, obwohl alle Zeugen Jehovas sind. Ich fürchtete mich förmlich, hierüber nachzudenken. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis die Wirklichkeit unter den Zeugen Jehovas meinen guten Glauben an den göttlichen Charakter dieser Organisation vollends zerstörte.

Ich mußte schließlich zu der Erkenntnis kommen, daß in dieser Organisation nur das geschieht, was menschlich möglich ist, im Guten wie im Bösen. Nichts Übernatürliches Das berührt den Gedanken der Überwaltung dieses Werkes durch Gott. Leider sind in dieser Frage die Zeugen Jehovas nicht konsequent. Wieviele schwärmen davon, daß der Herr dieses oder jenes in ihrem Leben bewirkt habe, weil sie es sich irgendwie nicht erklären können Entweder kam es plötzlich wider Erwarten oder auf eine unvorstellbare Weise. Sogleich schiebt man es dem Herrn zu, sofern es positiv war. Aber haben nicht mit dem Tode der urchristlichen Apostel alle übernatürlichen Wirkungen aufgehört? Hat uns nicht auch der Wachtturm so belehrt? ich frage mich also, wie soll da in dieser Organisation etwas vom Herrn, von Gott sein, wenn es keine übernatürlichen Gaben des Geistes mehr gibt?

Meine Lebenserfahrungen in der Organisation der Zeugen Jehovas haben mir bewiesen, daß es dort nichts übernatürliches gibt. Ich glaube, bei einer ehrlichen Selbstprüfung kann das jeder auch für sich bestätigen. Was mich betrifft, so schließen meine bitteren und bösen Erlebnisse, die ich weiter schildern werde, jedes Wirken eines Geistes Gottes, wie es nach der Bibel sein müßte, völlig aus. Nicht einmal Bruder Franke, der Zweigdiener in Wiesbaden, fand auch nur eine Minute Zeit, meine Probleme wenigstens anzuhören. Erbarmungslos schritt er über alles hinweg. Wirkliche Diener Gottes können so nicht handeln . . .

Meine Frau ist wieder weg
Eines Mittags komme ich gut gelaunt und pfeifend heim. Ich komme in die Küche - ich schaue in die Stube - niemand ist da. Ich denke: "Nanu, was ist denn hier los?" Die Kartoffeln stehen noch roh auf dem Herd im Wasser, und das Gemüse liegt geschnitten auf dem Tisch. Ich schaue mich um und bemerke auf dem Tisch einen Zettel, und als ich ihn mir anschaue, da schwimmt es mir plötzlich vor den Augen, und ich bringe die Sätze zuerst gar nicht zusammen; denn was da steht ist für mich einfach unfaßbar.

Gerhard! Ich kann mit dir nicht mehr zusammen leben und bin daher zu meinen Eltern gezogen. - Hannelore. Ich muß mich erst einmal hinsetzen, weil mir die Knie anfangen weich zu werden, und wie ich da nun so sitze und auf den Zettel starre, kommen mir immer wieder die Bilder in den Sinn, wie ich mich morgens noch von ihr in bestem Einvernehmen verabschiedet habe, und wie wir am Abend zuvor noch miteinander gescherzt und geschmust haben.

Ich glaube immer noch zu träumen, doch als ich meine Blicke umherschweifen lasse, da wird es mir endgültig zur Gewißheit, daß alles grausame Wirklichkeit ist. Sämtliche Schubfächer, Schränke und Vitrinen sind leer - es ist aber auch nicht mehr ein Teller vorhanden. ja, nicht mal eine Tasse ist mehr da. Ich ziehe das Schubfach auf, in dem die Bestecke liegen - leer. Ich schaue nach dem Tauchsieder weg. Bis auf den Topf, in dem noch die rohen Kartoffeln lagen, war aber alles weg, und ich konnte mir weder Essen noch Kaffee kochen. Weiterhin hatte meine Frau auch alles Geld mitgenommen und bis zum nächsten Lohntag waren es immerhin noch sechs Tage.

Wenn das damals geschehen wäre, als der Streit mit meinem Schwiegervater war, dann hätte ich das noch eher begreifen können; denn das wäre Anlaß zum Aufbauschen gewesen - aber jetzt? -

Später habe ich dann alles erfahren, wie es an jenem Tage zugegangen war. Meine Frau hatte gar nicht die Absicht gehabt, mich zu verlassen und sie hatte ja bereits begonnen, das Mittagessen zu kochen, als meine Schwiegereltern plötzlich mit einem gemieteten Lieferwagen vorgefahren kamen.

Monatelang vorher hatten meine Schwiegereltern bereits ihr Gift versprüht und immer wieder auf meine Frau eingeredet: "Du hast den größten Fehler gemacht, als Du diesen Mann geheiratet hast. Was hättest Du doch bei Deinem Aussehen und bei der Position Deines Vaters jetzt für eine Partie machen können."

Und jetzt waren sie da und stellten meine Frau einfach vor die vollendete Tatsache. Selbstverständlich hatten sie auch eine Perspektive bereit für die Zukunft, und die bestand darin, (und jetzt kommt das Teuflischste, was ich jemals erlebt habe) mich nun in der Organisation unmöglich zu machen oder, wenn das nicht klappt, mich durch eine längere Trennung zu unbedachten Handlungen, Ehebruch oder sogar Selbstmord zu treiben.

Liebe und Gerechtigkeit hatte ich in der Organisation gesucht, und begegnet war mir nun der Teufel persönlich. Eine einzige unbedachte Handlung, aus Verzweiflung oder Zorn begangen, hätte also genügt, und meine Frau hätte ihr Ziel erreicht gehabt. Ich glaubte damals noch fest an den Teufel, und das war gut so; denn nur so konnte ich mir immer wieder einreden: "Jetzt nicht schwach werden, durchhalten, bis Luzifer besiegt ist!" -

Heute, wo ich die wahren Zusammenhänge kenne, frage ich mich immer wieder: "Wo war da ein Geist Gottes?" Gibt es nicht "Weltmenschen", die besser, verständnisvoller und liebevoller zusammenleben? Was hilft uns da die Organisation der Zeugen Jehovas? Jehovas Zeugen haben Probleme, wie alle anderen Menschen in der Welt - oft sogar noch schlimmer. Sie müssen damit fertig werden oder daran zerbrechen. Im Gegenteil - ist mal eine Sache ein wenig verzwickt, dann sagt man: "Bruder, das ist eine Prüfung, die Dir Jehova auferlegt hat und mit der Du fertig werden mußt!" Wird der Bruder aber nicht damit fertig, nun, dann spricht man eben einen Gemeinschaftsentzug aus und ist die Sache los. Mag doch die "Welt" nun sehen, wie sie damit fertig wird und zurechtkommt. Die Organisation schlägt sich dann an die Brust und dankt Gott, daß sie nicht so ist wie die "Welt". -

Was sollte ich nun machen. Ich ging zunächts zu meiner Schwester, denn ich war ja auch hungrig und konnte mir nicht einmal mehr Kaffee kochen, weil man ja sogar auch den Tauchsieder mitgenommen hatte und außerdem war ich arm wie eine Kirchenmaus und konnte mir nicht einmal etwas zum Essen kaufen. Und das waren Zeugen Jehovas, die diese "ganze Arbeit" geleistet hatten.

Meine Schwester, die nun auch Zeugin Jehovas war, und meine familiären Verhältnisse sehr genau kannte, war einfach sprachlos, als sie von dem plötzlichen Verschwinden meiner Frau erfuhr. "Gerhard", sagte sie, "gehe noch heute zum Versammlungsdiener, damit diese Angelegenheit sobald wie möglich vor dem Brüderkomitee geregelt wird, denn was Hannelore sich da geleistet hat, verstößt gegen alle theokratischen Grundsätze. Hier haben Hannelore und ihre Eltern einmal ihr wahres Gesicht gezeigt."

Natürlich war ich noch ein wenig skeptisch, denn ich wußte ja, wie das Komitee über mich dachte und ich wußte auch, daß meine Frau und meine Schwiegereltern keine Gelegenheit scheuen würden, um mich reinzulegen. Um mir wieder etwas Mut zu machen, las mir meine Schwester aus 1. Kor, 7:10-16 vor und darin steht folgendes geschrieben:

"Den Verheirateten gebietet der Herr, nicht ich allein: Die Frau soll sich von ihrem Manne nicht trennen. - Tut sie es doch, soll sie unverheiratet bleiben oder sich mit ihrem Manne wieder aussöhnen. - Und der Mann soll die Frau nicht entlassen. . . . Hat ein Bruder eine ungläubige Frau und sie ist damit einverstanden, mit ihm zusammenzuleben, so soll er sie nicht entlassen.
Ferner: Hat eine Frau einen ungläubigen Mann und er ist damit einverstanden, mit ihr zusammenzuleben, so soll sie ihren Mann nicht verlassen. -

Ich ging noch am gleichen Tage zum Versammlungsdiener Werner Kolpatzek und da er gerade im Begriff war wegzugehen, erzählt ich ihm ganz kurz, was vorgefallen war. "Gut", sagte er, bleibe am Sonntag nach der Versammlung noch da. Wir werden auch Deiner Frau Bescheid geben, und dann werden wir die Probleme zusammen erörtern und besprechen und dann werden wir sehen."

Am Abend des folgenden Tages - ich war gerade dabei, meine Schulaufgaben für den nächsten Tag zu erledigen, klingelt es plötzlich, bei mir an der Tür, und als ich öffnete steht Bruder Bernhard Josefowski vor mir. Dieser Bruder gehörte auch zum Brüderkomitee der Hamborner Versammlung und wohnte gleich in der Nachbarschaft von mir, in der Papiermühlenstraße.

Bei dem nun folgenden Gespräch bemerkte ich sofort, daß er bereits ins Vertrauen gezogen war - allerdings gegen mich, und er machte auch gar keinen Hehl daraus, mich als den schuldigen Teil hinzustellen. "Du bist ganz allein daran schuld, daß Deine Frau von Dir weggegangen ist", sagte er, "und hättest Du Dich mehr um sie gekümmert und mehr Glauben und Demut gezeigt, dann hätte Dir Jehova gewiß nicht seinen Segen verwehrt, und der Organisation wäre Schande erspart geblieben."

Ich sagte ihm: "Hör mal zu, meine Frau und ich sind eines Glaubens, und wir dienen beide der Wahrheit, und es sind somit gute geistige Grundlagen für unsere Ehe vorhanden. Es ist daher nur eine Frage der Liebe und des menschlichen Verständnisses.

Natürlich bin ich noch in der beruflichen Ausbildung, und es mangelt mir daher oft an der nötigen Zeit. Doch was ist eine Liebe, die keine Opfer bringen will! Und was die nötigen materiellen Dinge betrifft, so kann meine Frau nicht klagen, denn sie ist hinreichend versorgt - wenn auch nicht im Überfluß. Ich tue jedenfalls in dieser Hinsicht alles, was in meiner Kraft steht, um ihre Wünsche zu erfüllen, aber sie möchte am liebsten jeden Monat ein neues Kleid haben und dann macht sie mir laufend
Vorhaltungen, daß wir noch nicht, im Gegensatz zu Sylvi Neumann, soweit sind, uns ein Auto anzuschaffen. Ja, sie spricht sogar schon von einem Dienstmädchen.

Alles das kann ich mir aber zur Zeit noch nicht leisten und darum muß ich schon mein Studium beenden. Begreift sie denn nicht, daß ich alles hauptsächlich nur für sie tue, wenn ich oft bis spät in die Nacht sitze und arbeite?"

Aber der liebe Bruder lies sich nichts sagen und wußte alles besser. Für ihn war ich schlecht und egoistisch. Wir haben uns zwar nicht ernsthaft gestritten, aber es blieben die Meinungsverschiedenheiten, und im weiteren Gespräch kam ich gar nicht aus dem Staunen heraus, was meine Frau und meine Schwiegereltern alles gegen mich erfunden hatten, um ihr schändliches Verhalten zu rechtfertigen. Es waren die reinsten Greuelmärchen.

Hätte meine Frau mir offen gesagt: "Hör mal zu, meine Liebe zu Dir war ein Irrtum, und Du bist nicht der Mann, den ich mir vorgestellt habe", dann hätte sie wenigstens noch Charakter gezeigt. Ihr und vor allen Dingen ihren Eltern ging es aber in erster Linie nur um Äußerlichkeiten, und sie streckten daher nicht einmal davor zurück, sich der gemeinsten Lügen zu gebrauchen, um mich in den Abgrund zu stoßen. Den Brüdern hatten sie nämlich erzählt, daß ich laufend meine Frau und mein Kind mißhandele, alles Geld für mich verbrauche, und das ich sogar nicht einmal davor zurückschrecke, dem kleinen Kind die letzte Milch wegzutrinken. Man muß sich das einmal vorstellen, solche Gemeinheiten unter Zeugen Jehovas.

Wieder vor dem Brüderkomitee in Hamborn
Ich wußte genau, was mir blüht, wenn es mir nicht gelingt, diese abscheulichen Lügen, die man gegen mich aufgebracht hatte, zu widerlegen. Aber was sollte ich allein gegen drei Zeugen ausrichten? Sollen die Dinge nicht immer mindestens durch zwei oder drei Zeugen entschieden werden? Was aber, wenn die zwei oder drei Zeugen falsche Zeugen sind und der eine im Recht ist? Dann wird dieser "eine" zu Unrecht auch in Jehovas Organisation verurteilt und in die "Welt" zurückgestoßen, was seinen Tod bedeuten kann, wie uns gelehrt wurde. Wenn ich heute zurückdenke - in der Tat, es hat schon Tausende solcher ungerechten Entscheidungen in den Brüderkomitees der Zeugen Jehovas gegeben. Fanden sich später Gegenbeweise, und die Organisation wurde dadurch nicht zu sehr kompromittiert, oder die Brüder konnten sich durchsetzen, die Recht hatten, dann wurden solche Entscheidungen in "Einzelfällen" auch wieder rückgängig gemacht.

Mitunter griff der Zweigdiener als letzte und höchste Instanz ein. Aber der deutsche Zweigdiener Konrad Franke, den ich erlebte . . . .' nun, wir werden es sehen. Jedenfalls, wenn sich die nicht früher oder später durchsetzen können, die trotz allem recht haben, dann werden auch in Jehovas Organisation Unrecht auf falsche Anklage zum Recht erhoben, ohne Rücksicht auf das Schicksal der Betroffenen. Der Mensch steht nicht im Mittelpunkt, obwohl Christus mahnt, sich auch um den Geringsten seiner Brüder zu kümmern. Entscheidend sind allein die Interessen und jeweils vorherrschenden Bibelauslegungen derjenigen, die gerade die Ämter in der Organisation aus "Vertreter
Gottes" innehaben. Ob Recht oder Unrecht - die Interessen der Organisation sind allein maßgebend. Jedes weltliche Gericht prüft sorgfältiger als die zu Gericht sitzenden Brüder der Komitees. In den meisten Fällen kann man ihnen gar nicht einmal Böswilligkeit vorwerfen, denn sie sind ebenfalls auf Gedeih und Verderb an die höheren Interessen der Organisation gebunden. Dramatischer als ich hat das wohl kaum einer erlebt. Oder vielleicht doch? -

Noch am selben Abend der Bruder Josefowski war bereits wieder gegangen kam mir eine unerwartete Hilfe. Ich benötige für den nächsten Schultag noch einige Bücher und so zog ich das Fach auf, in dem meine Bücher lagen. Alles hatte meine Frau mitgenommen, was nicht niet- und nageltest war, und doch hatte sie das Wichtigste vergessen, nämlich ihr Haushaltsbuch, das sie immer recht säuberlich und genau geführt hatte. Sie hatte jeden Tag eingetragen, was sie ausgegeben hatte, was sie von mir für Wirtschaftsgeld erhielt und auch, was sie mir für Taschengeld gegeben hatte. Ja, und dieses Buch fiel mir nun in die Hände. Scheinbar hatte meine Frau in der Eile gar nicht mehr daran gedacht.

Mir dagegen kam es wie ein Wunder vor, daß ausgerechnet dieses Buch mir geblieben war, denn mit diesem Buch konnte ich sämtliche Lügen, die man über mich verbreitet hatte, widerlegen. War diese Hoffnung unberechtigt? Wenn ich heute darüber nachdenke - ist es nicht depremierend und peinlich, wie ein Zeuge Jehovas um Recht vor solchen Komitees ringen muß - selbst in intimsten Angelegenheiten Und ist es nicht schändlich wie er dabei von Zufällen abhängig ist, die Rettung oder Verderb bringen können? Denn was wissen die Brüder, die zu entscheiden haben? Nichts! Außer dem, was ihnen gesagt oder zugetragen wird. Mir fiel jedenfalls an jenem Abend ein zentnerschwerer Stein vom Herzen, denn ich glaubte nun, endlich meinen Schwiegereltern die entsprechende Lehre erteilen zu können, daß Lügen eben kurze Beine haben.

Ja, und dann kam der Sonntagnachmittag, und als ich das Zimmer betrete, in dem sich das Komitee zusammengefunden hatte, sind meine Frau und meine Schwiegereltern bereits anwesend. Leider fehlen aber die Zeugen, die ich benannt hatte, z. B. meine Schwester und einen Bruder Bretzke. (Wie ich später erfuhr, hatte das Komitee diese Zeugen gar nicht vorgeladen).

Als ich meiner Frau die Hand geben will, schaut sie weg, obwohl wir doch nicht im Streit auseinandergegangen waren Aber dieses Benehmen sollte eben bei den Brüdern den Eindruck erwecken, wie tief ich in ihrer Schuld stand.

Bis zu diesem Moment hatte ich mir noch vorgenommen, meine Frau vor dem Schlimmsten zu bewahren, denn ihre Lügen waren groß genug, um ihr dafür die Gemeinschaft zu entziehen. ich flüsterte ihr also zu: "Hannelore, komme doch bitte mal einen Moment mit raus, ich möchte mit Dir noch einiges besprechen." Doch da dreht sie sich um und sagt mir so ganz von oben herab: "Ich wüßte nicht, was wir beide noch zu besprechen haben." Das muß man sich einmal vorstellen! Drei Jahre war ich mit
dieser Frau verheiratet, und ich war kein Dieb und kein Ehebrecher, sondern ich arbeitete hart für meine Familie. Es war also nichts vorgefallen, was ihr Verhalten gerechtfertigt hätte. Und ich war nun gekommen, um sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Kalter Haß schlug mir hier entgegen, und ich stand nun mit ausgestreckter Hand da wie ein begossener Pudel.

"Gut", dachte ich, wenn Du es nicht anders willst, dann sollst Du sehen, wie Du die Geister wieder los wirst, die Du gerufen hast!"

Ich setzte mich also hin und die Komiteesitzung begann. Der Versammlungsleiter trug die Angelegenheit vor und dann sagte er: "Also Schwester Peters, äußere Dich bitte dazu. Ist es so, wie wir es vorgetragen haben und erzähle noch mal." Meine Frau log, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, das Blaue vom Himmel herunter. Es war unglaublich, und da ist in mir etwas zerbrochen. Das ist schlimmer, als wenn man einen lieben Menschen durch den Tod verliert. Man liebt diesen Menschen, die
eigene Frau, über alles, und man hatte sich nichts mehr gewünscht, als mit diesem geliebten Menschen einmal in die neue Welt zu kommen, und dieser geliebte Mensch versucht nun alles, um einem das Genick zu brechen. Alle schweren Tage in Krieg und Gefangenschaft waren hiergegen nur Nichtigkeiten, denn nichts ist schlimmer, als von dem liebsten Menschen, den man zu haben glaubt, in so abscheulicher Weise verraten zu werden.

Als dann die Aufforderung in mich erging, mich dazu zu äußern, da konnte ich zuerst gar nicht sprechen, denn es drückte mir einfach die Kehle zu. Stockend brachte ich nur hervor: Brüder, ich habe meine Familie weder vernachlässigt, noch Not leiden lassen - es stimmt alles nicht. Bitte, hier ist das Haushaltsbuch meiner Frau. Schaut es Euch bitte an und dann werdet Ihr sehen, ob es stimmt, was sie ausgesagt hat. Bruder Kolpatzek nahm das Buch, überprüfte es, gab es dem nächsten Bruder des
Komitees, und der gab es wieder dem nächsten. Der Gegenbeweis war erbracht und meine Frau der Lüge überführt Die Brüder sahen, daß meine Frau immer das Nötige bekommen hatte, und daß ich nur sehr Geringes verbraucht hatte. Natürlich mußten wir uns einrichten. Wenn man studiert und Bücher braucht usw., kann man manches nicht machen. So war unser Leben, an anderen gemessen, bescheiden ohne allen Komfort und Luxus.

Aber diese zwei Jahre war das bestimmt erträglich. Heute hätte ich zu meiner Frau gesagt: "Gut, bist jung, und wenn Du die Zeit nicht abwarten kannst, dann mußt Du eben etwas mit zuverdienen, bis ich mit der Schule fertig bin." Meine Klassenkameraden z. B. hatten immer reichlich Taschengeld, und darüber habe ich mich anfangs immer gewundert, denn sie verdienten ja auch nicht mehr als ich. Ich dachte immer: Wo haben die bloß das viele Geld her?" Aber da waren die Frauen nicht zu fein, um zu arbeiten, und sie haben auf diese Weise eben ihre Männer unterstützt, damit die Familie über die Studienzeit leichter hinwegkommt Sie haben eben eine Halbtagsbeschäftigung angenommen Das hat meine Frau aber nie nötig gehabt, und so mußte alles von meiner Hände Arbeit kommen. Ich bin auch nie auf die Idee gekommen, ihr den Vorschlag zu machen, auch arbeiten zu gehen. Ich habe immer gedacht, daß ich das auch alleine schaffe. Aber ein bißchen dankbar hätte meine Frau dafür sein können, und vor allem verständnisvoller Sicher hat sie nie über diese Seite unseres Lebens nachgedacht. -

Die Brüder vom Komitee hatten nun das Haushaltsbuch meiner Frau durchgesehen. Dann sagten sie: "Stimmt das, Schwester Peters, hast Du das Buch geschrieben, ist das Deine Schrift?" Meine Frau konnte natürlich nicht leugnen, denn als sie das Haushaltsbuch gesehen hatte, machte sie ein völlig entsetztes Gesicht. Das war nicht einkalkuliert. Die Brüder fragten noch einmal: "Hast Du das geschrieben?" Statt einer Antwort fing sie heftig an zu weinen. "Wir sehen nun, daß Du Deinen Mann nicht nur böswillig verlassen und verleugnet hast, sondern Du hast auch uns gegenüber wissentlich die Unwahrheit gesagt. Wir möchten Dir noch eine Chance geben. Wenn Du nicht innerhalb von zwei Tagen zu Deinem Mann zurückgehst und Dir nicht alle Mühe gibst, eine anständige Ehefrau zu sein, müssen wir Dir die Gemeinschaft entziehen."

Dies war die Entscheidung des Brüderkomitees.
Das Haushaltsbuch meiner Frau behielt das Komitee zurück, und der Versammlungsdiener nahm es an sich. Froh über den Ausgang der Sache und im guten Glauben überließ ich ihnen das Beweismaterial. Sollte ich den Dienern der Organisation Jehovas nicht vertrauen? Doch diese meine Gutgläubigkeit sollte sich bald als ein verhängnisvoller Fehler erweisen.

Neuer Haß
Nach ein paar Tagen - ich hatte Nachtschicht gehabt - höre ich plötzlich im Halbschlaf, daß jemand
nebenan in der Küche herumhantiert, und mein erster Gedanke ist auch gleich: "Aha, Hannelore ist
wieder da."

Zuerst wollte ich gleich aufstehen, um nachzusehen; aber dann hörte ich, daß auch meine
Schwiegermutter anwesend war. Leider konnte ich nicht verstehen, was die beiden miteinander
sprachen; denn sie unterhielten sich im Flüsterton.

Ich blieb also noch liegen und dachte mir: Sie haben die Sachen alleine rausgeschafft, und nun sollen sie auch das Vergnügen haben, vor den Augen der Nachbarn die gewiß hinter den Gardinen alles mit
ansehen - alles wieder ohne mich reinzuschaffen." Mir war es jedenfalls äußerst peinlich, daß gerade bei uns Zeugen Jehovas solche Dinge passierten.

Nach einer Weile bin ich dann aber doch aufgestanden, und als ich die Küche betrat, kam auch
gerade meine Schwiegermutter mit den letzten Sachen, die sie von unten heraufgeholt hatte, herein.
Ausweichen konnte sie mir also nicht mehr, und so sagte ich zu ihr, obwohl sie nicht einmal "Guten
Tag" herausgebracht hatte: "Siehst Du, das wäre Euch alles erspart geblieben, wenn Ihr nicht so
untheokratisch gehandelt hättet."

An sich wollte ich noch mehr sagen, und ich hatte auch vor, ihr am Ende die Hand zur Versöhnung zu
reichen; aber dazu kam ich gar nicht. Sie verließ nämlich sofort meine Wohnung. Doch bevor sie die
Tür hinter sich schloß, drehte sie sich noch einmal um und zischte mich mit haßblitzenden Augen an: "Glaube ja nicht, daß wir Dir diese Demütigung vor dem Komitee verzeihen werden", und damit  meinte sie das Urteil des Komitees über ihre Tochter und vor allem den Beschluß, daß ihre Tochter zu
ihrem Mann zurückgehen muß, wenn ihr nicht die Gemeinschaft entzogen werden soll. Die Rechnung  meiner Schwiegermutter war nicht aufgegangen, und das hatte sie natürlich sehr getroffen; denn sie
stand ja in erster Linie im Hintergrund aller Intrigen und Lügen, und nur das Auftauchen des
Haushaltsbuches hatte ihren Plan vereiteln können.

Ich antwortete ihr: "Was solltest Du mir denn verzeihen? Etwa, daß ich nicht mitgelogen habe? Daß
ich mich verteidigt habe gegen Eure Unwahrheiten? Oder, daß Ihr auf diese abscheuliche Art und Weise etwas gemacht habt, was Ihr gar nicht verantworten konntet?"

Statt einer Antwort, winkte sie aber nur ab und ging. Meine Schwiegereltern sind seit dieser Zeit auch  nie mehr zu uns gekommen, d. h., wenn ich anwesend war. Auch in der Versammlung gingen sie an mir vorbei, als wenn ich Luft sei, und auch die Brüder, mit denen meine Schwiegereltern
freundschaftlich verkehrten, benahmen sich mir gegenüber nicht viel anders. Und das unter Zeugen
Jehovas, bei denen eines der obersten Gebote heißt: "Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich
selbst!"

Noch am selben Tage, an dem meine Frau wieder zu mir zurückgekehrt war, entdeckte ich noch
etwas sehr Deprimierendes. Meine Frau hatte nur ihr Bett bezogen und meines nicht. Ich frug sie also, was das zu bedeuten hat und erhielt nun eine Erklärung, die mich völlig aus der Fassung brachte.

Meine Frau sagte mir nämlich folgendes: "Die Mutti hat meine ganze Aussteuer zurückbehalten. Sie
sagt, daß meine Aussteuer von ihr oder von ihrer Verwandtschaft gekommen sei, und daß Du Dir
selber Bettbezüge kaufen sollst. Auch die Trauringe, die sie uns zur Hochzeit geschenkt hat, hat sie
zurückbehalten." Ich war also gezwungen, im unbezogenen Bett zu schlafen; denn ich besaß ja keine
Bettbezüge, und ich hatte ja auch gar keine Veranlassung gehabt, mir welche zu kaufen, denn meine Frau brachte ja reichlich davon mit in die Ehe.

Am folgenden Sonntag berichtete ich natürlich dem Versammlungsdiener von diesem Sachverhalt,
doch der sagte mir nur, daß das Privatangelegenheiten sind, in die sie nicht eingreifen. Was sollte ich nun machen? Sollte ich vor ein weltliches Gericht gehen und die Versammlung dadurch  noch mehr in Mißkredit bringen? Doch gegen diesen Gedanken sträubte sich alles in mir, und so
schrieb ich dann an meine Mutter in der DDR, damit sie mir Bettbezüge schickt. -

Meine Frau war wohl wieder zurückgekommen; aber ein Problem entstand nun, das unter anderem
die Rolle des Brüderkomitees in ganz spezieller Weise beleuchtet. Von Stund an hat meine Frau mit
mir nicht mehr in ehelicher Weise verkehrt, trotzdem sie vor dem Brüderkomitee versprochen hatte,
wieder eine ordentliche Ehefrau zu sein.

Schon vom ersten Tag unserer Ehe an hatte ich bemerkt, daß meine Frau bedenkenlos alles tat, was
ihre Mutter sagte, und auch in diesem Falle befolgte sie genau die Anweisungen, die ihr ihre Mutter
mit auf den Weg gegeben hatte.

Ich ahnte natürlich, was hier gespielt wurde, und ich litt unsagbar darunter; denn hier lag ganz
eindeutig eine Provokation vor, die von meiner Schwiegermutter gesteuert wurde.

Das Verhalten meiner Frau änderte sich erst nach fast einem halben Jahr, denn nach Ablauf dieser
Frist hatte ich mich eines Tages nach dem Felddienst einem Bruder vom Komitee anvertraut. Ich
sagte, hier stimmt doch etwas nicht - könnt ihr nicht mal mit meiner Frau sprechen Es geht doch nicht,
daß sie mir immer wieder demonstriert, was sie für eine Abneigung gegen mich habe. Tatsächlich
sprach jemand vom Komitee mit ihr und plötzlich war ihr ehewidriges Verhalten vorbei. Selbst bis in
die intimsten Lebensbereiche einer Ehe reicht das Brüderkomitee, und in meinem Falle hatte es  sogar mehr Macht über meine Frau als deren eigene Mutter.

Sollte oder wollte sie das Kind nicht haben?
Eines Tages sagte meine Frau zu mir: "Du, Gerhard, ich glaube, wir müssen uns noch ein zweites
Kinderbettchen anschaffen. Ich war nämlich heute beim Arzt, und obwohl er mir noch nichts Sicheres sagen konnte, ich bin fest davon überzeugt, daß ich in Umständen bin. Alle Anzeichen sprechen
jedenfalls dafür."

Selbstverständlich versuchte ich meine Frau zuerst einmal davon zu überzeugen, daß vielleicht doch alles nur ein Irrtum sei usw. Als sie mir dann aber erzählte, daß bereits acht Wochen vergangen seien, da war auch ich fest davon überzeugt, das ein Irrtum nicht mehr möglich war. Die nächsten Stunden
verbrachten wir nun damit, alle gemachten Zukunftspläne neu zu durchdenken, und als meine
Schwester wenig später bei uns hereinschaute, da erzählte meine Frau auch ihr, was geschehen war. Mit keiner Silbe erwähnte meine Frau an jenem Tage, daß dieses Kind ihr unerwünscht sei. Im
Gegenteil, in Gegenwart von meiner Schwester suchten wir bereits schon nach einem passenden
Namen.

Wie war ich darum nach einigen Tagen überrascht, als ich zwei Stunden früher (ein Lehrer war
plötzlich erkrankt) aus der Schule kam. In der Küche empfängt mich eine wahre Tropenhitze und ein
Dampf, fast wie in einer Waschküche Zuerst wußte ich gar nicht was los ist. Doch dann bemerkte ich die Badewanne auf dem Fußboden und auf dem Tisch die ziemlich geleerte Rotweinflasche.

Ein furchtbarer Verdacht stieg plötzlich in mir auf, und als ich nun auch noch meine Schwiegermutter sah, die gerade aus dem Nebenzimmer kam, da gab es für mich kaum noch Zweifel, was hier  getrieben worden war. Die letzte Gewißheit erhielt ich dann aber, als ich nun meine Frau im Bett
liegen sah. Ihr Herz überschlug sich fast, und als ich sie frug, was los sei, da konnte sie mir vor
Erschöpfung kaum antworten.

Zornentbrannt ging ich nun in die Küche, und dort sagte ich zu meiner Schwiegermutter: "Was Ihr hier getrieben habt, ist Abtreiberei!" Natürlich stritt meine Schwiegermutter bis zum Steinerweichen; denn  sie war der Meinung, daß man mit heißen Sitzbädern, heißem Rotwein und Fiebertabletten keine Abtreibung durchführen kann. Angeblich wollte sie nur mal ausprobieren, ob meine Frau wirklich
schwanger sei oder nicht.

Was sollte ich nun machen? Die Sache war nun "ausprobiert", und meine Erregung änderte nun auch
nichts mehr. Meine Schwiegermutter hatte es jedenfalls nun sehr eilig mit dem Weggehen. Sie hatte ja ihr Vorhaben ausgeführt - nicht ohne Erfolg -, wie ich dann wenig später von meiner Frau erfuhr. Abtreiberei ist gesetzwidrig, auch für Zeugen Jehovas. Aber hier schien es dennoch keine
Gewissensbisse zu geben. Auch von der Versammlung und vom Brüderkomitee kam nichts, obwohl  hier nichts verborgen geblieben war.

Von diesem Mann, den sie sich vom Halse schaffen soll, noch ein Kind? Das mußte offensichtlich
verhindert werden Wo kein Kläger ist, ist kein Richter - auch unter Zeugen Jehovas nicht. Reinheit der Organisation? Was verbirgt sich hinter dieser Behauptung nicht alles!

Nur die Zeugen Jehovas nicht in Mißkredit bringen.  Ich habe mir jetzt doppelt Mühe gegeben, als Zeuge Jehovas zu leben. Immer noch glaubte ich fest, es  ist Jehovas Organisation, bei der ich nun in mancher Hinsicht schlecht angeschrieben war, wie man  so sagt. Sie hatten auch meine Verkündigerkarte eingesehen, auf der meine Gottesdienstleistungen verzeichnet waren. Felddienststunden, Nachbesuche, Heimbibelstudien, Literaturverkauf und sonstige  wichtige Vermerke. Auf dieser Karte war natürlich weniger verzeichnet als bei anderen, weil ich beruflich mehr belastet war. Diese Mängel hatte man mir auch vorgehalten: Hör mal zu, Bruder Peters, wir sehen hier, du erreichst deine Quoten (ein bestimmtes Soll an Haus-zu-Haus-Dienst und  Literaturverkauf) nicht mehr, du liegst unter dem Durchschnitt. Was machst du überhaupt? Und  häussliche Schwierigkeiten hast du auch?

Ich sagte mir also, so geht das nicht weiter. Aber was tun?
Ich antwortete den Brüdern: Es geht nun zu Ende mit meiner Berufsausbildung, das Examen rückt
immer naher, und da habe ich natürlich wieder etwas mehr zu tun.

Sie hatten hierfür aber kein Verständnis: Du weißt ganz genau, in der Heiligen Schrift steht
geschrieben, daß der Baum, der keine Früchte trägt, umgehauen und ins Feuer geworfen wird.

Wieder hatte man den gewissen Zeigefinger drohend vor mir erhoben.

Ich war verzweifelt und wußte weder ein noch aus. War bei mir wirklich etwas nicht in Ordnung? Ich stellte mir immer wieder dieselben Fragen: Hast du nicht vielleicht doch selbst Schuld an allem? Bist
du nicht selbst die Ursache, daß alles so gekommen ist? Ich steigerte mich immer mehr in eine  gewisse Panik hinein, daß ich vielleicht unter Mißachtung des Wachtturm und der Bibel mir selbst  diese unglücklichen Zustände geschaffen hätte. Vielleicht hat dir Jehova tatsächlich seinen Segen
entzogen. Andererseits hatte ich doch in meinem Glauben nie nachgelassen oder gar gezweifelt. Ich
hatte eben nur weniger getan als viele andere. Aber kommt es auf viel oder wenig an?

Ich arbeitete nun in den folgenden Wochen wie ein Irrsiniger; denn auch in der Schule hatten meine
Leistungen durch die häuslichen Schwierigkeiten und seelischen Kontlikte rapide nachgelassen. Ja,
ich war oft gar nicht mehr in der Lage, etwas in mir aufzunehmen. Der Dozent stand vorn und rechnete etwas vor, Formeln, Daten, und ich schaute hin und hatte ganz andere Dinge im Kopf. Ich rutschte
immer mehr ab und verhaute eine Arbeit nach der anderen. Was ich sonst mit Leichtigkeit schaffte, wuchs mir nun einfach über den Kopf.

Ich wurde zur Schulleitung gerufen, und dort machte man mir Vorhaltungen, was mit mir los sei. Hätte ich dem Bergschuldirektor damals ehrlich gesagt, was mit mir los war, dann wäre alles noch gut gegangen. Aber nein, ich habe alle in Schutz genommen. Die Organisation, meine Frau - nichts habe ich gesagt. Stattdessen schob ich eigenes Unwohlsein und Krankheit meiner Frau vor, um mein Nachlassen zu erklären, und ich habe offensichtlich gelogen, nur um Jehovas Zeugen nicht in schlechtes Licht zu stellen. Denn, hätte ich erzählt, was ich durchmachen muß, mit den
Schwiegereltern, mit meiner Frau, mit dem Komitee, die Drohungen mit dem Baum, der ins Feuer Schande über die Organisation gebracht.

Ich wollte meinen Klassenkameraden von der wahren christlichen Nächstenliebe predigen und hatte
selber einen seelischen Beistand am nötigsten; denn sie führten zum größten Teil eine gute Ehe und
wußten vor allen Dingen, was sie wollten. Ihre Frauen kamen auch häufig zur Schule und holten sie ab; aber meine Frau brachte das nicht fertig. Sie ging stattdessen lieber zu anderen Menschen und
heuchelte denen vor, wie groß doch die Liebe in Gottes Organisation sei. Mich von der Schule
abzuholen wäre ja Zeitvergeudung gewesen. -

Unter unendlichen Mühen habe ich es dann aber doch geschafft; denn durch das schriftliche Examen
ging ich mit einer glatten 3.

Bin ich denn ganz von Gott verlassen?
Trotz meines beruflichen Erfolges wurden meine häuslichen Schwierigkeiten immer größer; denn der
Entschluß, mich endgültig abzuservieren, war ja bereits schon lange gefaßt. Nur ich wollte es einfach nicht glauben. In diese Spannung fehlte nur noch ein Zündfunke, und der ließ auch nicht lange auf sich
warten.

Eines Tages, ich saß unten in der Bremskammer und machte mir Notizen. Unter Tage ist nun mal die
Beleuchtung ziemlich schlecht und hier hatte man eine Neonbeleuchtung angebracht, die durch
Preßluft betrieben wurde. Hier hatte ich mich wegen der guten Beleuchtung also kurz mal hingesetzt, um mir einige wichtige Notizen zu machen; denn mein Reviersteiger, dem ich als Lehrsteiger beigegeben war, war plötzlich kank geworden, und nun mußte ich für ihn den Betrieb leiten.

Als ich nun so sitze und schreibe, sagt plötzlich jemand: "Glück auf!" Vor mir steht der Fahrsteiger. Ich stehe natürlich sofort auf und stelle mich vor; denn ich war ja erst wenige Tage in diesem Teil der
Grube tätig und war bisher mit dem Fahrsteiger noch nicht persönlich bekannt geworden.

Dieser Fahrsteiger hielt es aber nicht für nötig, sich mir gegenüber auch vorzustellen, sondern er fuhr mich gleich an: "Sagen Sie mal, was machen Sie denn hier in der Bremskammer?" Höflich erwiderte ich ihm: "Herr Fahrsteiger, ich mache gerade meine Anwesenheitsliste fertig, und
außerdem habe ich für den morgigen Tag telefonisch für die Förderstrecke ein breiteres Förderband
angefordert; denn das alte ist zu schmal und schafft die Fördermengen nicht mehr." Eigentlich wollte ich ihm noch über weitere Mängel berichten, aber dazu ließ er es gar nicht mehr kommen, sondern er unterbrach mich wütend mit den Worten: "Hören Sie mal, ich möchte Sie in Zukunft nicht noch ein mal
sitzend antreffen; denn Sie befinden sich hier im Bergbau und nicht in der Schreibstube."

Dies war genau der Ton, den ich noch aus meiner Militärzeit in Erinnerung hatte, und so reagierte ich dann auch. Ein Wort gab nun das andere, und als der Herr Fahrsteiger merkte, daß er mit mir nicht
umspringen konnte wie mit einem dummen Jungen, entfernte er sich mit den Worten: "Sie werden
sich heute nach der Schicht beim Betriebsführer melden."

Nach der Schicht erwartete mich der Betriebsführer bereits im Steigerbüro; aber auch der ließ mich gar nicht richtig zu Worte kommen. Für ihn schien es eine Todsünde zu sein, daß ich es gewagt hätte,
den anmaßenden Ton meines Vorgesetzten zu kritisieren, und so brüllte er unter anderem, daß es
durch die ganze Lohnhalle schallte: "Wenn Sie nicht spuren wollen, dann müssen wir uns eben  trennen!"

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich geschwiegen hätte; aber plötzlich war bei mir das Maß
voll, und so sagte ich dem Betriebsführer, daß ich unter diesen Bedingungen nicht gewillt sei, den
Sündenbock oder dem dummen Jungen zu spielen.

Gewiß hätte ich unter normalen Umständen die eben geschilderten Begebenheiten gar nicht einmal
so tragisch genommen; denn Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten ähnlicher Art zwischen
Steiger und Betriebsführer gehören in den Zechen an der Ruhr zur Tagesordnung. Schon die
Tatsache, daß man mir vertretungsweise - obwohl ich ja noch Lehrsteiger war - volle Verantwortung
übertragen hatte, beweist doch hinreichend, daß die Betriebsleitung volles Vertrauen zu mir hatte.

An jenem Tage war aber einfach das Maß bei mir übergelaufen - leider gerade im unrechten Moment; denn der dauernde seelische Druck durch die häuslichen Ereignisse und durch die
Zeugen-Organisation, mußte früher oder später zur Entladung führen. Ich schmiß also alles hin und
forderte meine Papiere, und was das bedeutete für mein weiteres berufliches Fortkommen, wurde mir erst bewußt, nachdem sich meine Erregung gelegt hatte. Wohl war ich moralisch im Recht; aber was
spielt dieser Begriff schon für eine Rolle in einem Gesellschaftssystem, das den Untertanengeist noch für die höchste Tugend hält.

Wenige Tage später wurde ich zur Schulleitung gerufen, und dort machte man mir dann auch in
unmißverständlicher Weise klar, daß ich, obwohl ich ja das Examen bestanden hatte, mit der
Aushändigung eines Steigerpatentes aus "moralischen Gründen" nicht zu rechnen habe; denn
immerhin sei es der Betrieb gewesen, der meine ganze Ausbildung bezahlt habe.

Wohl hätte ich mit rechtlichen Mitteln gegen den Beschluß der Schulleitung ankämpfen können, aber in meiner damaligen Verfassung fehlte mir einfach die Kraft und auch der Wille, um diesen Kampf
durchzusetzen. Zu lange hatte ich ja schon vorher immer wieder mit dem Gedanken gespielt, diese
schweren beruflichen Belastungen zugunsten meiner religiösen Überzeugung einfach abzuschmeißen.
 

Ich lies mir dann noch bescheinigen, daß ich freiwillig die Bergschule verlassen habe, um später den
Brüdern beweisen zu können, wie willig ich ihrem Wunsche entgegengekommen war. Ich ging dann nach Hause. Nun würde sich alles klären mit meiner Frau, mit der Organisation und mit
dem Brüderkomitee Endlich hatte ich die belastende Bergschule hinter mir, und ich glaubte auch fest daran, endlich über den kritischen Berg hinweg zu sein.

Gereichen denen, die Gott lieben, nicht alle Dinge zum Guten? Endlich konnte ich mich dem
Hauptwerk widmen, wie es die Organisation Jehovas erwartet, dem Dienst der Verkündigung. Arbeit
für den Lebensunterhalt würden wir immer haben, doch leider hatte ich die Rechnung nicht mit dem
Wirt gemacht!

Eine Frau, die mit dem ganzen Herzen Zeuge Jehovas ist und fest im Glauben steht, hätte sich
gefreut, daß ihr Mann nun endlich so weit ist und alles Materialistische abgeschüttelt hat, was die
Organisation nicht für nötig hält, Sie hätte sich gefreut, daß ihr Mann sich durchgerungen hat, auch das Letztmögliche für den Glauben einzusetzen. Bei meiner Frau wirkten aber meine Erklärungen wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie hatte sich nämlich vorgestellt: "Na, wenn dein Mann erst einmal
Steiger ist, dann beginnt gewiß ein sehr schönes Leben - schönes Gehalt, freie Dienstwohnung mit
allem Komfort, schöner Wagen usw. Ja, und nun kam ich - Schulabschlußfeier usw. war alles schon
festgelegt - und erklärte ihr, daß alles aus und vorbei sei. Daß dies aber auch auf meine Ehe zutreffen wurde, damit hatte ich jedoch nicht gerechnet.

Gegen den Osten ist jedes Mittel recht
Ich hatte nun aber versucht, meiner Frau die Dinge klar zu machen, daß doch alles nicht so schlimm
sei. Ich kann doch auch andere Arbeit machen, und es gibt doch noch mehr Berufe, in denen ich
arbeiten kann, und die mir auch gewiß besser liegen", sagte ich. "Weißt Du was, fuhr ich fort, "ich
nehme mir jetzt erst einmal meinen Urlaub und fahre zu meinen Eltern in die DDR. Ich habe nämlich
bei früheren Besuchen erfahren, daß einem dort die Gründung einer neuen Existenz bedeutend
leichter gemacht wird als hier, und wirtschaftlich besser wird es ja dort auch einmal, und wo es
besonders darauf ankommt: Brüder gibt es dort auch." Fast schien es mir so, daß meine Frau mit meinen neuen Vorschlägen einverstanden war; denn wir überlegten bereits was wir mit unseren Möbeln tun würden, wenn wir einmal umsiedeln. -

Am Nachmittag desselben Tages hatte ich noch einige Besorgungen zu machen, und als ich nach
einigen Stunden wieder zurück kam, saß bei mir in der Wohnung der Bruder Josefowski (Mitglied des Brüderkomitees). Dieser eröffnete mir auch sogleich: "Hör mal zu, ich habe gehört, Du willst in die
Ostzone übersiedeln?"

"Na und" - sagte ich. Doch da braust er gleich auf: "Ja, ist denn das die Möglichkeit? Hast Du schon mal an Deine Frau dabei gedacht? - Andere Brüder verlassen die Ostzone und kommen nach dem
Westen zu uns, und Du willst dahin? Das kann doch nicht dein Ernst sein, das kannst Du doch Deiner
Frau nicht zumuten!" Ich sagte: "Wieso, sie hat doch lange genug drüben gewohnt, und es ist für sie
darum auch nichts Neues. Dort reißt man keinem Menschen den Kopf ab. Im Gegenteil, was
berufliche Ausbildung anbetrifft, so habe ich dort sogar weit bessere Möglichkeiten als hier."

Er ließ sich von mir aber nicht überzeugen und wurde mit seinen Äußerungen und Drohungen immer
deutlicher. Zuletzt sprang er sogar auf, fuchtelte mir mit den Händen wild vor dem Gesicht herum und sagte: "Ich sehe, Du bist unbelehrbar, und darum werde ich es zu jeder Zeit befürworten, daß Deine
Frau das nicht mitmachen braucht." Natürlich kam nun auch bei mir langsam das Blut in Wallung; denn was hatte dieser Bruder für ein Recht, sich in meine familiären Angelegenheiten einzumischen? Ich
sagte ihm darum: "Es ist komisch, auf eine Art heißt es immer, wir sollen als Zeugen Jehovas immer
bestrebt sein, möglichst an der vordersten Front zu stehen, und keiner soll davor zurückschrecken,
wenn es möglich ist, sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Sich in der Etappe herumdrücken, das
kann jeder. Aber dort, wo ich hinzugehen beabsichtige, ist die vorderste Front.

Der Bruder ließ sich aber auf nichts ein. Empört über mich, sagte er zu meiner Frau: "Ja, unter diesen Umständen werden wir Dir nichts mehr in die Wege legen, wenn Du Dich ganz von Deinem Mann
trennst." Ich war einfach sprachlos. Der Bruder ging, und meine Frau ging gleich mit.

Scheidung
Ohne sich zu äußern, war meine Frau an jenem Abend mit dem Bruder gegangen, und so nahm ich
an, daß sie gewiß bald zurückkommen würde, denn sie wußte doch, daß ich bereits am anderen
Morgen fahren wollte und sie wußte ja auch, daß dieser Urlaub nur informatorischen Zwecken dienen sollte. Was ich aber nicht wußte, war, das ich bereits fest im Netz saß, das man für mich gesponnen
hatte.

Meine Frau kam aber weder am selben Abend noch am anderen Morgen wieder zurück. Trotzdem
nahm ich das nicht weiter tragisch und dachte mir: "Jetzt fährst du erst mal für 10 Tage in Urlaub und wenn du dann zurück kommst, werden sich die Wogen gewiß wieder geglättet haben. Bernhard
Josefowski redet oft viel, wenn der Tag lang ist, und auch er wird einsehen, daß er das, was er mir
gesagt hat, gar nicht verantworten kann.

Noch nie hatte ich mich so auf einen Urlaub gefreut wie diesmal, denn nach all den Ereignissen in der letzten Zeit glaubte ich, daß mir ein paar Tage der Entspannung wirklich gut tun würden.
Zu Hause angekommen in der DDR bei meinen Eltern empfing mich auch gleich diese wohltuende
Atmosphäre, nach der ich mich so sehr gesehnt hatte. Mutterliebe ist nun mal etwas, was durch nichts in der Welt ersetzt werden kann, und so sagte ich dann eines Tages zu meiner Mutter: "Mama, weißt
Du, am liebsten würde ich für immer hierbleiben und ganz von vorn beginnen."

Selbstverständlich stimmte mir meine Mutter erfreut zu. Aber im Leben spielen nun mal andere Dinge oftmals eine größere Rolle als alle persönlichen Wünsche. Auf keinen Fall wollte ich meine Familie im
Stich lassen, und ich wollte auch nichts ohne die Einwilligung meiner Frau tun. Also schrieb ich noch
am selben Tage an meine Frau und teilte ihr auch gleich mit, das man mir in der der DDR sehr gute
berufliche Angebote gemacht hätte. Ich schrieb ihr aber auch, daß ich diese Angebote jedoch nur mit ihrem Einverständnis annehmen würde. Wenn nicht, käme ich nach Ablauf meines Urlaubs wieder
zurück.

Nach einigen Tagen antwortete mir dann auch meine Frau, und diese Antwort bestand aus einem
winzigen Zettel, auf dem nur ein Satz geschrieben stand: "Mache was Du willst, ich habe die
Scheidung eingereicht."
Wie vom Donner gerührt konnte ich im ersten Moment nur denken: "Ist sie denn noch klar bei
Verstand? Dieser Schritt kostet sie doch die Gemeinschaft. Ist sie denn ganz und gar von Gott
verlassen, daß sie so etwas macht?"

Zwischen uns war doch weder Ehebruch noch sonst etwas vorgefallen, was eine Scheidung
rechtfertigen könnte.
Es gab für mich damals nur eine Erklärung, und die war, daß meine Frau vom Glauben abgefalllen
war. Etwas anderes konnte ich mir einfach nicht vorstellen, denn eine Scheidung zwischen gläubigen
Partnern war mir einfach unvorstellbar. Wohl spricht die Bibel von einer Trennung, die im
beiderseitigen Einvernehmen vollzogen werden kann. Sie warnt aber gleichzeitig vor so einer
Trennung, weil sie nicht Gottes Willen entspricht und dadurch beide Partner in große Gefahr bringt
 (siehe 1, Kor. 7:10-16, Matth. 5:31, 32, Mark. 10:11, 12, Eph. 5:22-33, 1. Petr. 3:1-7 usw.)

Nach den theokratischen Grundsätzen trieb meine Frau hier Rebellion im wahrsten Sinne des Wortes, und hier hätte es von seiten der WT-Organisation nur eines geben können: "Gemeinschaftsentzug."
Aber gerade das wollte ich auf alle Fälle verhindern, denn ich liebte meine Frau trotz allem noch
unsagbar. Ja, sie war mir wirklich Fleisch von meinem Fleisch, und ich glaubte einfach, nicht mehr
ohne sie leben zu können. In unserer Ehe hatte es ja nicht dauernd Meinungsverschiedenheiten und
Streit gegeben, sondern wir hatten doch auch viele glückliche Stunden gemeinsam verlebt. Kurz und
gut gesagt: Ich konnte das alles damals gar nicht fassen.
Ich habe damals sofort meinen Urlaub abgebrochen und bin zurückgefahren, um noch zu retten, was
zu retten ist.

Gemeinschaftsentzug
In Hamborn angekommen, ging ich zunächst zu meiner Schwester, um mit ihr den ganzen Sachverhalt
zu besprechen Auch sie war völlig schockiert und sagte: "Ja, ist denn Deine Frau völlig verrückt
geworden? Sie kann doch so etwas nicht machen! Da entziehen sie ihr doch in der Versammlung
glatt die Gemeinschaft!"

Ich blieb dann noch bei meiner Schwester zum Abendbrot. Auf einmal klingelt es, und als meine
Schwester die Tür öffnet, stehen da Bruder und Schwester Bretzke und bitten meine Schwester um
Einlaß. (Diese beiden Geschwister kamen zu jener Zeit oft zu meiner Schwester und führten mit ihr ein Studium durch). Sie kamen also herein, gaben meinem Schwager die Hand und mir nickten sie nur zu.

Ich dachte mir natürlich gleich: "Nanu, was ist denn hier los?" Früher waren wir ein Herz und eine
Seele - hatten zusammen musiziert, und waren auch sonst freundschaftlich miteinander verbunden,
und nun gaben sie mir nicht einmal die Hand?
Verwundert frug ich sie darum: "Sagt mal meine Lieben, geschah das mit Absicht, das Ihr mir nicht
die Hand gebt, oder war das nur ein Versehen?" Ich merkte ihnen richtig an, wie peinlich ihnen diese
Frage war und nach einigem belanglosen hin und her sagte dann plötzlich Bruder Bretzke: "Einmal
wirst Du es ja doch erfahren: Man hat Dir am letzten Sonntag die Gemeinschaft entzogen!"

Ich habe in diesem Moment ganz entgeistert dreingeschaut, denn was da plötzlich gesagt wurde, war
so unfaßbar, daß es mir die Stimme verschlug. Man muß sich das einmal vorstellen, denn was mir da
plötzlich gesagt wurde, war doch vergleichbar mit einem Todesurteil. Genau das, wovor ich meine
Frau bewahren wollte, war nun mir zuteil geworden. Das Schlimmste von allem war aber, daß mir
Bruder Bretzke nicht einmal sagen konnte, warum man mir die Gemeinschaft entzogen hatte, denn
eine Begründung war in der Versammlung gar nicht angegeben worden.

Den einzigen Rat, den mir Bruder Bretzke an jenem Abend geben konnte, war: "Wir wissen, wer in
Deiner Ehe der wirkliche schuldige Teil ist, und wir wissen darum auch, daß Dir sehr grobes Unrecht zugefügt worden ist. Verliere nun nicht den Kopf, sondern trage alles mit Demut und setze Dein
ganzes Vertrauen auf Jehova, denn nur er allein kann Dir jetzt noch helfen und Gerechtigkeit
widerfahren lassen." Weiterhin gab mir der Bruder Bretzke noch den Rat, trotz allem, was geschehen war, die Versammlungen weiterhin zu besuchen.

Um der Gerechtigkeit und der Liebe willen hatte ich mich den Zeugen Jehovas angeschlossen, und
nun traf mich gerade zu dem Zeitpunkt, wo ich am tiefsten von dieser Lehre durchdrungen und
überzeugt war, dieser vernichtende Schlag.
Es folgten nun für mich sehr schwere Stunden und Tage - wohl die schwersten in meinem bisherigen
Leben, denn ich glaubte ja damals noch fest daran, daß jede Handlung der WT-Gesellschaft von
Jehova inspiriert und gutgeheißen wurde. Direkte Zweifel kamen mir erst viel später, nachdem ich
bereits wieder in die Organisation aufgenommen worden war. Aber davon später …

Ich befolgte also den Rat des Bruders Bretzke und besuchte bereits am folgenden Sonntag das Wachtturmstudium, und noch heute - während ich dies schreibe - erfaßt mich Zorn und Abscheu, wenn
ich an meine damalige Situation zurückdenke, denn fast jeder Blick von über 100 Augenpaaren traf
mich wie ein Peitschenhieb, als ich den Versammlungsraum betrat, und obwohl niemand etwas sagte,
konnte man doch aus allen Blicken das gleiche lesen: "Ja, schämst Du Dich denn nicht, hier noch
herzukommen … ?" Am liebsten wäre ich sofort wieder umgekehrt, aber der Wille, durch Demut zu
beweisen, daß ich nicht derjenige bin, für den man mich allgemein hielt, war doch stärker, und so
drückte ich mich dann wie ein geprügelter Hund auf die hinterste leerstehende Bank.

Nach der Versammlung bin ich dann aufgestanden und bin zu Bruder Kolpatzek, dem
Versammlungsdiener, gegangen Ich frug ihn: "Entschuldige bitte, aber kann ich Dich vielleicht mal
sprechen?"
Zuerst tat er so, als habe er nichts gehört und erst als ich meine Frage noch einmal stellte, sah er auf und sprach: "Ich glaube kaum, daß Sie und wir noch etwas miteinander zu besprechen haben!" Ja,
und dann drehte er sich einfach um und ging weg. Ich empfand in diesem Moment weder Zorn noch
gekränkten Stolz, sondern, was mich dazu bewog, einfach stehen zu bleiben, um ihn noch einmal
anzusprechen, war weiter nichts als nackte Verzweiflung.

Als er dann wenig später wieder an mir vorbei ging, sprach ich ihn einfach noch einmal an: "Wenn Ihr mir schon die Gemeinschaft entzogen habt, dann könnt Ihr mir doch wenigstens die Gründe nennen,
die Euch dazu bewogen haben. Und außerdem ist es doch nicht in Ordnung, daß Ihr mir die
Gemeinschaft während meiner Abwesenheit entzogen habt. Ihr hättet mich doch wenigstens erst
einmal anhören müssen."

Er überging meine Einwände einfach und erklärte mir mit eiskaltblickenden Augen: "Wir haben es gar nicht nötig, Ihnen noch irgendwelche Auskünfte und Erklärungen zu geben! Sie können herkommen
und die Versammlungen besuchen, wie das auch jeder andere Weltmensch kann, denn dieses Recht
wollen und können wir Ihnen nicht verwehren, aber ansonsten haben Sie überhaupt keine Rechte mehr hier." Damit war ich in Gottes Organisation abgefertigt. Ich konnte es nicht fassen.
Erst der Bruder Bretzke hat dann später Erkundigungen für mich eingezogen, und von ihm erfuhr ich dann auch die Gründe meines Gemeinschaftsentzuges: "Grobe Vernachlässigung und böswilliges
Verlassen der Familie."

Meine Frau hatte meine Abwesenheit ausgenutzt - und der Bruder Josefowski hatte sie dabei noch
kräftig unterstützt - und hatte den Brüdern erklärt, ich sei einfach in die "Ostzone" gefahren und hätte sie und das Kind sitzen lassen.
 

Der Bruder Bretzke und auch seine Frau waren damals die einzigen, mit denen ich mich richtig
aussprechen konnte, und denen erzählte ich auch den wahren Sachverhalt mit meiner Reise in die
DDR, und diese Brüder sahen auch ein, daß mir hier sehr großes Unrecht - von Leid gar nicht zu
sprechen - zugefügt worden war.

Die Tatsache, daß ich ja - ohne von meinem Gemeinschaftsentzug zu wissen - wieder
zurückgekommen war, war für sie bereits schon Beweis genug, daß meine Frau und auch ihre Eltern
mal wieder in gröbster Weise gelogen hatten. "Außerdem", so sagte ich ihnen noch, bin ich nicht von
meiner Frau weggegangen, sondern sie hat mich böswillig verlassen."
Für den Bruder Bretzke bekam nun die Sache natürlich ein ganz anderes Bild, und jetzt war es so, das er mir riet, nun nicht eher locker zu lassen, bis die volle Wahrheit an den Tag gekommen ist. An einem
der folgenden Sonntage erreichte ich es dann auch, noch einmal mit dem Bruder Kolpatzek zu
sprechen.

Ich sagte: "Werner das stimmt doch alles nicht, was gegen mich vorgebracht wird. Selbstverständlich war unser Eheverhältnis nicht in Ordnung, aber das wurde doch schon vor einem halben Jahr
offensichtlich, woran das liegt. Du kennst doch die Sache mit dem Wirtschaftsbuch meiner Frau,
wodurch ihre ganzen Lügen gegen mich vor dem Komitee zusammengebrochen sind. Ich habe nie
unordentlich gelebt, sondern ich habe schwer gearbeitet und mich immer beschieden und auf alles
verzichtet. Auch habe ich mich nie herumgetrieben, und meine Familie hat immer ihren Unterhalt
gehabt. Übrigens habt Ihr ja noch das Wirtschaftsbuch von meiner Frau und könnt Euch zu jeder Zeit erneut davon informieren, daß in bezug auf die Versorgung meiner Familie von mir keinerlei
Vernachlässigungen begangen wurden."

Bis hierhin ließ mich der Bruder Kolpatzek ruhig sprechen, doch als ich von dem Wirtschaftsbuch
anfing, unterbrach er mich plötzlich und sagte: "Von einem Wirtschaftsbuch ist mir aber nichts
bekannt. Wenn wir solch ein Buch gehabt hätten von Ihnen, dann wüßten wir das, und dann müßten wir das ja auch haben."
Ich erwiderte: "Das Buch muß doch aber da sein! Frage doch mal den Bruder Josefowski, der damals mit im Komitee war, als die Aussprache geführt wurde."

Er holte den Bruder Josefowski heran und sagte zu ihm: "Sag mal, Bernhard, weist Du etwas von
einem Wirtschaftsbuch, das damals angeblich von uns einbehalten wurde?" "Nein", antwortete er,
davon ist mir nichts bekannt."
Ich fand keine Worte mehr. Es ging in diesem "theokratischen" Komitee wirklich zu wie nach dem
weltlichen Sprichwort: "Eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus." Hemmungslos
verleugneten sie, was sie genau wußten. Doch damit hatte ich aber jeglichen Beweis verloren, daß
ihre Anklage wegen Vernachlässigung meiner Familie nicht stimmte. Bitter bereute ich nun, damals
dieses Buch nicht wieder zurückgefordert zu haben, und was sollte ich nun gegen die falschen Zeugen vorbringen. Es war wie eine bösartige Abmachung gegen mich, mir die Gemeinschaft zu entziehen
und meiner Frau eine Rechtfertigung dafür zu verschaffen, mich zu verlassen und eine Scheidung
herbeizuführen.

Es stand alles in krassem Gegensatz zu dem, was uns immer wieder gepredigt und eingetrichtert
wurde, nämlich, daß sich eine Schwester nicht einmal von einem weltlichen Ehemann scheiden lassen
soll, wenn kein Ehebruch vorliegt Nur wenn dieser Mann es wünscht, dann kann sie ruhig gehen.
Ansonsten soll sie das ungleiche Joch als Prüfung tragen. Bei mir war es aber genau umgekehrt . Ich
gab mir doch die größte Mühe, nicht nur ein guter Christ, sondern auch ein guter Ehemann und
Familienvater zu sein. Meine Frau hatte also keinerlei "theokratisches" Recht auf ihrer Seite. Sie und ihre Helfershelfer konnten es also nur mit Lügen größten Kalibers schaffen.

Ich stellte mir natürlich damals immer wieder die Frage, wie das alles möglich ist, und ich unterdrückte sofort jeden Gedanken, daß diese Zustände in der Hamborner Versammlung ein Maßstab für die
ganze Organisation sein könnten, denn ich kannte ja nur die Praxis des Teiles der Organisation, mit
dem ich verbunden war.

Politische Verblendung Hauptursache
In Wahrheit war es ihnen aber ein Dorn im Auge, daß ich den Wunsch geäußert hatte, in die DDR zu
gehen. Das war der ganze Hintergrund dafür, daß das Komitee und die verantwortlichen Brüder
diesen ganzen Lug und Trug gegen mich mitmachten. Sicher war ihnen ein Mensch - noch dazu ein
Bruder - der aus dem Westen in den Osten will, das Schlimmste, was ihnen passieren konnte. In
solchem Fall hielten sie selbst Lügen, Verdrehungen und Verleumdungen für tragbar, was sie offenbar als das kleinere übel in solchem Falle sahen. Zu den Kommunisten gehen - in die DDR - wo die
Organisation verboten ist! Ist das nicht irgendwie verdächtig? Kam er nicht aus der DDR? Und nun
wieder zurück? Der ganze Haß gegen den "Osten", wie er in der Organisation herrschte, fand hier
einen Gegenstand zwar unklar, unausgesprochen, nur hintergründig, doch undurchdringlich und
unüberwindlich, so daß kein Weg zu einer Verständigung führte. Ich hatte gesagt, ich wollte in die
DDR - wann und wie war völlig zweitrangig. Ich hatte den Wunsch geäußert, und das genügte, mich
mit jeder brauchbaren Lüge fertig zu machen und aus der Organisation auszuschließen.

Ich bin überzeugt, daß es nur ihr dumpfes, antikommunistisches Gefühl war, das hier vorherrschte,
denn es gab keine Beweise für solch hintergründiges Verhalten. Aber in Fragen des "Ostens" sahen
sie alle buchstäblich erst einmal "rot", was jede Sachlichkeit unmöglich machte. Nicht einmal mein
Argument hatte die geringste Wirkung, daß dort auch Brüder sind - daß dort sogar die "Front" ist,
wohingegen es in Westdeutschland ein Leichtes ist, ein Zeuge zu sein. Ihr Antikommunismus lies sie
selbst das nicht begreifen. Lieber sanktionieren sie "theokratisch" jede Lüge und Verleumdung gegen mich. Es war die Frucht der Grundtorheit des Antikommunismus, wie er durch die politischen
Äußerungen in der Literatur der Organisation und durch die Leitung der Wachtturmgesellschaft in
jener Zeit besonders hervorgebracht wurde.

Ich wollte in die DDR, und da war jedes Mittel gegen mich recht. Ob man da einem Menschen Unrecht tut, spielt keine Rolle. Selbst wenn sich später herausstellen sollte, was für ein Unrecht begangen
wurde, den Verantwortlichen, die dieses Unrecht praktizierten, passierte nichts. Was tut's wenn dabei Unschuldige zugrundegerichtet werden, wie ich zum Beispiel. Das schlägt Wunden, die zwar
vernarben können. Aber im Vertrauen darauf, daß dies eine Organisation ist, die von Gott geleitet ist, nagt das in gefährlicher Weise. Es blinkt durch solche Geschehnisse immer wieder ein Licht auf, das
es im Grunde genommen ist, wie in anderen menschlichen Organisationen - ein Menschenwerk -
nichts weiter. Wenn sich solche Beweise häufen, dann fehlt eines Tages nur noch der besondere
Anstoß, und ein Kartenhaus bricht zusammen Aber das ist ein längerer Prozeß.
Noch war das jedoch außerhalb jeder Möglichkeit für mich. Dann kam ein Tag der Entscheidung:
DDR oder nein?

Ich will die Hoffnung nicht aufgeben
Trotz meiner Verwahrungen gegen die Argumente und Methoden gegen mich wurde mein
Gemeinschaftsentzug nicht wieder rückgängig gemacht. Ich kam gegen den Wall der Lügen meiner
Frau und gegen den antikommunistischen Fanatismus des Brüderkomitees nicht an. Ich blieb ein
Verfemter. Ich habe wohl weiter gearbeitet, noch ein halbes Jahr, allein, ohne daß jemand meinen
Haushalt gemacht hat. Ich machte es nach der Arbeit. Ich kam in dieser Zeit so herunter, daß ich
damals nur noch knapp einen Zentner gewogen habe. So hat mich das alles mitgenommen.

Dann war einmal meine Mutter aus der DDR bei mir, für acht Wochen ungefähr. Sie hat mir den
Haushalt gemacht und alles wieder in Ordnung gebracht Gestopft, gebügelt, geflickt. Junge, Junge,
wie siehst du bloß aus, sagte sie. Willst du wirklich hier bleiben, bis du ganz verrückt wirst?

Diese Frau kommt nie wieder zu dir zurück. Ich antwortete ihr, Mama, nach theokratischem Gesetz
muß sie eines Tages einsehen, daß sie Unrecht gehabt hat und bei uns ist das anders als bei den
anderen Menschen in der Welt, uns hält und schweißt doch der Glaube zusammen. Und bei uns magst
auch jeder mal eine Dummheit. Sie wird eines Tages einsehen, daß sie Unrecht hat.

Ich reise ab
Es ging aber eines Tages nicht mehr. Mein Zustand wurde so, daß ich zum Arzt mußte. Der Arzt
sagte: Aufhören mit der Arbeit im Bergbau.
Ich gab nun auch die Arbeit als Bergarbeiter auf. Noch einmal versuchte ich mit meiner Frau zu
sprechen. Erst schrieb ich ihr einen Brief. Dann sprach ich mit ihr persönlich Siehe Hannelore, sagte ich zu ihr, wie die Lage aussieht, ich bin mit meiner Gesundheit am Ende. Willst Du wieder zu mir
zurückkommen? Allein geht es nicht weiter. Es bliebe mir nichts weiter übrig, als dann zunächst zu
meiner Mutter zu fahren. Bitte schön, reise doch, ich komme nicht wieder zurück zu Dir, war ihre
schnippische Antwort. So trennten wir uns.

Ich bin dann in die DDR gefahren, das war 1956. Die ersten Wochen war das natürlich alles ein
bißchen schwierig. Ich nahm erst einmal als Hilfsarbeiter Beschäftigung, um meinen Eltern nicht auf
der Tasche zu liegen. Dann ging ich zum Rat des Kreises, um eine Arbeit aufzunehmen, die meinen
Fähigkeiten entspricht. Ich wurde schließlich Angestellter des Konsum-Kreisverbandes Klötze.

Meine neue Arbeit
Ich wurde Vertreter für Lebensmittel. Ich hatte die Verkaufsstellen aufzusuchen, Bestellungen
aufzunehmen, nach dem Rechten zu sehen; Instruktionen zu vermitteln, wenn etwas nicht in Ordnung
war, eben, mich um gute Versorgung zu-kümmern. Diese Arbeit gefiel mir sehr. Ich verdiente auch,
ganz gut. Dazu war ich viel an der frischen Luft und im Freien, nicht wie unter Tage im Staub: Ich
empfand die Arbeit sogar als leicht im Vergleich zur Hölle des Bergbaus, aus der ich kam, mit den
Zuständen dort. Das Besondere hier war das Betriebsklima. Das kannte ich drüben gar nicht, dort
herrschte nur der bekannte Barraston der Vorgesetzten. Hier dagegen alles kameradschaftlich und
kollegial, manchmal sogar nett. Ich fühlte mich jedenfalls arbeitsmäßig sehr wohl.

Aber, wie man so sagt, wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis, so muß ich es heute
rückblickend nennen. Ich war ja noch selbst Zeuge Jehovas. Ich war ja zu Unrecht aus der
Organisation ausgeschlossen.

Ich versuche gegen das Unrecht anzukämpfen
Eines Tages treffe ich Bruder D. Er war verantwortlich für das ganze hiesige Gebiet. Ich treffe den Bruder auf der Straße. Ich hatte ihn kennengelernt, als ich damals meine Frau in Öbisfelde
kennenlernte. Ich halte ihn nun auf der Straße an, spreche ihn an und sage dann: Bist du nicht Bruder D.? Kennst du mich noch? Er schaut mich an und sagt, bekannt kommst du mir vor aber ich weiß nicht
gleich wo ich dich hinbringen soll. Ich antworte, "ich bin der Ehemann von Hannelore Beich." Er erinnerte sich, aber er blieb noch reserviert. Aber ich hatte den Eindruck, er wußte irgendwie schon Bescheid.

Ich frage ihn nun, "kann ich dich einmal so ganz unter vier Augen sprechen?" "Gut", sagte er, komm
übermorgen Nachmittag zu mir. Ich fuhr zu ihm hin-und habe mich ausführlich mit ihm ausgesprochen. Als ich ihm alles erklärt hatte, war er ganz empört. "Wo gibt es denn sowas, einen
Gemeinschaftsentzug ohne daß du dabei bist und ohne Angabe der Gründe! und als du
dahinterkommst, gab man keine richtige Auskunft und wimmelte dich einfach ab." Auch über die
Sache mit dem Haushaltsbuch meiner Frau hatte ich gesprochen. "Das kommt ja gar nicht infrage,
sagte er. Ich komme sowieso demnächst mit den entsprechenden Leuten zusammen und da werde
ich deine Sache vorbringen." Er ist dann nach Westberlin gefahren und hat meine Sache vorgebracht. Mir sagte er, "deine Sache ist eingereicht, das wird in Ordnung kommen."

Der Esel geht aufs Eis
Es geht ein Jahr hin, es gehen zwei Jahre hin, es gehen drei Jahre hin. Ich hatte meine Gemeinschaft
mit der Organisation immer noch nicht wieder. Langsam wurde mir das Warten zuviel. Vielleicht
mußte ich auch etwas tun, um mich erneut würdig zu erweisen, dachte ich schon. Oder bin ich
endgültig aus der Gnade Gottes gefallen? Ich wurde unruhig. Was könnte ich tun, um meine Treue zur Sache trotz allem unter Beweis zu stellen? Ich wollte mich tief demütigen, indem ich trotz des mir
widerfahrenen Unrechts für das Werk einstehe. Sollte das die Brüder nicht überzeugen? Das Jahr
1958, für mich das erste Wahljahr in der DDR, sollte mir Gelegenheit bieten!

Ich kam nun öfter zu Bruder D. Er fühlte sich verpflichtet, mich zu belehren und sich um mich zu
kümmern. Ich war doch immerhin im Sinne der Zeugen sehr gefährdet, als einer, dem die
Gemeinschaft entzogen war. Da sagt Bruder D. eines Tages zu mir, "hör mal zu, du bist ja an sich
kein Zeuge Jehovas mehr. Aber wie ich sehe, gibst du dir ja alle Mühe und zeigst auch Demut, wie ich dich kenne. Wenn es nach mir gegangen wäre, hättest du schon längst deine Gemeinschaft
wiederbekommen. Aber es liegt nicht an mir. Aber ich möchte dir einen Hinweis geben. Du weißt,
was das hier bedeutet für Jehovas Zeugen mit der Wahl, die jetzt vor der Tür steht Nun zeige einmal, ob du wirklich noch Mensch guten Willens bist." Mit anderen Worten, er forderte mich auf,
demonstrativ die Wahl zu verweigern und zu boykottieren. Ich wußte, daß das bedeutet, eine politische Kampfstellung gegen Staat und Regierung in der DDR zu beziehen.

Da habe ich nun anschließend zu hause gesessen und gedacht: Du meine Güte! jetzt hast du eine
schöne Arbeitsstelle, hast einen Dienstwagen dazu, hast eine Vertrauensstelle gar im Grenzgebiet,
wo man mir sogar ohne Kontrolle vertraute. Und jetzt soll ich die "Obrigkeit" herausfordern, der ich das doch alles verdanke. Du meine Güte, das wird was werden!

Um diese Sache richtig zu verstehen, muß man daran denken, daß wir Zeugen damals noch
obendrein in der staatsfeindlichen Vorstellung handelten, die Regierung, der Staat, die Behörden
seien keine "Obrigkeit", die wir als solche zu respektieren haben. So stand ein gewaltiger Konflikt vor mir. "Das ist ganz egal", beschließe ich. "Der Glaube geht über alles. Denen werde ich es schon zeigen!"

Der Wahlsonntag kommt. Ich gehe nicht zur Wahl. Wenn ich es dabei hätte bewenden lassen, konnte gar nichts passieren. Es besteht ja kein Wahlzwang. Aber ich muß ja "Zeugnis geben"!

Wie zu erwarten, kommen am Abend die Wahlhelfer mit der Urne zu mir in die Wohnung, um mir
eventuell den Weg zum Wahllokal abzunehmen. "Jetzt hast, du Gelegenheit, dachte ich, jetzt wirst du beweisen, dar du noch ein Zeuge bist!". Gefragt nach den Gründen meines Verhaltens sage ich ihnen
nun meine Meinung als Zeuge! Politik - Satanswerk! Staat - Werkzeug des Teufels. Sozialismus -
Vom Teufel gezeugt und zur Reife gebracht! Hochempört verlassen die Wahlhelfer meine Wohnung.

Wenn ich es heute überlege, sie müßten sich verhöhnt und höchst beleidigt fühlen, während sie sich
alle Mühe gaben, mich zu überzeugen, daß es doch ohne Schaffung einer staatlichen Ordnung und
Verwaltung nicht geht, das sei rein menschlich und habe mit keinem Teufel etwas zu tun. Aber, ich
habe sie nur verhöhnt mit meinem Satansargumenten Das muß auf auf einen anderen so wirken. Ich
dachte mir, "was wollen die überhaupt von dir, die sind sowieso bald erledigt mit ihrem Sozialismus
und ihrer Diktatur. Jehova wird es ihnen schon zeigen!"

Am anderen Tage bestellte man mich gleich zur Betriebsleitung. BGL, Betriebsleitung, alles was Rang und Namen hatte bei uns, war versammelt als ich hereintrat. So etwas hatten sie noch nicht erlebt. Ich
sollte ihnen nun erklären, was die Gründe für mein Verhalten sind. Jetzt habe ich mich aber gefühlt!
Meine Gedanken waren nur, "jetzt kriegst du deine Gemeinschaft wieder, was wollen die denn von dir! Bald kommt die Neue Welt, da sind sie alle erledigt die hier sitzen." Als sie meine feindlichen
Argumente zur Kenntnis genommen hatten, sagten sie, "wir können ihnen bei dieser staatsfeindlichen
Einstellung keinen Grenzausweis mehr geben. Wir müssen ihnen eine andere Arbeit geben." "Macht
doch was ihr wollt" hielt ich ihnen entgegen!

Ich ging danach zu Bruder D. Er fragte, "na, wie war es gestern?" Ich erzählte nun die ganze
Geschichte. Da sagte er, "das hast du Prima gemacht"

Es dauerte keine vier Wochen, da kam von Westdeutschland der Bescheid, daß ich wieder voll zu
den Zeugen gehörte! Keine jahrelange stille Demütigung konnte das bewirken! Ein einziger
politischer Akt genügte indessen. Ich aber glaubte damals es sei die Gnade Gottes. Nun ging es erst
richtig los! "Nun ran an das Werk", sagte ich mir. "Jetzt sollen sie sehen, was ich noch für ein Zeuge bin." Über alles wollte ich hinwegsehen, was ich Bitteres erlebt hatte. Ich bin dann los, aufs Motorrad.
Hin nach Westberlin, Literatur holen, Kurierdienste ausfahren, alles was nötig ist.

Mein Wahlspruch war: Hier bin ich, Gott, sende mich! Ich scheue mich in keiner Weise, die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Wenn sich keiner mehr aus der Organisation nach Westberlin traute zu
Kurierdiensten, ich setzte mich aufs Motorrad und fuhr hin. Gott ist mit mir! Was soll mir passieren?

Ich sollte bald begreifen; daß da kein Gott dabei ist, daß auch die Zeugen in Wirklichkeit als
Menschen völlig auf sich selbst, auf eigene Umsicht, Vorsicht und Klugheit oder Unzulänglichkeit
angewiesen sind. Die vielen gutgläubig Gefahrenen und dennoch Eingebrochenen sollten das später
bitter zum Bewußtsein bringen. Warum sonst beschloß die Organisation, für die gefährlichsten
Unternehmen niemals mehr die Hauptverantwortlichen Diener einzusetzen, sondern immer nur
unbedeutende, unbekannte, deren Ausfall die Organisation nicht gefährlich trifft?

Tiefe Saat
1957 war ich wieder nach Westdeutschland gefahren in der stillen Hoffnung, anläßlich des Besuches
eines Kongresses in Dortmund, mit dem früheren Zweigdiener Erich Frost oder dem ehemaligen
Zweigdiener Konrad Franke über meine Angelegenheiten zu sprechen, um aus meinem furchtbaren
Zusand herauszukommen, Gewißheit zu erhalten und wieder Gerechtigkeit zu erfahren.

Man muß es sich einmal vorstellen. Wenn ich einen Menschen umgebracht habe und mir wird das
Todesurteil verlesen, dann weiß ich warum. Aber hier? Es gab weder Scheidungsgründe noch
Gemeinschaftsentzugsgründe. Es war pure Willkür und Voreingenommenheit der verantwortlichen Diener.

Stelle dir vor. Ich glaube an diese Organisation, daß es eine Organisation Gottes ist, daß die Diener
von Gott eingesetzt sind und von seinem Geist geleitet werden, daß es eine neue Welt gibt, in der
man ewig in Glück und Frieden leben kann und ich habe mich voll und ganz diesem Glauben
hingegeben. Plötzlich bekommt, man gesagt, ab heute gehörst du nicht mehr dazu. Du gehörst zu den
Böcken, die in die ewige Vernichtung gehen. Das trug ich jahrelang mit mir herum. Im festen Glauben
an Harrnagedon und an alles. Ich prüfe und prüfe mich, bohre mich innerlich durch und durch, was
habe ich denn alles falsch gemacht? Ich bete und bitte Gott um Verzeihung. Ja ich bitte am Ende um
Dinge, die ich gar nicht getan hatte! Es ist Angst! Pure und nackte Angst vor Harmagedon, vor dem
Schicksal abseits der großen Herde der Schafe in die Vernichtung zu gehen! Ja, mir wird bewußt, die Organisation will, daß wir dies vor Augen haben. Aber sie hat mich unschuldig dazu bestimmt. Das ist
nicht nur ein Tod. Das ist einer, der monate- und jahrelang in der Todeszelle sitzt und jeden Tag
wartet, daß sie ihn holen. Und das Schlimme ist, die Organisation wußte, wie ich darunter leiden muß,
denn ihre Gründe waren fadenscheinig. Sie haben gesehen, wie ich von Tag zu Tag weniger wurde.
Ich habe knapp noch einen Zentner gewogen. Wie eine Vogelscheuche sah ich aus. Die fortdauernde
Aufregung und innere Verzweiflung zehrten ununterbrochen. So hoffte ich nun auf ZweigdienerFranke, gewissermaßen die letzte Instanz.

Ich kam an in Dortmund. Ich traf auch den Versammlungsdiener von Hamborn, Bruder Kolpatzek. Ich trug meinen Wunsch vor. Er sagte, er wolle mit Bruder Franke sprechen und mir Bescheid geben, ob
er sich von mir sprechen lassen will. Ich demütigte mich auch unter diese Überheblichkeit. Schließlich erhielt ich Bescheid, ich sollte sofort zu Bruder Franke kommen, er habe sich bereit
erklärt, mein Anliegen anzuhören. Wenigstens das, sagte ich mir. Ich demütigte mich auch unter diese Herablassung. Wie hoch thronen doch die Diener. Ich ging nun zu Bruder Franke. In einem Vorzimmer
mußte ich warten. Welche Distanz. Nach einer halben Stunde öffnete sich die Tür, ein Bruder kam
heraus und sagte, bitte schön. Ich folgte ihm ins "Allerheiligste."

Bruder Franke saß am Schreibtisch. Neben , ihm 'stand für mich völlig unerwartet - meine Frau. Kein brüderlicher Gruß. Nichts. Sie sind Herr Peters? Ja, sagte ich. Und was wünschen Sie? Ich erklärte
ihm nun kurz, daß ich möchte, daß meine Angelegenheit nochmals überprüft wird, weil ich der festen
Überzeugung sei, mir ist Unrecht widerfahren. Ich sei extra deswegen aus der DDR auch zu diesem
Kongress hergekommen, um ihn sprechen zu können. Ich hatte tatsächlich DDR gesagt, und er hatte
das deutlich registriert. Damit hatte ich schon politisch alles verdorben und verloren. Für die
Organisation gab es nur eine "Ostzone". Dann sagte Franke: Ich habe Ihren Fall genauestens
überprüft, und wenn ich sehe, wie Sie hier sprechen, so erkenne ich, daß Sie nicht die geringste
Demut zeigen und noch nicht das mindeste bereut haben. Es ist unmöglich, Sie jemals wieder in die
Gemeinschaft Gottes aufzunehmen. Bitte verlassen Sie sofort das Zimmer. Ich wollte noch etwas
sagen, aber er schnitt mir jedes weitere Wort ab mit der nochmaligen Aufforderung: Bitte verlassen Sie sofort das Zimmer. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich umzudrehen und zu gehen.

Unten stand Bruder Kolpatzek. Na, wie ist es ausgegangen? fragte er. Ich winkte nur ab und ging
meines Weges. Was sollte es noch?
Ich konnte nichts mehr sagen. Einen Augenblick hielt ich mich noch auf. Ein Redner sprach noch. Aber ich nahm davon kein Wort mehr auf. Als ich mich dann wieder ein bißchen beruhigt hatte, sagte ich
mir, hier in Westdeutschland gibt es in der Organisation für mich kein Recht mehr. Ich werde wieder zu den Brüdern in die DDR zurückgehen, vielleicht sind sie zu sprechen und vielleicht kann ich mich dort doch noch würdig erweisen. Innerlich war ich völlig verzweifelt. Ich ging noch an einen Literaturstand, um einige WT, Bücher und Broschüren zur Glaubenswürdigkeit den Bürgern gegenüber in die DDR mitzunehmen.

Es nützte mir auch nichts, daß sich die ganze Hamborner Versammlung über meinen Fall gespalten
hatte. Die Ärmeren standen auf meiner Seite. Die aus den besitzenden Kreisen kamen, waren meist
gegen mich und hielten die Entscheidung der Diener für richtig. Bei ihnen wohnte auch immer der
Kreisdiener, auch er stand gegen mich. Aber die Versammlung hat ja auch nichts zu sagen und zu
entscheiden. Sie wird über die Entscheidungen der Diener lediglich informiert, um sie zu befolgen.
Die Diener entscheiden auf Grund von zwei oder drei Zeugen. Sind dies aber nun falsche Zeugen,
und wie oft sind es falsche Zeugen, dann gibt es eben kein Recht, wie ich es erlebte, bis zur letzten
Instanz. Es war zum Verzweifeln. Wie kann das den Glauben an eine göttliche Leitung des Werkes
stärken?

Die Erfahrung mit dem damaligen Zweigdiener Franke, seine Selbstherrlichkeit, seine Arroganz und
Überheblichkeit, sein Richtgeist mich nicht einmal richtig zu Worte kommen zu lassen, mich nicht
einmal anzuhören, hatte mich tiefer erschüttert, als mir zunächst bewußt wurde. Ich konnte sofort
hierüber noch gar nicht richtig nachdenken. Seine Entscheidung war wie Keulenschläge. Ist es nicht,
die mindeste Gerechtigkeit einen Angeklagten gegenüber, daß man ihm die Möglichkeit gibt, seinen
Standpunkt darzulegen und ihn anzuhören? Das machen ja selbst weltliche Gerichte! Ich konnte es
nicht fassen, daß in einer Organisation Gottes, die von Gottes Geist geführt wird, ein Menschenleben vor der höchsten Instanz dieser Organisation so wenig, ja nichts mehr gilt, wie in meinem Fall. Und
das ohne mich anzuhören! Erst später legte ich mir darüber gründliche Rechenschaft ab. Was geht
nicht alles in, den Becher hinein, bevor er überläuft. Sicher ist dies menschlich. Was erträgt man nicht alles in guten Glauben, bevor man sich entschließt, die Dinge einmal von einer anderen Seite zu
betrachten, bevor man wirklich Verdacht schöpft. Wie man in der Organisation an höchster Stelle mit einfachen Verkündigern umgeht, ist einfach unmöglich in einer Organisation Gottes. Und dennoch
geschieht es. Was ergibt sich daraus? Hat Jesus sich nicht gar um den Geringsten der Brüder
gekümmert?

Als dann zu dieser Erfahrung mit dem Zweigbüro und Zweidiener Franke die Erkenntnis und Einsicht kam, daß auch entscheidende "göttliche Wahrheiten" nicht von Gott sind, obwohl sie Freiheit und
Leben kosten können, wich in mir die Angst vor Harmagedon. Eins zieht das andere nach sich. Ich
begriff, wenn da ein Gott wirkt, dann muß dies anders sein, als durch Organisation und Lehre des WT zum Ausdruck kommt. Aber das war ein Erkenntnisprozeß.

Voller Angst noch vor einer Ungnade Gottes und in der Absicht mich trotz allem als würdig zu
erweisen, fuhr ich in die DDR zurück. Äußerlich gefaßt. Wie, es drinnen aussah, ging niemand etwas an. Die Gelegenheit sollte sich ergeben. Es kamen Wahlen in der DDR. Jetzt trat die Organisation an
mich heran mit der Forderung, ich könne nun zeigen, dar ich noch würdig bin. Ich übertraf mich selbst.
Die mich nach den Gründen meiner Wahlverweigerung fragten, ließ ich als vernichtungswürdiges
Teufelspack abfahren, daß der Organisation das Herz im Leibe hüpfte. Mir war alles egal, wenn sie
nur meinen Gemeinschaftsentzug rückgängig machte

Allzuleicht und allzuschnell erfolgte das daraufhin. Keine jahrelange Demut erreichte, was dieser
einmalige politische Akt bewirkte. Erst später dachte ich auch hierüber gründlicher nach. War es ein gewaltsames Verdrängen aller bedenklichen Erfahrungen mit der Organisation, daß ich mich nun in
den gefährlichsten illegalen Dienst stürzte? Geheimkurierdienst, Polizeibetrug, Grenzschmuggel -
"theokratische Kriegslist" nannte es die Organisation. Die Erkenntnis, daß auch hier bei genauem
Hinsehen niemandem göttliche Hilfe zuteil wird, darf hier mit letzter Konsequenz allein der trügerische Satz gilt, hilf dir selbst, dann hilft dir Gott,- man sollte das nicht für möglich halten! - wurde der Auftakt zur entscheidenden Auseinandersetzung im zwölften und letzten Jahr meiner Tätigkeit für die Wachtturmgesellschaft. -

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