Retuschiert und geschönt


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 23. Juli 2004 10:48:17:

Eine für die Zeugen Jehovas-Geschichte durchaus bedeutsame "Wachtturm"-Ausgabe ist die vom 15. 1. 1951 mit den darin enthaltenen Artikel:

"Untertan den Höheren Obrigkeiten".
Er wurde im Detail schon an anderer Stelle vorgestellt.
Man vergleiche dazu:
19512Gewalten

Das Timing dieser Veröffentlichung ist bemerkenswert. Belehrt er doch, dass die 1929/29 eingeführte Obrigkeitslehrvariante (bezugnehmend auf Römer 13), die maßgeblichen Anteil am Widerständigen Verhalten der Zeugen Jehovas, auch im Naziregime hatte, ungebrochen fortbestehen würde. Diese Bekräftigung ist deshalb schon so bemerkenswert, weil sie noch nach dem DDR-Verbot der Zeugen Jehovas erfolgte (und dieses wiederum war das Schlusslicht im Ostblock). Und auch das kann man sagen. Die Tinte der Gerichtsurteile über die Zeugen Jehovas in der DDR, mit ihren drastischen Strafen von bis zu lebenslänglich, war noch nicht einmal richtig trocken als dieser Artikel erschien.

Wie ist denn der Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels zu werten. War es wirklich vorrangig eine Reaktion auf die Geschehnisse im Ostblock? Meines Erachtens greift eine solche Sicht zu kurz.
Namentlich muss er als Folge des achttägigen New Yorker Kongresses der Zeugen Jehovas im August 1950 gewertet werden. Das war ein großes Spektakel. Da wurden auch Teilnehmer aus aller Herren Länder, soweit möglich, mit herangekarrt. Und wie bei solchen Anlässen üblich, auch etliche sogenannter Kongreßfreigaben neuer WTG-Publikationen vorgenommen.
Dem lag eine längere Planungsphase zugrunde, die sich auch nicht durch aktuell eingetretene Geschehnisse irritieren ließ. Beispielhaft die Resolution dieses Kongresses gegen den Kommunismus. Wer aus heutiger Sicht etwa meinen sollte, jene Resolution gegen den Kommunismus (das Verbot in Polen und anderen Ostblockstaaten war zu ihrem Zeitpunkt schon unter Dach und Fach). Wer also meinen würde, jene antikommunistische Resolution würde besonders auf diese Geschehnisse in den Ostblockstaaten abstellen, der irrt grundsätzlich.

Eindeutiger Tenor war USA-Bezug. Dort hatten die Falken die Zeugen Jehovas in die kommunistische Ecke gestellt, und mittels dieser Resolution nun, versucht man sich nach Kräften zu wehren. Die Geschehnisse im Ostblock spielen in ihrer Wertung nur eine äußerst untergeordnete Rolle.
Ähnlich muss meines Erachtens auch das Timing in Sachen des Artikels "Höhere Obrigkeiten" gewertet werden. Einer der Höhepunkte des 1950er Kongresses war die erstmalige Freigabe von Teilen der Neuen Welt Übersetzung (sogenanntes Neues Testament oder wie die Zeugen zu sagen belieben Christlich-Griechische Schriften). Damals nur in Englisch. Andere Sprachen folgten erst später. Und einer dieser von anderen Bibelübersetzungen sich unterscheidenden Aspekte war, die Wiedergab solcher Texte wie Römer 13.

Üblicherweise reden andere Bibelübersetzungen dabei von "Obrigkeiten" denen der Christ untertan sein müsse. Die NW-Übersetzung (Englisch) hingegen führt dazu den Begriff "Höhere Obrigkeiten" ein. Kaum eine andere Übersetzung macht ähnliches. Das ist nicht nur eine unterschiedliche Wortwahl. Das ist vor allem ein unterschiedliches Substanzverständnis.
Impliziert der Begriff "Obrigkeiten" in der Regel weltliche Behörden, Regenten usw. So will die NW-Übersetzung damit rüberbringen, "Nur Jehova und Christus nebst 'Stellvertreter'" könne damit gemeint sein. Das hatte Rutherford schon 1928/29 so gesagt. Und das meint man nun durch die eigene Übersetzung weiter fundamentieren zu sollen.

Auch diese 1950er englische NW-Übersetzung wurde später noch revidiert. So bezeichnet sich deren deutsche Ausgabe von 1971 als Wiedergabe der 1970 revidierten englischen NW-Übersetzung. Inzwischen hatte die WTG auch ihre Obrigkeitsthese im Jahre 1962 wieder gekippt. Diesem Umstand angepasst ist auch die heutige Wortwahl. So ist in der heutigen Version nur nebulös von "Obrigkeitlichen Gewalten" die Rede. Die Eindeutigkeit in der Festlegung auf eine bestimmte Interpretation entfällt somit. Heute, nicht jedoch in den Jahren vor 1962.

Die damalige "Siegesgewissheit" der Zeugen Jehovas, Römer 13 hätte keinerlei Bezug zu weltlichen Obrigkeiten, zeitigte ihre Früchte. Kombiniert mit der akuten Endzeiterwartung jener Tage, etwa dem Ausruf im "Wachtturm" des Jahres 1949:
"Ob nun ein dritter Weltkrieg komme oder nicht, ist doch eines ganz sicher, der universelle Kampf von Harmagedon ... steht dieser Welt bevor ...Unerschrocken trotzen Jehovas Zeugen dem populären Wunschtraum der Menschen, wonach dieser Tag nicht so nahe sei, und beharren auf der Verkündigung, dass sein Tag der Weltvernichtung nahe ist, ja näher als jene denken ... Der Tage dieser Welt werden jetzt nicht mehr viele sein, nein, jetzt nicht mehr."

Dem angepasst auch das 1949er Kongreßmotto "Es ist später als du denkst".
Die Kombination dieser beiden Elemente, einmal akute Naherwartung; zum anderen die "Siegesgewissheit", Römer 13 beziehe sich nur auf Jehova und Christus, bewirkte, dass etliche Zeugen Jehovas "förmlich aus dem Häuschen" gerieten. Da schwirrten dann schon mal Vokabeln durch die Luft, wie etwaigen Widerstand betreffend, die diesbezüglichen "Machinationen aufzustechen". Oder die Siegesgewissheit eines Zeugen Jehovas, bei der Entgegennahme seines Urteiles im ersten Zeugen Jehovas Schauprozess (mit Urteil lebenslänglich): "Meine Herren, sie meinen wohl ein Jahr!"

Es ist durchaus interessant, sich einen anderen, der damals zu lebenslänglich Verurteilten etwas näher anzusehen. Das ist aufgrund des Aktenbestandes in der Birthlerbehörde durchaus möglich. Der Betreffende ist auch deshalb besonders hervorhebenswert, weil er zwar lange Jahre seine Strafe absitzen musste, nur eben nicht lebenslänglich.

Das Verfahren der DDR-Behörden bei amnestierten Zeugen Jehovas war durchaus unterschiedlich. Einige besonders unbelehrbare Hardliner, so sie denn mal amnestiert wurden, schob man in den Westen ab. Aber eben nicht alle. Bei dem hier in Rede stehenden Werner Liebig war es dergestalt schon mal anders, dass seine Führungszeugnisse in der Haft, ihm in der Regel ein gutes Verhalten bescheinigten. Liebig wurde bei seiner Amnestie also in die DDR entlassen. Schon um 1950 mussten ihm die Behörden eine gewisse Wortgewandheit attestieren. Ein "Dummerle" war er mit Sicherheit nicht. Verblendet wohl, aber durchaus fähig, gegebenenfalls auch Führungsaufgaben übernehmen zu können.

Nun ist das mit den Führungsaufgaben so eine Sache. In der Regel werden da mehr Geführte als Führer gesucht. Manche "Karriere" kommt nur dadurch zustande, dass bestimmte äußere Umstände flankierend mit einwirken. Das war auch im Falle Liebig so. Da hatte sich der DDR-Staat 1961 mit seinem Mauerbau weiter abgeschottet. Auch die WTG hatte schon rechtzeitig durch ihre Verbindungen zu Regierungskreisen in den USA. Sei es nun durch direkten oder auch nur durch indirekten Kontakt zur CIA und ähnlichem, davon Wind bekommen. Sie hatte also schon rechtzeitig vor dem Eintritt des DDR-Mauerbaues Vorsorge dafür getragen, dass auch in diesem Falle ihre organisatorischen Strukturen intakt blieben.

Lediglich mit dem Unterschied, dass man eine gewisse Regionalisierung vorsah. Gemäss dieser Planung sollten die Zeugen Jehovas nicht mehr direkt von Wiesbaden angeleitet werden, was unter den obwaltenden Umständen nur sehr schwer möglich war. Sondern es war erstmals auch eine regionale Führungsoligarchie in der DDR vorgesehen.

Die aber wurde von der WTG bestimmt. Offenbar hatte Pohl und seine Mannschaft sich dabei für Liebig entschieden, der dann tatsächlich in das Amt als oberster Zeuge Jehovas in der DDR gehievt wurde. Konspirative Grundsätze wurden dabei weitgehend beachtet. Die CV notiert über Liebig beispielsweise, dass nur verschwindend wenige aus seiner engeren Umgebung wussten, welche tatsächliche Funktion er wahrnahm. Die CV kreidet Liebig auch an, dass er zu weiteren Tarnungszwecken, sogar an den "Wahlen" in der DDR teilnahm. Ein Umstand, der für andere Zeugen Jehovas mit Sicherheit als Sakrileg galt.

Zu Liebigs Instruktionen gehörte auch, die Verbindung mit der Zentrale auch durch mit unsichtbarer Geheimtinte und zusätzlich verschlüsselten Nachrichten, an Deckadressen adressierte Post aufrecht zu erhalten. Genau dieser Umstand sollte sich dann als sein Verhängnis erweisen. Dem DDR-Überwachungsstaat gelang es, einige solcher Mitteilungen abzufangen. Es gelang ihm auch, die gewählte Verschlüsselung zu knacken. Begünstigend kam dabei hinzu, dass seitens der WTG offenbar alte abgelegte CIA-Verschlüsselungen Verwendung fanden.

Man braucht nur daran zu erinnern, dass es auch den Engländern im zweiten Weltkrieg gelungen war, die von der Naziwehrmacht verwandte Verschlüsselung zu knacken. Zeitgenössisch wurde zwar über diesen Umstand Stillschweigen bewahrt, was aber nichts daran änderte, dass dies die Kampftechnik der westlichen Alliierten erheblich erleichterte.

Insofern braucht man keineswegs darüber überrascht zu sein, dass es auch der Stasi gelang diese WTG-Verschlüsselung zu knacken. Auch darüber wurde zeitgenössisch Stillschweigen gewahrt, was nichts daran änderte, dass dieser Sieg errungen worden war. Im Zuge der sich daran anschliessenden Ermittlungen konnte letztendlich Liebig enttarnt werden. Noch billigte ihm die Stasi eine Galgenfrist zu. Man ermittelte weiter, um die eigenen Erkenntnisse zu vervollständigen. Dann im November 1965 war es soweit. Die Stasi schlug im Falle Liebig und einiger anderer Zeugen Jehovas zu. Auch hierbei eine raffinierte Stasistrategie. Wie ein offenes Buch lagen vor ihr die Erkenntnisse über die Zeugen Jehovas. Dennoch wurde nicht alle "Kandidaten" in der Novemberaktion 1965 verhaftet. Bei einigen von ihnen, begnügte man sich mit Hausdurchsuchungen. Einer der damals nur mit einer Hausdurchsuchung davon kam, der Herr Horst Sch. in Berlin, berichtet selbst im "Wachtturm" darüber.

So wie auch im Falle "Hans Voss" nachweisbar, agierte die Stasi dabei nach dem Grundsatz "Trenne und herrsche". Bewusst wurden nicht alle "Kandidaten" inhaftiert. Man war sich im klaren darüber, die WTG-Organisation wird auch nach diesem "Enthauptungschlag" weiter bestehen. Man hatte dabei auch die Zielsetzung, der Fall "Hans Voss" belegt es, die für die Stasi interessanten "Kandidaten", möglichst in der Nachfolgeorganisation auf den Schlüsselpositionen zu sehen.

Liebig bekam solch eine "Chance" nicht. Der war schon seit 1950 für die Stasi "verbrannt". Der war für sie nur noch als "Exempel" interessant. Und so wurde er und einige andere, kurzerhand im Jahre 1966 erneut zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Sein Happyend sollte dergestalt dann noch eintreten, dass er einige Zeit später von der alten BRD freigekauft wurde.

Liebigs Stasiakte ist auch dahingehend interessant, wie denn so seine mentale Befindlichkeit um 1950 gewesen ist. Offenbar völlig im Einklang mit der damaligen in einer "Erwachet!"-Schlagzeile festgehaltenen Auffassung, die weltlichen Behörden könne man mehr oder weniger, und das prinzpiell, nur als "Gängster in Amt und Würden" bewerten. Weil man sich der Endzeitnaherwartung gewiss war, hatte man auch keine Skrupel es auf diesbezügliche Kontrontationen ankommen zu lassen. Im Falle Liebig ist dazu überliefert, dass auch eine von ihm getätigte abwertende Bemerkung akribisch festgehalten wurde.
In gekürzter Form (S. 179f.) zitiert sie auch der Herr D. in seinem Buch. Wobei es wiederum bemerkenswert ist, und auch symptomatisch für die WTG-Apologeten, wie da geschönt und retuschiert wird. So etwa wenn bei D. die Aussage über das Kaspertheater unterschlagen wird.

Nachstehend mal ein paar charakteristische Auszüge aus der Liebig-Akte:


 


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