Re: Spieglein an der Wand


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 02. Oktober 2001 15:25:39:

Als Antwort auf: Re: World Trade Center zerstört geschrieben von Drahbeck am 16. September 2001 12:16:01:

Am 20. März 1995 erwischte es die japanische Großstadt Tokio. Minutiös geplant wurde in fünf U-Bahn-Linien zur gleichen Zeit, das tödliche Nervengas Sarin freigesetzt. Die als diesbezügliche Werkzeuge fungierten, hatten allesamt einen religiösen Hintergrund.

"Terror für die Unsterblichkeit" und "Erlösungssekten proben den Weltuntergang", titelte der Amerikaner Robert Jay Lifton seinen diesbezüglichen (auch in deutsch) vorliegenden Bericht (ISBN 3-446-19879-2), der den Einzelheiten dieses Dramas nachgeht. Im allgemeinen weiß man, dass der diesbezüglich verantwortliche Sektengründer Shoko Asahara mit seiner Aum-Sekte, die Verantwortung dafür trug.

Was ist zu Asahara noch zu sagen? Aus meiner Sicht, dass er den Prototyp "vagabundierender Religiosität" repräsentiert. Einem zwar religiösen, aber eben doch nicht christlich habenden Hintergrund, verschlingt er auch solche Machwerke (die man wiederum dem Christentum anlasten muss), wie das des Nostradamus.
Auch das Bibelbuch "Offenbarung" und dort insbesondere der Harmagedonbegriff (im Buch als Armageddon zitiert), zieht ihn magisch an. Lifton arbeitet heraus, dass man Asahara als durchaus größenwahnsinnig ansprechen kann. Aber zugleich auch als einen dem Synkretismus nicht fremd ist. Und offenbar hatte er eine gewisse Basis für seine "religiösen" Theorien, die ja nicht mit dem althergebrachten, in allen Punkten korrespondierten, gefunden.

Einmal etabliert werden moderne Medien zur weiteren "Expansion" eingesetzt. So durch kommerzielle Rundfunksendungen, die pikanterweise von russischem Territorium in Richtung Japan ausgestrahlt wurden. Das waren also die ersten "Nach-Sowjetunion" "Errungenschaften" des vormaligen Sowjetstaates. Nicht nur das Gorbatschow den umstrittenen Mr. Moon in Audienz empfíng. Nein auch solche Neureligion wie die des Asahara, durfte sich (gegen klingende Münze versteht sich) der russischen Logistik bedienen.

Weshalb dieser Umweg. Fanden sich keine japanischen Radiostationen, die gleichfalls gegen Bezahlung die Aum-Botschaft auszusenden bereit waren? Man muss letzteres wohl annehmen. Mehr noch, neben der kleinen Zahl der Anhängerschaft des Asahara formierte sich in Japan zunehmend auch ein Protestpotential. Das waren vielfach solche die erkannten, dass da ein neuer, diesmal "religiöser" Diktator, die ihm Hörigen, mehr oder weniger auch physisch versklavt.

Es klang schon an. Lifton schätzt Asahara als hochgradig größenwahnsinnig ein. Und Größenwahnsinnige tun sich mit Kritik besonders schwer. Und seine Waffe gegen die Kritiker, unter anderem gegen Richter, die ein Verfahren gegen ihn durchführten, waren buchstäbliche Anschläge. Lifton schreibt:

"Zwischen 1990 und 1995 verübte die Sekte mindestens vierzehn unterschiedlich schwere chemische und biologische Anschläge."(S. 12)
Weiter: "Schätzungen zufolge begingen Aum-Mitglieder im Lauf der Jahre etwa achtzig Morde." (S. 46). Der Höhepunkt dabei war ohne Zweifel der eingangs genannte Tokioer U-Bahnanschlag.

Lifton arbeitet heraus, dass die Aums ihr "eigenes Opfer" wurden. Unfähig sich der Kritik zu stellen, kannten sie nur ein Ziel: Rache und nochmals Rache. Dabei eskalierte die Entwicklung. Nicht unbedingt Vorsatz des eingetretenen ist zu rekapitulieren. Sehr wohl aber "der Fluch der bösen Tat" die weitere gleicher oder schlimmerer Art nach sich zog.

Schon zuvor im Falle Jonestown des Jim Jones war ähnlich festzustellen (von Lifton auch beiläufig mit angesprochen).

Für die Öffentlichkeit hat primär die kriminelle Energie dieser Gruppe ihren Neuigkeitswert, von dem Journalisten zu leben pflegen. Lifton bemüht sich aber tiefer zu sehen und nicht nur an den Oberflächlichkeiten hängen zu bleiben. Eine Einschätzung in dieser Richtung ist auch sein Statement:

"Die Impulse, von denen Asahara und Aum getrieben wurden, sind keineswegs nur für ihn und seine Gruppe charakteristisch. Aum war vielmehr Teil einer lose untereinander verbundenen und sich immer weiter ausdehnenden weltweiten Subkultur, die apokalyptische Gewalt predigt - eine Gewalt, die in grandiosen Begriffen als Läuterung und Erneuerung der Menschheit durch die totale oder nahezu totale Zerstörung des Planeten verstanden wurde. Man kann diese Neigungen bei den verschiedensten Gruppen auf allen Kontinenten beobachten.
Bei ganz normalen Menschen verbreitet sich zunehmend das Gefühl, daß die Dinge so sehr aus den Fugen geraten sind, daß nur noch extreme Aktionen Tugend und Rechtschaffenheit in der Gesellschaft wiederherstellen können. Wenn die Welt als hassenswert und zugleich als etwas Totes oder Absterbendes empfunden wird, kann ein visionärer Guru sich solch absoluten Empfindungen bemächtigen." (S. 10)

Beachtlich, dass Lifton auch historische Vergleiche mit heranzieht. Ein solcher sei hier noch abschließend zitiert (S. 258):

"Auch wenn die Brüder des freien Geistes nicht das Ende erzwingen wollten, beeinflußten sie doch andere Gruppen, die gerade dies im Sinne hatten. Dazu gehörten die Taboriten, die Anfang des 15. Jahrhunderts in Böhmen entstanden. Sie hatten sich nach dem Berg Tabor benannt, auf dem Christus seine Wiederkunft verkündet hatte, und rekrutierten sich hauptsächlich aus den unteren Gesellschaftsschichten und aus den Reihen radikaler und ehemaliger Priester, die die Ausrottung des Bösen in Vorbereitung auf das Millenium predigten. Für die Taboriten war die Römische Kirche die Hure Babylon und der Papst der Antichrist. Beide würden in der letzten Schlacht untergehen.

Ursprünglich Pazifisten, die apostolische Armut predigten und gegen Ungerechtigkeit kämpften, machten sie es sich zur Aufgabe, die Erde zu reinigen und entwickelten eine extreme Gewaltbereitschaft. Eines ihrer Traktate enthielt 'mehr Blut als ein Teich Wasser.' Cohn erklärt: 'Die unabdingbare Verpflichtung der Auserwählten [war es,] im Namen des Herrn zu morden', denn 'jenseits der Vernichtung des Bösen erwartete sie das Tausendjährige Reich'. Als Priester und umherziehende Krieger überzogen die Taboriten das Land mit den 'Plagen der Rache', wie sie es nannten, um 'die große Reinigung' zu vollziehen, die die Wiederkunft Christi einleiten sollte. Danach würde er seine Herrschaft über eine Schar überlebender Heiliger 'strahlend wie die Sonne im Reich ihres Vaters ohne jeden Makel' antreten, die den 'gleichen Zustand der Unschuld wie die Engel' wiederherstellen würde.

Die Morde im Dienste des Tausendjährigen Reiches der Taboriten erinnern an Aum, wenn jene auch länger bestanden (etwa dreißig Jahre) und mehr umbrachten …"

Parsimony.1206


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