Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Nachstehend zwei sicherlich nicht uninteressantes Essay's bei einer Internet-Surftour mit "aufgegabelt". Einmal Selters betreffend und zum zweiten Brooklyn:

Missionsburg in Selters - die Zeugen Jehovas und ihre Deutschland-Zentrale

Thomas Hestermann für den Hessischen Rundfunk, Klaus Hofmeister

Vorgesehener Sendetermin 21.3.1999, Länge 26:05 min

Anmoderation

Selters im Taunus ist ein Ort besonderer Art. Weltweit bekannt als Lieferant von Tafelwasser, sprudeln in der hessischen Kleinstadt jetzt ganz andere Quellen. Die Zeugen Jehovas haben hier ihre Deutschlandzentrale und drucken ihre Zeitschriften "Erwachet" und "Wachtturm" in Millionenauflage. Thomas Hestermann hat sich in Selters umgesehen.

In Selters im Taunus sind die Ahornbäume entlang der Brunnenstraße akkurat gestutzt. Fachwerkgebäude reihen sich an Häuser mit herausgeputzten Kunststeinfassaden. Im Bürgermeisteramt, hinter einem Portal mit wuchtigen, weißen Säulen, residiert Bürgermeister Norbert Zabel. Er ist stolz auf seine 8000-Seelen-Gemeinde mit der weltberühmten Heilquelle, deren Namen sie trägt. Denn Selters heißt soviel wie Sauerborn, salzhaltige Quelle.

Eine ganz eigene Geschichte verknüpft den Ort im Taunus mit den Zeugen Jehovas. Sie errichteten hier 1979 ihre Deutschlandzentrale. Hoch über Selters, am Hang des sogenannten Steinfels, ragen langgestreckte, dunkelbraune Gebäude empor. Am Eingang wacht ein Pförtner. Hinter Maschendrahtzäunen leben und arbeiten mehr als 1200 Mitglieder der Religionsgemeinschaft.

Wer die Personenkontrolle am Ende der Zufahrtsstraße passiert hat, gelangt vorbei an sorgsam gepflegten Blumenbeeten und einem plätschernden Brunnen in eine der größten Druckereien Europas.

Millionenfach und in vielen Sprachen drucken die Zeugen Jehovas ihre Zeitschriften "Erwachet" und "Wachtturm" und versorgen ihre Gemeinden von Utrecht bis nach Wladiwostok mit Bibeln und Broschüren.

In einer Fabrikhalle rattern Maschinen, die große Papierbögen falzen und verkleben. Der Lärm ist ohrenbetäubend. An einer der Maschinen stellt Christopher B... eine Broschüre in russischer Sprache über die Evolution her. Diese Arbeit ist für den 34jährigen Zeugen Jehovas mehr als ein Job.

Vor allem in den früheren Ostblockstaaten boomt die Nachfrage nach den Broschüren mit den zartbunten Bildern und der Verheißung einer paradiesischen Endzeit. Schriften wie das im rotgoldenen Einband eingeschlagene Büchlein mit dem Titel "Was ist das Geheimnis des Familienglücks?" verlassen die hochmoderne Buchbinderei in Auflagen von mehreren hunderttausend Exemplaren.

Christopher B... lebt mit seiner Frau im Zentrum der Zeugen Jehovas in einem bescheidenen Apartment mit Vollpension und erhält das hier übliche monatliche Taschengeld von nicht einmal zweihundert Mark.

Die Tage der sogenannten Vollzeitdiener der Zeugen Jehovas sind von klösterlichem Gleichmaß: morgens um sieben Versammlung zum Gebet, acht Uhr Arbeitsbeginn, vor dem gemeinsamen Mittagessen ein Gebet um exakt 12.10 Uhr, 13 - 17 Uhr Arbeit, abends Zusammenkunft der Gemeinde oder privates Bibelstudium. Und am Wochenende gönnt sich Christopher B... keine Muße - dann zieht er von Haus zu Haus, um persönlich jene Broschüren zu verteilen, von denen er einige selbst hergestellt hat.

Täglich verlassen Lastwagen mit Broschüren und Büchern das Zentrum in Selters. Die Wagen sind graulackiert und tragen drei blaue Streifen, aber keinen Schriftzug. Man will nicht auffallen, erklärt Öffentlichkeitsreferent Thomas P....

O-Ton 5 Thomas P...

Inmitten von Äckern und einem Eichenwäldchen erstreckt sich das umzäunte Areal am Steinfels über viereinhalb Hektar. Am Rande des hessischen Selters haben die Zeugen Jehovas nicht nur ein hochmodernes Druckzentrum aufgebaut, sondern eine Art modernes Kloster, das sich fast komplett selbst versorgt. Dazu gehören Autowerkstätten, Tischlerei und Polsterei, Kantine und Friseursalon, Schuhmacherei und Arztpraxen, Verwaltungsgebäude und mehrstöckige Wohnhäuser. Alle 1200 festen Mitarbeiter und derzeit rund 200 Aushilfen sind Zeugen Jehovas.

In der Wäscherei, in einer langen Reihe von Heißmangelmaschinen und Wäschetischen, bügelt Iris H... Hemden im 20-Sekunden-Takt. Ihre Arbeit an der Hemdenpresse begreift sie als Teil einer Mission.

Die junge Frau hat sich für diese Arbeit beworben. Aber sie hätte sich auch eine andere Tätigkeit zuweisen lassen.

Im Saal nebenan befüllt und entlädt Joachim H... Waschmaschinen. Mannshohe Maschinen nehmen jeweils fast drei Zentner Bettwäsche auf, kleinere werden mit numerierten Wäschesäcken der Zentrumsbewohner gefüllt. Gepflegtes Auftreten ist so etwas wie ein Markenzeichen der Zeugen Jehovas.

Meist sind sie in biederem Chic gekleidet. Wenn sie hinunter in den Ort gehen, fallen sie den alteingesessenen Bewohnern von Selters sofort auf - zum Beispiel im Supermarkt, erklärt Marktleiter Jürgen Herzog.

Im Supermarkt besorgen sie sich nur wenig: Kekse, Zahnpasta und Shampoo, selten Alkohol und nie Zigaretten, denn Rauchen ist strikt verboten für Zeugen Jehovas. Bei den Kassiererinnen sind sie beliebt, weil sie auch in den längsten Warteschlangen unerschütterlich freundlich bleiben.

In den übrigen Läden und Kneipen von Selters treten sie nur selten auf. Die Mitarbeiter der Deutschlandzentrale der Zeugen Jehovas sind als Bürger der Gemeinde Selters gemeldet, und bleiben doch am Rande, beobachtet Bürgermeister Norbert Z...

Die Zeugen Jehovas beteiligen sich im katholisch geprägten Selters weder am Schützenfest noch am Erntedank, begehen weder Weihnachten noch Ostern, und auch Silvester feiern sie nicht.

Anwohner Walter J... bestellt einen Kartoffelacker am Steinfels in Sichtweite des Zentrums der Zeugen Jehovas. Er bringt ihnen freundliche Gleichgültigkeit entgegen.

Erstaunt beobachtete J..., daß sie 1979 ihre Gebäude mit viel Eigenarbeit errichtet und seitdem immer wieder mühevoll ausgebaut haben.

Die Zeugen Jehovas sind in Selters im Taunus unübersehbar, aber sie zeigen keinen Drang, den kleinen Ort zu beherrschen. Sie begreifen sich zwar als Missionare, nicht aber als Teil der Welt. Deswegen gehen sie nicht wählen - Grund dafür, daß die Gemeinde Selters mit einer Wahlbeteiligung von regelmäßig nur 40 Prozent bundesweit zu den Schlußlichtern zählt.

Bauernhof-Atmo

Die Zeugen Jehovas versorgen sich aus eigener Landwirtschaft, dem sogenannten Wachtturmhof. Dieser Hof liegt etwa zwei Kilometer vom Sitz der Zentrale entfernt an einer kastaniengesäumten Landstraße und liefert Frühstückseier, Schweine- und Rindfleisch für die Kantine. Landwirt Markus S... erläutert, worin er den Sinn seiner Tätigkeit sieht.

... und wenn die Zeugen Jehovas auf ihrem 65 Hektar großen Anwesen auch ganz ähnlich wirtschaften wie andere Bauern, heben sie sich doch ab. Von ihren Nachbarn sprechen sie als von "denen da draußen". Auch wenn sie, wie Markus Schwegler, selbst einmal zu denen da draußen gehört hatte.

Mit seinen weltlichen Nachbarn tauscht er Maschinen aus und nutzt gemeinsame Wege. Man hilft sich gegenseitig. Nebenan betreibt der katholische Bauer Christoph S... einen Milchhof.

Nur privat kommt man sich nicht näher. Landwirt S... lächelt darüber, daß die Wachtturmbauern nach einem festen Zeitplan arbeiten und jeden Morgen um sieben zum Beten ins Zentrum fahren. In Gesprächen miteinander bleiben religiöse Themen lieber ausgespart.

Die Vereinigung der Zeugen Jehovas wurde 1881 in Amerika von dem Pittsburger Kaufmann Charles Taze Russel gegründet, anfangs unter der Bezeichnung "ernste Bibelforscher". Ihre Zeitschrift "Der Wachtturm" gilt ihnen als das Sprachrohr Gottes. Die Zeugen Jehovas berufen sich auf die Bibel, aber sie benutzen ihre ganz eigene Übersetzung, der sie buchstabengetreu folgen. So verstehen sie etwa das biblische Verbot, menschliches Blut zu vergießen, auch als ein Verbot von lebensrettenden Bluttransfusionen.

Aus religiösen Gründen lehnen sie den Wehrdienst ab und beteiligen sich nicht an Wahlen. Ihren Geburtstag zu feiern, ist für Zeugen Jehovas tabu - Gott wünsche nicht, so glauben sie, daß sich ein Mensch in den Mittelpunkt stelle.

Die Zeugen Jehovas haben bereits mehrfach den Weltuntergang prophezeit, beispielsweise für das Jahr 1914. Dann wurde verkündet, 1975 sei das Ende der Menschheitsgeschichte erreicht. Später hieß es nur noch, in diesem Jahr sei ein - Zitat: "helleres Licht von Jehova Gott" - gekommen.

Die meisten Gemeindemitglieder verpflichten sich zum sogenannten Predigtdienst: Entweder stehen sie auf Straßen und Plätzen oder gehen von Tür zu Tür, um ihre Zeitschriften "Wachtturm" und "Erwachet" anzubieten.

In ihrer Zentrale im hessischen Selters leben die Zeugen Jehovas eng zusammen. Fast alle Beschäftigten teilen sich jeweils ein bescheidenes Apartment von rund 40 Quadratmetern entweder mit dem Ehepartner oder einem gleichgeschlechtlichen Mitbewohner. Kinder leben hier nicht - wird eine Frau schwanger, muß sie das Zentrum verlassen.

Wie in einem Kloster sollen sich die Mitarbeiter ganz ihrer Tätigkeit widmen. Ein Privatleben abseits der Glaubensgemeinschaft gibt es nicht. Darin sieht Öffentlichkeitsreferent Thomas P... kein Manko.

O-Ton 20 Thomas P...

Vielmehr bewahre das Leben und Arbeiten in einer ganz eigenen Welt die Zeugen Jehovas vor sündiger Verlockung.

Es ist genau festgelegt, was in diesem sogenannten Bethel, einem Gotteshaus, erlaubt und was verboten ist. Unerwünscht ist beispielsweise sektenkritische Literatur. Wer raucht, wird aus der Gemeinschaft verstoßen. Und Kontakt zum anderen Geschlecht wird kritisch beäugt, soweit es nicht der eigene Ehepartner ist. So heißt es in einer unter Verschluß gehaltenen und nicht für die Öffentlichkeit gedachten Dienstanweisung unter dem Titel "In Einheit beisammenwohnen":

Wer gegen das interne Regelwerk verstößt, wird gemeldet, oder besser noch: Er bezichtigt sich selbst.

Als Missetat aber gilt bereits, wenn einer an den strengen Glaubenssätzen der Zeugen Jehovas zweifelt. Dies mußte einer erfahren, der mehr als vier Jahrzehnte lang Zeuge Jehovas war und als sogenannter Kreisaufseher mehrere Gemeinden führte - weil er Repressalien gegenüber seiner Familie fürchtet, soll sein Name nicht genannt werden. Nennen wir ihn Manfred Kruse. Nachdem er Kritik an der Führung der Zeugen Jehovas geäußert hatte, wurde er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen - einer Gemeinschaft, die, wie er sagt, durch Furcht und Kontrolle zusammengehalten wird.

Manfred K... erlebte, wie Glaubensbrüder, die ihm viele Jahre lang herzlich zugetan gewesen waren, ihn plötzlich nicht mehr kannten, ihn nicht mehr grüßten aus einem einzigen Grund: weil er gewagt hatte, Kritik zu äußern.

Gesprächsatmo

Ein Abend im katholischen Pfarrheim in Obertiefenbach nahe Selters. Zwei Dutzend reifere Damen und Herren sitzen unter dem Bild des Bischofs zusammen. Das katholische Männerwerk hat zu einer Informationsveranstaltung über Sekten und religiöse Sondergemeinschaften eingeladen. Oder, wie es versehentlich in einer Ankündigung hieß, "Sündergemeinschaften".

Doch Alarmstimmung kommt in der Runde nicht auf. Denn die Mitgliederzahl der Zeugen Jehovas stagniert aller Missionsarbeit zum Trotz bei bundesweit rund 192.000. Auch in dem Gebiet zwischen Taunus und Westerwald rings um ihre Deutschlandzentrale stoßen die erbaulichen Schriften vom angeblich wahren christlichen Glauben auf geringes Interesse, berichtet ein Besucher des Informationsabends.

In einer Art Gentleman's Agreement haben sich die Zeugen Jehovas gegenüber der Gemeinde Selters verpflichtet, in der Region um ihr Zentrum nicht stärker zu missionieren als andernorts. Schließlich hat die Vereinigung ein weitaus größeres Gebiet im Visier. Referent Meinolf K... vom katholischen Bezirksamt warnt seine Zuhörer davor, die Konkurrenz im Kampf um das Seelenheil zu unterschätzen.

Kritik trifft aus dieser katholischen Runde die Gemeinde Selters, da sie sich auf millionenschwere Tauschgeschäfte eingelassen habe.

Tatsächlich gibt es einen Rahmenvertrag zwischen der hessischen Gemeinde Selters und den Zeugen Jehovas. Jene durften 1990 ihr Zentrum um 17.000 Quadratmeter Fläche erweitern und zahlten dafür drei Millionen Mark ins Gemeindesäckel. Für Bürgermeister Norbert Z... ein faires Geschäft, um die Organisation an den Kosten von Wasserversorgung, Feuerwehr und Straßenbau zu beteiligen.

Zwar hat auch Bürgermeister Z... als CDU-Mann und praktizierender Katholik seine Vorbehalte gegenüber der abgeschiedenen Gemeinschaft am Rande von Selters. Aber die Aufgaben eines Bürgermeisters seien nun mal andere als die eines Sektenbeauftragten.

Die Zeugen Jehovas verstehen sich als Konkurrenz zu den großen Kirchen. Sie sehen sich als die echten Christen, Zitat: "Satan der Teufel ist der Vater jeder falschen Religion." Doch mit dieser Kampfansage gehen sie nicht an die Öffentlichkeit, erläutert der Vizepräsident der Zeugen Jehovas in Deutschland, Willi Karl Pohl.

Die weltweit tätige Organisation mit Hauptquartier in New York ist darauf bedacht, sich der jeweiligen Situation eines Landes weitestmöglich anzupassen, auch wenn dies anmutet wie Mimikry.

In Deutschland lehnt sie jede Beteiligung an Wahlen ab und beruft sich dabei auf die Bibel. Doch in Frankreich gehen Zeugen Jehovas wählen, aus taktischen Gründen. Im Nachbarland geben sie sich neuerdings sogar als kulturelle Vereinigung aus - um Steuern zu sparen. Denn in Frankreich genießen die Kirchen keine Steuerprivilegien wie bei uns. Gegenüber kultureller Arbeit allerdings ist der Fiskus gnädig, und davon wollen die Zeugen Jehovas im Nachbarland profitieren.

In Deutschland dagegen streiten die Zeugen Jehovas für ihre Anerkennung als Kirche, und das heißt als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Das Bundesverwaltungsgericht verweigerte bislang diesen Status - vor allem, weil die Zeugen Jehovas hierzulande nicht wählen gehen und sich damit dem Staat gegenüber illoyal verhielten. Dagegen hat Vizepräsident Pohl Verfassungsbeschwerde eingereicht.

Wenn nicht auch dieser Grundsatz eines Tages über den Haufen geworfen wird. Denn die Leitung der Zeugen Jehovas hat schon manche Prinzipien plötzlich geändert. Anders als vor ein paar Jahren untersagt sie ihren Mitgliedern heute nicht mehr, statt des Wehrdienstes einen zivilen Ersatzdienst zu leisten.

Ebenso lockerte sie das Verbot von Bluttransfusionen und gestattet nun die Übertragung von Blutbestandteilen - zu spät für jene, die starben, weil sie ihrem Glauben zuliebe auf lebensrettende Transfusionen verzichtet hatten.

Manfred Kruse, der jahrzehntelang im mittleren Management bei den Zeugen Jehovas tätig war und wegen seiner Kritik ausgeschlosen wurde, geriet über solche Kehrtwendungen in Zweifel.

Auch eine zentrale Botschaft der Zeugen Jehovas gerät ins Wanken, der Glaube an eine nahe und glückliche Endzeit.

Kruse wurde wegen seiner Kritik von den Zeugen Jehovas ausgeschlossen - und fühlt sich heute befreit.

 

Auf der Brücke von der alten zur neuen Welt
Ich entschloss mich, die Zentren der Zeugen Jehovas in Brooklyn zu besuchen, als unser Touristenschiff auf den East River einbog. Von links gleissen die Aluminium- und Glasfassaden der neuen Wolkenkratzer in der Morgensonne. Vor uns rückt Brooklynbridge, ein da und dort schon ein wenig rostiges Denkmal alter Brückenbaukunst langsam näher. Und rechts am Brooklynufer über neuen, mittelhochen Büro- und Wohnbauten lese ich in riesigen Lettern: "Watchtower". Wachtturm. Kann ich mir erlauben, so nahe an der Weltzentrale der Zeugen auf einem Boot vorbeizutuckern, mit den kurzen, aus dem Lautsprecher dröhnenden fast nichtssagenden Erläuterungen des Touristenführers als einzigem Kommentar? Ich muss zu meinem eigenen Kommentar finden über das, was sich hinter diesem grossen Wachtturmbau verbirgt. Zwei Tage später suche ich mir selber durch die Strassenschluchten von Downtown Manhattan den Fussgängereinstieg zur Brooklynbridge. Einmal auf der Brücke angelangt - Autos werden hundertmal deutlicher auf die Brücke eingewiesen als Fussgänger - suche ich langsam den langen Weg von der alten in die neue Welt nachzuempfinden. Zur alten Welt, die, wenn die Zeugen recht gehabt hätten, in den letzten hundertdreissig Jahren schon ein halbes Dutzend Mal sicher untergegangen wäre, gehört Wallstreet, das Börsenquartier in meinem Rücken. Heute ist der Himmel bedeckt. Wenn sich keine Sonne in den Wolkenkratzerfassaden spiegelt, wirken diese dunkelgrauen, schwarzen, dunkelblauen und weissgrau-gestreiften Türme wirklich wie Vorboten einer Zeit naher dunkler Ereignisse, wie die ersten Vorboten des kommenden Harmagedon. (Harmagedon ist in der Deutung der Zeugen Jehovas die Endzeitkatastrophen, in der alles Widergöttliche vernichtet wird.) Vor mir, auf dem Brooklyn-Ufer der Brücke erwarten mich die hellen, freundlichen Bauten der "Neue-Welt"-Gesellschaft. Hier, wo 3000 Zeugen für Gotteslohn und für seine Wahrheit in brüderlicher Gemeinschaft miteinander leben, arbeiten, ist - so meine ich die Zeugen verstehen zu müssen - ansatzweise schon das verwirklicht, was nach Harmagedon die Welt erfüllen wird: Ein Leben völlig im Einklang mit Gottes Willen, eine Welt ohne Grenzen, ohne Staat, ohne Krieg, und dannzumal auch eine Welt ohne Krankheit und Tod.
Bilder der neuen Welt
Am Brooklynende der Brücke angelangt, stelle ich fest, dass mehrere Gebäude sich durch Anschrift als Wachtturm-Zentrum zu erkennen geben. Ich wende mich zuerst nach links, etwas landeinwärts, zu vier hellen Industriebauten und einem neuen riesigen Hochhaus, wahrscheinlich als Wohnbau konzipiert. In diesen Industriebauten vermute ich die Druckereien der Gesellschaft. Der Wachturm gilt in seinen fast unüberschaubar zahlreichen Übersetzungen als eine der auflagenstärksten Zeitschriften der Welt. Den ebenfalls neuen Büro- und Wohnkomplex gleich am Meer direkt gegenüber Downtown Manhattan - wahrscheinlich der Sitz der leitenden Körperschaft, den eigentlichen "Vatikanspalast" der Zeugen Jehovas, werde ich anschliessend besuchen. (Die wichtigsten Gremien pflegen auch bei religiösen Gemeinschaften an der schönsten Wohnlage zu residieren). Beim Haupteingang der sog. Factory (Druckerei) angelangt, werde ich freundlichst begrüsst und auf den demnächst beginnenden Besucherrundgang hingewiesen. Hinter dem grosser Pult des Empfangschefs begrüssen mich wunderbare Bilder der kommenden, der neuen Welt. Da ist nichts mehr dunkelblau und schwarz und grau. In dieser neuen Welt finden sich keine Strassenschluchten und keine rostenden Brücken mehr. Da blühen zahllose Blumen in Wiesen und Gärten. Fruchtäume mit Früchten überladen. (Seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, haben Menschen Ähnliches nie mehr gesehen.) Einzelne Häuser im Landhausstil in riesigen Parkanlagen beherbergen die Geretteten. Raubtiere, inzwischen auf Rohkost umgestiegen, spielen mit Kindern. Und Menschen verschiedenster Hautfarbe und verschiedenster Lebensalter strahlen einander an. Wahrscheinlich gibt es für die Erlösten nichts Schöneres als das Zusammensein in völliger Harmonie mit anderen Erlösten und mit allen Lebewesen dieser neuen Welt.
Vorgezeichnete Wege
Die Anweisungen des Besucherdienstes reisst mich harsch aus meinen Neue-Welt-Träumen. Die vielen wartenden Besucherinnen und Besucher - zum grössten Teil wahrscheinlich Amerikaner unterschiedlichster Hautfarbe - werden in einzelne Rundganggruppen eingeteilt. In unserer Gruppe stellen wir uns gegenseitig vor. Aus Jamaica, aus dem Süden der USA und aus den mittleren Westen stammen die meine Gruppenkameraden. Ich bin der einzige Nichtamerikaner und wahrscheinlich auch der einzige, der nicht zu den Zeugen Jehovas gehört. Auf dem langen Weg durch die vielen Druckereisäle sollen wir uns - dies die dringende Empfehlung - nur zwischen den gelben Markierungen, die überall auf den Boden gezeichnet sind, bewegen. Das dient der Unfallverhütung und entspricht vielleicht auch - so vermute ich - der Zeugen-Jehovas-Mentalität. Der gute Zeuge fühlt sich wohl auf relativ engen, aber klar vorgezeichneten Pfaden. Dass er im Unterschied zu den meisten Weltmenschen genau weiss, was erlaubt und was verboten ist, erlebt er als Erleichterung. Wo andere lange hin und her erwägen und ihr Gewissen befragen, folgt er dem in gelben Strichen klar vorgezeichneten Weg.
Begeisterung mit Ausnahmen
In jeder Abteilung der Factory begrüsst uns eine Person aus der Arbeitsgruppe in einer Herzlichkeit, wie sie sonst nur unter sich wohlgesinnten Verwandten üblich ist. Besucher und Factorymitarbeiter sprechen sich gegenseitig auch als "Bruder" und "Schwester" an. Weil ich in den immer wieder aufbrechenden Gesprächen über dies und das diese Anreden nicht gebrauche, werde ich sofort als Nicht-Zeuge erkannt. Die meisten Factory-Arbeiter - vornehmlich junge Männer - demonstrieren mit ihrer Herzlichkeit, dass es für sie nichts Schöneres gebe, als hier im "Bethel" (so nennen die Zeugen jene Zentren, in denen sie gemeinsam leben und arbeiten) zu arbeiten. Nur in jener Abteilung der Buchbinderei, in der junge Leute die bereits schon mit Goldschnitt verzierten Luxus-Ausgaben der wichtigsten Zeugen-Jehovas-Schriften auf ihre Tauglichkeit überprüfen, sitzt die ganze Gruppe in Lehnstühlen und demonstriert unverhüllt ihren Frust. Sie müssen den ganzen Tag nur neue Goldschnittbände durchblättern und hoffnungslos verklebte Bände zur weiteren Bearbeitung zur Seite legen. Bei aller Begeisterung für den Dienst an der Gemeinschaft, wo junge Leute sich unterfordert wissen, weicht der Schwung schon nach Tagen dem augenfälligen Überdruss.
Das sog. gemeinsame Bibelstudium
Im grossen Speisesaal des Zentrums werden wir auf die morgendlichen Bibelgespräche hingewiesen. Jeden Morgen vor dem Essen würden hier die gegen 3000 Bethelmitglieder gemeinsam die Bibel studieren. Haben die Zeugen Jehovas nun zu offener Diskussion über Bibelstellen gefunden, nachdem sie bisher nur nachgebetet haben, was der Präsident oder die leitende Körperschaft ihnen als sog. biblische Botschaft vorlegten? Echte offene Bibelgespräche würden mit der Zeit die ganze Organisation verändern. Aber meine leise Hoffnung kam zu früh. Auf Nachfrage hin erklärt die Gruppenleiterin, das sog. Bibelstudium werde via Fernsehkabel und Monitoren vom Bürohaus der leitenden Körperschaft aus hier in diesen Saal und alle anderen Speisesäle des Bethel in Brooklyn übertragen. Bibelstudium ist nach wie vor ein Nachbeten dessen, was an sog. Bibelauslegung von der leitenden Körperschaft aus vorgebetet wird.
Zeugen-Jehovas-Kunst
Nach dem Besuch der Factory lasse ich mich im "Office-Building", dem Sitz der leitenden Körperschaft, nochmals in eine Besuchergruppe einteilen. Ich werde nun zuerst allerdings über meine Gründe für diesen Besuch gefragt. Weil ich erwähne, dass ich religiöse Gemeinschaften studiere und auch über meine Besuche und über diese Gemeinschaften schreibe, werde ich nach der zweiten Besichtigungstour ins Büro für Öffentlichkeitsarbeit gebeten. Vorerst aber studiere ich zusammen mit älteren Ehepaaren aus dem mittleren Westen Zeugen-Jehovas-Kunst. Die in einer Art Fotorealismus gemalten biblischen Szenen werden von den älteren Ehepaaren sofort wiedererkannt. (Die biblische Szene wurde von Schauspielern nachgestellt, dann fotografiert. Das Dia dient später als Vorlage für das nun entstehende Gemälde). Meine Begleitung weiss sofort, wo und wann welches Gemälde seinerzeit in welcher Zeugen-Jehovas-Publikation erschienen ist. Gespräche über den Sinn einzelner Bilder kann ich allerdings nur mit meinen Gruppenkameraden führen. Der junge, sehr zurückhaltende und übergewissenhafte Tourleiter liest alle seine Erklärungen vom Blatt ab und scheut persönliche Kommentare zu irgendwelchen nicht vorbesprochenen Fragen.
Einseitige Geschichtsbetrachtung
Der Gang durch den unteren Teil des Office-Buildings wird für uns auch zu einem besonderen Gang durch die Geschichte der Zeugen. Diaapparate, welche die Zeugen verwendeten, sich bewegende Bilder (eine Art Vorform des Kinos), die sie benutzten, als andere noch keine Medien in ihrer Mission einsetzten, zeigen uns, wie menschennahe die Zeugen seit gut 100 Jahren ihre Botschaft verbreitet haben. Eines fehlt allerdings völlig in diesem Rückblick in die Vergangenheit: Nirgends werden die vielen Daten für das kommende Ende erwähnt, welche die Zeugen aus biblischen und anderen Angaben errechnet hatten, welche wahre Erwartungswellen ausgelöst haben und die im Nachhinein immer umgedeutet werden mussten. Niemand spricht gerne von seinen grössten Enttäuschungen.
Änderungen in der Blut-Transfusions-Politik?
Schwierig wird unser Gespräch, als unsere Besichtigungstour zu jener Abteilung kommt, die sich mit medizinischen Fragen beschäftigt und die Ärzten erklärt, wie sie, ohne Blut oder Blutderivate zu benutzen, den Zeugen und Zeuginnen die nötige medizinische Unterstützung geben können. Ich weise darauf hin, dass sich seit kurzem in Sachen Bluttransfusion doch eine neue Politik anzeige. Die älteren Ehepaare aus dem mittleren Westen protestieren lautstark, und der Gruppenleiter pflichtet ihnen bei: "Nein, nein, es bleibt alles wie es war. Keine Transfusion." Später, in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit stelle ich diese Frage noch einmal. Mein erster Gesprächspartner erklärt mir die Neuerung: Wenn ein Zeuge oder eine Zeugin in Lebensgefahr einer Bluttransfusion zugestimmt hat, wurde er oder sie bislang fast automatisch ausgeschlossen. Heute kann das schuldige Mitglied seine Zustimmung zur Transfusion bereuen und sich entsprechendem das Fehlverhalten ausgleichendem Nachunterricht unterziehen. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, erfolgt kein Ausschluss. Ich meine, dass dies doch eine deutliche Neuerung gegenüber der früheren Transfusions-Politik sei. Der Gesprächspartner will mir soeben zustimmen, als zwei Damen den Raum betreten, offensichtlich seine Vorgesetzten. Sie lassen sich unser Gespräch wiederholen und verneinen wie vorher die Ehepaare aus dem mittleren Westen, dass sich irgendetwas in der Haltung der Zeugen gegenüber der Bluttransfusion geändert habe. Ich verstehe beide Perspektiven. De facto hat eine gewisse Aufweichung des alten rigiden Standpunktes stattgefunden. Aber diese Aufweichung darf und soll nur den direkt Betroffenen gegenüber angeboten werden. Den alten Mitgliedern der Zeugen Jehovas gegenüber, die vielleicht schon Familienangehörige verloren haben, weil sie diese Transfusion verweigert haben, oder die erlebten, wie Verwandte und Bekannte rigoros ausgeschlossen worden waren, weil sie einer Transfusion zugestimmt haben, darf und will man die Aufweichung der alten Regeln nicht zugestehen. Es wäre doch schrecklich, wenn die alten Mitglieder heute erfahren müssten, dass die schrecklichen Opfer, die sie damals auf sich genommen haben, heute so nicht mehr nötig sind.
"Die Wahrheit hilft"
Am Schluss unseres Rundganges erwähnt ein Ehepaar, dass dies für sie ein besonderer Tag sei. Zum einen hätten sie heute nach vielen Jahren wieder einmal den Bethel in Brooklyn besuchen können. Und zum anderen sei heute ihr 40. Hochzeitstag. "Und alle 40 Jahre glücklich?" entwischt es mir, neben dem Pärchen stehend. "Fast immer", sagt die Frau. "Das ist heute keine Selbstverständlichkeit", erwäge ich. "Ja wissen Sie. Für uns war es einfacher als für andere. Die Wahrheit hilft." - "Die Wahrheit hilft". Diese Worte klingen noch in mir nach, als ich allein den Weg zur nächsten U-Bahn-Station suche, um nach Manhattan in die alte Welt der dunkeln Wolkenkratzer zurückzukehren. Zwei Menschen, durch unzählige Missionsdienste vor Haustüren und zahllose Bibelbetrachtungen in den Versammlungen in einem gemeinsamen Dienst für Gott miteinander verbunden, sind nicht nur eine Schicksalsgemeinschaft, sondern ein eigentlicher Kampfbund. Sie kämpfen mitten im Dunkel dieser zerstrittenen Welt für das, was kommt, für die helle, lichte Welt, die Gott sich für die Gläubigen ausgedacht hat. Kein Wunder, dass sie beieinander bleiben, auch wenn die ewige Harmonie auch in den Ehen der Zeugen Jehovas in dieser Welt noch keine dauernd gegenwärtige Wirklichkeit ist.
Georg Schmid, 2000

Relinfo Besuch in Brooklyn

 

Zum Weiterlesen zum Thema: "Kloster" Selters

Forumsarchiv276

Darin auch die wertenden Sätze:

"Das Bethel ist kein Kloster.  ...

Es gibt dort keine Besinnung.
Keine besondere Gottnähe oder ein erwähnenswertes Studium des heiligen Buches ...

Das Versagen alles Materiellen sucht man dort vergeblich.
Das Hamstern billigen Nippes gepaart mit dem schamlosen Ausbeuten seitens der amerikanischen Mutterorganisation – das Bethel ist billig ...

Das Zwischenmenschliche ist dort nicht anders als überall sonst.
Sauberkeit und die Fassade des Friedens wird teuer mit Bigotterie und Scheinheiligkeit bezahlt. ...

Ein kaltes Paradies in dem die Mitglieder ihren Alltag dadurch erleichtern, dass sie anderen mangelnden Glauben und fehlendes Geistiggesinntsein unterstellen.
Brüderliche Liebe die man an und aus schaltet.

Gedankenhygiene statt der Suche nach Gott.
Paragrafenreiten statt der Weiterentwicklung des eigenen Gewissens. ...
 

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