Joachim Kahl: Das Elend des Christentums

Es war einige Zeit nicht mehr im aktuellen Buchhandelsangebot, dass 1968 (zuletzt 1993) zuerst erschienene Buch "Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott." Einige darin vorkommende Theologennamen, etwa der von Bultmann und seiner Konkurrenten, besitzen heute nicht mehr die Aussagekraft wie vielleicht vor einigen Jahrzehnten. Auch sagt der Autor von sich selbst, dass er seine Ausführungen sehr wohl als Polemik versteht.

Gleichwohl; die von ihm offerierte Fragestellung beschäftigt noch heute manchen, im bejahenden oder auch verneinenden Sinne. Einige Denkanstöße aus der 1968er Auflage, daraus in der Form a u s g e w ä h l t e r Passagen, nachstehend:

Hinweis: Inzwischen ist eine Neuauflage wieder Verfügbar.

Siehe dazu auch: hpd.de/node/19114

Die Notwendigkeit, Christentum und Theologie gleichwohl aufs neue zu kritisieren, ergibt sich aus der simplen Tatsache, daß sie fortbestehen - fortbestehen trotz aller Verwüstungen, die (einige) Autoren in ihrem Gehege anrichteten. Der Strahl der Vernunft muß erneut gegen die heutigen Repräsentanten der Religion gerichtet werden, die vom universellen Trend zum Vergessen profitieren.

Zum Persönlichen: Nicht ohne inneres Engagement ("Glauben") ging ich (Kahl) über acht Jahre regelmäßig und freiwillig kirchlichen Aktivitäten nach; leitete Jugendgruppen, half im Kindergottesdienst, hielt etliche Predigten.

Zwar beteiligen sich die meisten Menschen nicht mehr aktiv und regelmäßig am kirchlichen Betrieb, treten aber andererseits nicht aus der Kirche aus und erhoffen immer noch bewußt oder unbewußt etwas vom Christentum. Dieser Erwartungshorizont reicht vom Wunsch, gewisse Lebensdaten festlich gerahmt zu sehen - der Pfarrer als ehrwürdiger Zeremoniemeister -, bis zum Verlangen, das Abendland vor dem Kommunismus zu bewahren -, die Kirche als Gralshüterin von Sitte und Ordnung.

Wer immer bisher das Christentum kritisierte, mußte den Vorwurf hören, er streite gegen eine Karikatur. Fahrlässig oder böswillig entstellt, einseitig, vorurteilsvoll sei sein Bild von ihm. Das wahre Christentum sei ganz anders und werde von der Kritik nicht betroffen.

Ganz im Widerspruch zu vielen Theologen, die - verständlicherweise - die Kirchengeschichte verharmlosen und ihr jede Beweiskraft absprechen wollen, ist an der Erkenntnis Franz Overbecks festzuhalten, daß die Geschichte des Christentums die beste Schule des Atheismus sei.

Auch Paulus nimmt die Sklaverei nicht nur als selbstverständlich hin, sondern bestätigt sie ausdrücklich.

Eine wirkliche, leibliche Abschaffung der Sklaverei hat die alte Kirche nie ins Auge gefaßt.

Dank ständiger Eroberungskriege und eines ausgeklügelten Steuersystems hatte sich das Papsttum im ausgehenden Mittelalter zur reichsten Finanzmacht Europas hochgeräubert.

Und heute? Die Komplizenschaft zwischen Christentum und Kapitalismus hat sich strukturell nicht grundlegend verändert. Notdürftig verbindet die kirchliche Diakonie mit der linken Hand einige Wunden, die sie mit der rechten schlagen hilft, indem sie eine falsche Weltordnung ideologisch stützt. Während brave Gemeindeschwestern gutgläubig Spenden für die Aktion "Brot für die Welt" einsammeln, können derweil US-Großkonzerne, deren Managment durchweg aus Christen besteht, unangefochten ihre neokolonialistische Verelendungspolitik in der Dritten Welt betreiben - gedeckt durch kirchentreue Regierungschefs im Weißen Haus.

Zwar schlagen sich in Lateinamerika inzwischen Teile des katholischen Klerus auf die Seite der ausgepowerten Massen. Doch handelt es sich hier der Motivation nach in erster Linie nicht um eine politische Solidarisierung mit dem sozialen Emanzipationsprozeß der "Verdammten dieser Erde", sondern um den opportunistischen Versuch, die Menschen in letzter Stunde der angestammten katholischen Religion zu erhalten. Wenn schon ein sozialistischer Umsturz nicht zu vermeiden sein sollte, dann will die Kirche wenigstens auf der Seite der siegreichen Mächte stehen und eine atheistische Orientierung der neuen Gesellschaft möglichst verhindern.

Die Spielart des endzeitlichen Ausblick, die wie Opium wirkt, hat Paulus im Römerbrief klassisch formuliert (8, 18): "Denn ich halte dafür, daß die Leiden der jetzigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll." Imaginäre jenseitige Güter sollen über jetzige reale Schmerzen und Versagungen hinwegtrösten. Indem das Verlangen nach Glück und Gerechtigkeit in den Himmel verlegt wird, ist das Fortbestehen von Unglück und Ungerechtigkeit auf Erden gerechtfertigt.

Den unüberbietbaren Gipfel neutestamentlichen Antisemitismus stellt das Johannesevangelium dar, an dem sich besonders deutlich ablesen läßt, daß jede christliche Theologie notwendig ihren Juden, die mythische Projektion des absoluten Außenfeindes braucht.

Epoche machten die acht Predigten des Kirchenvaters Johannes Chrysostomus ("Goldmund") im Jahre 387. "Hier ist das Arsenal aller Waffen gegen die Juden bis heute versammelt. Der Jude ist ein: fleischlicher Jude, ein schlüpfriger geiler Jude, ein dämonischer Jude, ein geldgieriger Jude, ein verfluchter Jude. Der Jude ist ein Mörder der Propheten, ein Mörder Christi, ein Gottesmörder. Der Jude verehrt den Teufel. Die Juden sind Trunkenbolde, Hurer, Verbrecher."

Grauenvolle Massenverfolgungen brachen über die Juden herein, im Zusammenhang mit zwei großen Ereignissen. Einmal entfesselte der Kreuzzugsfanatismus den Haß gegen die "Feinde Christi" im eigenen Land. Eine weitere Serie blutiger Pogrome überkam die Verfemten während des Schwarzen Todes. Die große europäische Pestepidemie (1345 bis 1349), die Millionen hinraffte, ließ nach einem Sündenbock fahnden, da Krankheit als Strafe Gottes galt. Wer konnte das Unheil verschuldet haben? Nur die Juden. Sie hatten die Brunnen vergiftet. So umfassend wurden die Juden ausgerottet, daß die Katastrophe dieser Jahre mit den faschistischen Pogromen unter Hitler vergleichbar ist.

Martin Luther, der in jungen Jahren noch auf eine Bekehrung der Juden gehofft hatte, entpuppte sich in seinem Alter als rabiater Judenhetzer. Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein. 1543 forderte er in seiner Schrift "Von den Juden und ihren Lügen": "Erstlich, daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch ein Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich … Zum andern, daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre … Zum dritten, daß man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten … Zum vierten, daß man ihren Rabbinern bei Leib und Seele verbiete, hinfort zu lehren … Gott zu loben, zu danken, zu beten, zu lehren bei Verlust Leibes und Lebens … Und nochmals, daß ihnen verboten werde, den Namen Gottes vor unsern Ohren zu nennen …, der Juden Maul soll nicht wert gehalten werden bei uns Christen, daß es Gott sollte vor unsern Ohren nennen, sondern, wer es von den Juden hört, daß ers der Oberkeit anzeige oder mit Saudreck auf ihn werfe … Zum fünften, daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe … Zum sechsten, daß man ihnen den Wucher verbiete und nehmen ihnen alle Barschaft und Kleinode an Silber und Gold, und lege es beiseite zu verwahren … Zum siebten, daß man den jungen, starken Juden und Jüdinnen in die Hände gebe Flegel, Axt, Spaten … und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiße der Nasen …"

Nicht zu Unrecht berief sich Julius Streicher, der Herausgeber der Nazizeitung "Der Stürmer", vor dem Internationalen Militärgerichtshof 1946 auf den Reformator.

Adolf Hitler, Hauptexponent des deutschen Faschismus, war katholischer Christ. Er trat nie aus der Kirche aus und wurde auch nie exkommuniziert. Sein Buch "Mein Kampf" erschien nie auf dem "Index librorum prohibitorum", auf den bis vor kurzem alle Schriften gesetzt wurden, die in Glaubens- und Sittenfragen der katholischen Lehre widersprechen. Offensichtlich widersprachen Hitlers politische Anschauungen nicht der katholischen Sittenlehre. Am 26. April 1933 führte er ein Gespräch mit Bischof Berning und Monsignore Steinmann. "Thema: gemeinsamer Kampf gegen Liberalismus, Sozialismus, Bolschewismus. Sehr freundlicher Ton dieses Gespräches. Hitler erkärte dabei auch, daß er gegen die Juden nichts tue als das, was die Kirche in 1500 Jahren gegen sie getan habe. Kein Widerspruch der Prälaten der Kirche! Hitler bekennt sich hier als Katholik und sagt Auseinandersetzungen mit Polen stehen bevor, wir brauchen gehorsame Soldaten - deshalb religiöse Schulen!" Von Anfang an bis zum mißglückten Endsieg 1945 stützten die Kirchen in allen wesentlichen Fragen Hitler ideologisch. Ihre Proteste im sogenannten Kirchenkampf, der heute heroisiert wird, bezogen sich mit einer Ausnahme, dem Euthanasieprogramm - ausschließlich auf Hitlers Religionspolitik, die die Privilegien der Kirchen beschnitt.

Der erste einzelne Christ, der von anderen Christen wegen theologischer Differenzen hingerichtet wurde, war der Spanier Priscillian. Auf Initiative katholischer Bischöfe wurde er 385 in Trier mit dem Schwert enthauptet, weil er die Trinitätslehre und die Auferstehung leugnete.

Die Inquisition, die im päpstlichen Kirchenstaat bis zu dessen Auflösung (1870) bestand, brachte jahrhundertelang über unzählige Menschen unsägliches Grauen. Zahlen besagen wenig und sind auch schwer zu errechnen, da in die Inquisitionsarchive des Vatikans niemand Einblick erhält.

Der Höhepunkt der Religionskriege war mit dem dreißigjährigen Krieg erreicht, der ganz Europa in Mitleidenschaft zog. Als 1648 das sinnlose Morden ein Ende gesetzt werden sollte, protestierten die weitaus meisten lutherischen Theologen gegen den geplanten Frieden, worin die Kalvinisten als gleichberechtigt anerkannt werden sollten. Fast wäre es ihnen geglückt, den Abschluß zu vereiteln. Auch Papst Innozenz X. wetterte in einer besonderen Bulle "Zelo domus dei" gegen den Friedensschluß.

Das Neue Testament ist das Produkt neurotischer Spießer. Die menschliche Sexualität gilt nicht als Quelle von Lust, sondern als Quelle von Angst, nicht als Medium der Liebe, sondern als Medium der Sünde. Alles Naturhafte und Körperliche wird - teils offen, teils versteckt - geächtet. Triebunterdrückung führt notwendigerweise zur Verdrängung und fixiert sich aggressiv auf Sündenböcke.

In der alten Kirche galt nahezu einhellig die sexuelle Enthaltsamkeit höher als die Ehe. Wer es vermochte, sollte streng enthaltsam leben. Auch wo die Ehe nicht radikal verworfen wurde - wie bei Marcion und den Montanisten -, wurde sie notgedrungen den Schwachen als etwas nur Erlaubtes gestattet. Als ideale Ehe priesen die Theologen die "geistliche Ehe", in der Mann und Frau enthaltsam zusammenlebten (wie angeblich Josef und Maria, daher auch Josefsehe genannt).

Im 3. Jahrhundert bildete sich langsam der Brauch heraus, daß Bischöfe, Presbyter und Diakone nach der Ordination keine Ehe mehr eingehen durften, weil der Koitus unfähig zum Kultus mache. Die Synode von Elvira in Spanien (um 310) verlangte von verheirateten Altardienern Verzicht auf jeden ehelichen Verkehr. Aus einer ähnlichen magischen Angst vor allem Sexuellen entsprang auch das Verbot für menstruierende Frauen, am Gottesdienst teilzunehmen.

In diesem Klima mußte zwangsläufig irgendwann Ehelosigkeit des Klerus endgültig durchgesetzt werden. Die kluniazensische Reformbewegung im 11. Jahrhundert kämpfte denn auch vor allem gegen die Priesterehe. Papst Gregor VII. erklärte 1074 auf der Fastensynode das Zölibat für verbindlich. Priester, die sich von ihren Frauen nicht trennen wollten, wurden vom Volk angepöbelt, das von papsttreuen Mönchen dazu aufgewiegelt worden war.

Der grausige Höhepunkt dieser Frauenfeindseligkeit war der christliche Hexenwahn, der vom 13. bis ins 18. Jahrhundert einigen Millionen Frauen Folter und Verbrennung einbrachte. Im Hexenwahn verquickten sich im wesentlichen zwei Elemente: ungezügelte Aggressivität gegen die Frauen und der massive Glaube an Teufel und Dämonen.

Kalvin, einer der größten Sadisten, die je auf dieser Erde lebten, befürwortete Massenhinrichtungen, um die Hexen auszurotten ("extirper telle race"), und hielt die barbarische Genfer Justiz für zu milde.

Während des Dreißigjährigen Krieges erreichte der Wahn seinen Höhepunkt. Insgesamt raffte er in protestantischen Territorien mehr Opfer hin als in katholischen.

Die letzten Hexen wurden in Europa 1782 in der Schweiz verbrannt, 1836 bei Danzig ertränkt (Hexenprobe).

Aus der Geschichte der christlichen Leibfeindschaft in der Neuzeit, die sich nicht grundlegend von den bisher vorgeführten Ausbrüchen unterscheidet, sei nur als einziges modellhaftes Beispiel das Kastratensängertum im Vatikan genannt. Bis etwa 1920 sangen in der Sixtinischen Kapelle Männer, die eigens des Kirchengesanges wegen kastriert waren! Zweiunddreißig Päpste (beginnend mit Sixtus V., gestorben 1590, ließen jahrhundertelang Menschen verstümmeln, da Eunuchen die göttlichen Loblieder süßer sängen.

Wenn der Göttinger Professor für Neues Testament Hans Conzelmann vor einiger Zeit einmal bitter sagte, die christliche Gemeinde lebe davon, daß die Ergebnisse historisch-kritischer Bibelwissenschaft in ihr weitgehend unbekannt seien: wieviel mehr gilt dies von dem "Mischmasch von Irrtum und Gewalt", als den Goethe die Kirchengeschichte charakterisierte.

Die raffinierteste Form der Apologetik besteht darin, die Greuel der Inquisition, des Hexenwahns offen und schonungslos einzugestehen, zugleich aber zu bestreiten, daß diejenigen, die die Verbrechen begingen, Christen waren. Charakteristisch für dieses Verfahren ist die ausführliche und wohlwollende Besprechung, die der … Züricher Professor für Kirchengeschichte Fritz Blanke über Karlheinz Deschners Buch "Abermals krähte der Hahn" veröffentlichte.

Die Verfallsidee mit einem angenommenen idealen Urchristentum hat eine lange Vorgeschichte und ist auch bei denkenden Nichtchristen (Overbeck, Nietzsche, heute: Karlheinz Deschner) verbreitet. Nichtsdestoweniger ist sie falsch. Denn alles, was die Christen im Laufe der Jahrhunderte an Verbrechen verübten, ist in allen Partien des Neuen Testamentes bereits keimhaft angelegt, so daß eher eine Eskalationstheorie statt einer Verfallstheorie den historischen Sachverhalt schreiben könnte.

Weisen also Linksprotestanten und Linkskatholiken autoritäres Gehabe als unchristlich ab, so kann ich dem nicht widersprechen, da es ihnen freisteht, was sie als christlich ansehen wollen. Nur sollten sie sich bewußt sein, daß sie sich nicht auf das Neue Testament stützen können und sie sollten sich gründlicher als bisher fragen, weshalb die überwiegende Mehrzahl der Christen sich stets mit jeder Form von Nationalismus, Antisemitismus, Faschismus, Antikommunismus verbünden, ja identifizieren konnte. Das beruht nicht auf Zufall, sondern hier waltet eine offenkundige Sachlogik …

Bis auf weiteres setze ich daher im folgenden - mit der überwiegenden Mehrzahl der kritischen Bibelwissenschaftler - die historische Existenz eines Juden Jesus aus Nazareth voraus. Immerhin möchte ich mich bereits hier von Bultmann abgrenzen, der die Probleme verniedlicht, wenn er schreibt: "Zwar ist der Zweifel, ob Jesus wirklich existiert hat, unbegründet und keines Wortes der Widerlegung wert. Daß er als Urheber hinter der geschichtlichen Bewegung steht, deren erstes greifbares Stadium die älteste palästinensische Gemeinde darstellt, ist völlig deutlich."

Jede Frage nach dem historischen Jesus muß von der entscheidenden Tatsache ausgehen, daß Jesus selber keinerlei schriftliche Aufzeichnung hinterlassen hat. Schlechthin alles, was wir über ihn wissen können, kann nur aus den Berichten seiner Anhänger, der Evangelien, stammen. Als letzte Stufe ist stets nur die christliche Gemeinde, nie Jesus selbst zu erreichen.

Die ältesten Christen rechneten nicht mit einer jahrtausendelangen Kirchengeschichte, sondern erwarteten jeden Tag das große Wunder, den mythischen Umschlag, die kosmische Katastrophe, mit der Gott und der wiederkehrende Christus dieser bösen Welt ein Ende bereiten sollten. Die schriftliche Fixierung der Jesus-Tradition setzt voraus, daß diese Hoffnung sich als Täuschung entpuppte, und kündigt insofern das verstärkte Arrangement der Christen mit der bestehenden Welt an.

Eine Grundregel geisteswissenschaftlicher Arbeit, die ein erstsemestriger Student im Promenier lernt, besagt: Kontrolliere die Zitate in der Sekundärliteratur an Hand der Quellen! Die Erfahrung zeigt, daß selbst Wissenschaftler in der Studierstube am Schreibtisch oftmals nicht richtig aus anderen Büchern abschreiben können, die Anschauungen anderer Autoren fahrlässig oder boshaft entstellen, karikieren oder gar nicht selten ins Gegenteil verkehren. Wenn dies für Wissenschaftler gilt, die sich um Genauigkeit und Zuverlässigkeit bemühen: wieviel mehr Mus man es voraussetzen bei Menschen, die in einem Klima primitiven Aberglaubens lebten, die größtenteils Analphabeten waren und die kein Interesse an wirklichen historischen Sachverhalt kannten! Und dies angesichts einer mündlichen Überlieferung über mehrere Jahrzehnte hinweg.

Nach Bultmann wurde Jesus von den Römern "wie andere Aufrührer als messianischer Prophet" hingerichtet, weil sie als "Außenstehende" den "eigentlich unpolitischen Charakter" seines Auftretens nicht erkannten. "Historisch gesprochen", war sein Kreuz "ein sinnloses Schicksal", das "tragische Ende eines edlen Menschen". Für einige Außenseiter … war Jesus nicht nur ein religiöser Prophet, sondern zugleich ein politischer Revoluzzer. Diese Vermutung, die bereits im 18. Jahrhundert Hermann Samuel Reimarus vertrat, stützt sich auf Worte Jesu wie "Wer kein Schwert hat, verkaufe seinen Mantel und kaufe eins" (Luk. 22,36) oder auf die Geschichte von der gewaltsamen Tempelreinigung (Mark. 11,15 ff.).

Statt weiter im Sumpf der Vermutungen zu waten, sollten wir endlich zugeben: Wir wissen es nicht.

Von Anfang an wütete in der Christenheit Streit in den zentralen dogmatischen Fragen, wie vor allem das bedeutende Werk "Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum" des eben zitierten Forschers Walter Bauer zeigt. Daneben trug der Schweizer systematische Theologe und Dogmengeschichtler Martin Werner mit seinem Buch "Díe Entstehung des christlichen Dogmas" dazu bei, die traditionelle Sicht des kirchengeschichtlichen Verlaufes zu erschüttern.

Die peinlichste Tatsache, auf die das Buch Walter Bauers hinweist besteht darin, daß das Jerusalemer Urchristentum - die historische Basis jeder Form von Christentum - vom später siegreichen hellenistischen Heidenchristentum sehr bald als häretisch verfemt wurde. Bereits Paulus schleuderte gegen den konservativen Flügel der Jerusalemer den Bannfluch, weil sie die Heidenmission ablehnten. Später wurde dieser Tatbestand verschleiert. Die Judenchristen wurden als "Ebioniten" in die Ketzerkataloge einsortiert und verteufelt: Sie seien vom wahren Evangelium abgefallen. Obwohl sie nur das ursprünglichste bewahrten.

Das Konzil von Nicäa (325) entschied gegen Arius (und damit gegen weite Passagen des Neuen Testamentes), daß Christus Gott wesensgleich sei. In Konstantinopel (381) erlangte der Heilige Geist die gleiche Würde. 451 wurde in Chalcedon die sogenannte Zweinaturenlehre festgelegt, die besagt, daß Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch zugleich sei - unvermischt und ungetrennt. Diese Dogmen konnten die bestehenden religiösen Differenzen, in die machtpolitische und kulturelle Faktoren mit eingingen, wesensgemäß nicht beenden. Im Gegenteil, oft traten die Unterschiede noch deutlicher hervor und wurden noch leidenschaftlicher bekämpft. Im Extremfall bildeten sich neue kirchliche Organisationen: selbstständige Nationalkirchen.

31 Jahre lang (1378-1415) residierten ein Papst in Rom und ein Papst in Avignon. Beide Stellvertreter Christi auf Erden belegten sich und die ihnen anhangenden Gebiete gegenseitig mit schauerlichen Bannflüchen und stürzten die unwissenden Massen in peinvolle Angst um ihr ewiges Heil. Die Synode von Pisa (1409), die das Schisma beenden sollte, setzte beide Päpste ab und wählte einen neuen. Da die beiden anderen Oberhirten sich weigerten, auf ihre Würde zu verzichten, waren die Kinder Gottes auf einmal mit drei Päpsten gesegnet.

Mit den Christologien Rudolf Bultmanns und seiner Schüler ging Walter Künneth hart ins Gericht. Zu Bultmann liest man bei ihm: "Zu bedauern ist, daß in diesem philosophischen Unternehmen noch immer an dem Begriffe 'Christologie' festgehalten wird, obwohl der sachliche Inhalt damit nichts mehr zu tun hat."

Dem Ketzerfürsten Braun wird bescheinigt: "Der Glaube an Jesus hat sich in nichts aufgelöst. Die übrigbleibenden humanitären Reste haben das Spezificum Christianum hinter sich gelassen und werden zu einer kümmerlichen Dokumentation einer anthropozentrischen Moralität." Einer der durch Künneth verlästerten Christologen, Gerhard Ebeling, hat ebenso scharf zurückgeschlagen. In Künneths "Pamphlet", randvoll gefüllt mit "pseudo-orthodoxem Pathos", werde der christliche Glaube "in ein weltanschauliches Prinzip verfälscht und - welch überraschende Umkehrung der Fronten! - der Grund des Glaubens in Enthusiasmus aufgelöst".

Im Unterschied zur liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts, die weitgehend eine Professorenangelegenhit blieb, sind Bultmanns Gedanken einem breiteren Publikum bekannt geworden …

Das Entmythologisierungsprogramm lebt von der Überzeugung: Christlicher Glaube und wissenschaftliches Denken schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie können so miteinander koexistieren, daß beide zu ihrem vollen Recht gelangen. Die berühmte Frage Schleiermachers: "Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen: Das Christentum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben?" wird entschieden verneint.

Wie Bultmann selber bestätigt, liegt seinem Denken dieses doppelte Motiv zugrunde. Einmal möchte er mit dem modernen wissenschaftlichen Denken Schritt halten, das "selbstverständlich", die biblische Mythologie zerstört. Zum andern leitet ihn das apologetisch-theologische Interesse, das Evangelium auch heute glaubwürdig und verständlich verkündigen zu können. Beides ist so miteinander verquickt, daß die Kritik an der Mythologie in den Dienst der Evangeliumsverkündigung selbst gestellt ist. "Indem die Entmythologisierung durch ihre Kritik am Weltbild der Bibel den Anstoß beseitigt, den dieses für den modernen Menschen notwendig bietet, legt sie gerade den echten Anstoß frei, der dem modernen wie jedem Menschen in der Bibel begegnet."

Wie einst Franz Overbeck und heute Ernst Käsemann … eindringlich gezeigt haben, durchzieht die Erwartung des nahen Weltendes das gesamte paulinische Denken. Alle wesentlichen theologischen Begriffe sind durch sie bestimmt. Auch die hastigen Missionsreisen sind einzig apokalyptisch motiviert: Bevor der Herr wiederkommt, noch schnell möglichst viele Menschen für das Evangelium gewinnen.

Das abschließende Fazit kann nur lauten: Die Theologie der exitentialen und der symbolischen Bibelinterpretation ist ein altersschwaches Unternehmen. Das eigentliche Skandalöse, das meinen Zorn erregt, ist dies: Mit derlei apologetischen Tricks fristen Teile der akademischen Theologie nun bereits seit mehr als zweihundert Jahren ihr Dasein. Seit Beginn der Aufklärung haben immer wieder Theologen rationales Denken und biblische Mythologie auszugleichen versucht. So gestand beispielsweise Schleiermacher von sich - in seinen "Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern", die er 1799 anonym veröffentlichte -, daß schon früh "Gott und Unsterblichkeit dem zweifelnden Auge verschwanden". Statt redlich die Konsequenz zu ziehen, half er sich mit der üblichen Sophistik und wurde zum Kirchenvater des 19. Jahrhunderts.

Die Theologen, die wirklich kompromißlos historisch dachten, schworen dem Glauben ab, wie David Friedrich Strauß, die Gebrüder Edgar und Bruno Bauer und Franz Overbeck. Die übrigen Theologen, die dem Metier treu blieben, waren gar nicht so kompromißlos ehrlich, sondern lasen ihre eigenen Ideale in die Bibel hinein, wie Albert Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung erwies.

Über die fünfzehn Bücher des Porphyrius "Gegen die Christen" urteilte der protestantische Theologe Adolf von Harnack … "Das Werk ist vielleicht die reichste und gründlichste Schrift, die jemals gegen das Christentum geschrieben worden ist. … Dort, wohin Porphyrius den Streit zwischen religionsphilosophischer Wissenschaft und Christentum versetzt hat, liegt er noch heute; auch heute noch ist Porpyrius nicht widerlegt."

Einige Proben sollen dies veranschaulichen. Die neuzeitliche Bibelkritik zeigt, daß angebliche Weissagungen sich meist als "vaticinia ex eventu" erweisen, als "Weissagungen", die erst nach dem Ereignis formuliert und dann einer Autorität der Vergangenheit in den Mund gelegt wurden, um das eingetretene Geschehen (göttlich) zu legitimieren. Diesen Sachverhalt deckte Porphyrius auf, als er am Beispiel des alttestamentlichen Buches Daniel erkannte, die Propheten hätten "nichts Zukünftiges gesagt, sondern Vergangenes erzählt - non … futara dixisse, sed narraese praeterita.

In der Tat gibt das Buch Daniel vor, von einem Seher Daniel im babylonischen Exil des 6. vorchristlichen Jahrhunderts abgefaßt zu sein und die Geschichte der Weltreiche zu prophezeien. In Wirklichkeit wurde es um 165 vor Christus zur Zeit der Makkabäerkämpfe verfaßt und wollte die verfolgten Gläubigen damit trösten, daß ihr Märtyrium als geweissagt vorgetäuscht wurde.

Was Porphyrius über das Neue Testament schrieb, ist nicht weniger aktuell. Die Evangelisten nannte er "Erfinder, nicht Erzähler" der Begebenheiten. (Heute nennt die Formgeschichte denselben Sachverhalt "Gemeindebildung"). Mit Scharfblick erkannte er die Ungereimtheiten in den verschiedenen Kindheitserzählungen bei Matthäus und Lukas. Die zahlreichen Widersprüche in den vier Passionsberichten bewiesen ihm deren legendären Charakter. Die Verfasser hätten alles nur erraten, aus dem Alten Testament erschlossen. Wenn sie aber nicht einmal den Tod Jesu wahrheitsgemäß erzählen konnten, so seien auch ihre sonstigen Berichte unzuverlässig. Aus den unauflöslichen Widersprüchen der Auferstehungsgeschichte folgert er, daß die Christen auch hier "Mythen erzählen".

Kann es verwundern, daß die alte Kirche diese hochexplosiven Werke rasch verschwinden ließ, sobald sie zur Staatskirche erhoben wurde? Die letzten Exemplare der Bücher des Porphyrius wurden 448 unter Theodosius II. auf dem Scheiterhaufen verbrannt und zwar mitsamt ihren christlichen "Wiederlegungen": weil in ihnen zu viele Zitate enthalten waren!

Webseite Joachim Kahl

Aus dem Spektrum der Religionskritik

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