Von Herrn Hirch nicht zitiert

H., der ja offenbar einige der im Bundesarchiv vorhandenen Materialien bezüglich Gebhard (unter anderem) eingesehen und teilweise zitiert hat. Besagtem Herrn H. ist offenbar aber ein Protokoll-Vermerk des Herrn E. Stephan, datiert vom 11. 7. 1988 entgangen (oder aber eher wahrscheinlich). Er hält ihn nicht für erwähnenswert, dieweil er nicht so recht in sein Konzept hinein zu passen scheint.

So sei denn jener Protokollvermerk (Bundesarchiv DO 4 - 1180) an dieser Stelle dokumentiert.

DO 4 - 1180

27. 6. 88

Gesprächsaufforderung von E. Stephan

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HA Berlin, den 11. Juli 1988 Sta - or

Gesprächsvermerk

1. Im Auftrag des Hauptabteilungsleiters, Genossen P. Heinrich, führte ich am Donnerstag, dem 07. Juli 1988, ein Gespräch mit Herrn Manfred Gebhard, (es folgen die Adressdaten). Das Gespräch fand in unserer Dienststelle statt. Es begann 15.30 Uhr und endete 17.00. Die Gesprächsatmosphäre war ruhig und sachlich. Ich äußerte mich betreffend der Erwartungen der Dienststelle des Staatssekretärs für Kirchenfragen Herrn Gebhard gegenüber nachdrücklich, vermied jedoch bewußt jegliche Konfrontation. Gebhard hatte sich auf das Gespräch vorbereitet.

2. Zu Beginn des Gesprächs versuchte Gebhard unter Verwendung diverser Unterlagen die Nähe der „Zeugen Jehovas" (ZJ) zum Spektrum der Linken politischen Kräfte in der Weimarer Republik bzw. im Nazideutschland zu illustrieren. Bei diesem Material handelt es sich um Selbststudien, die Gebhard aus bürgerlichen und faschistischen Zeitungen der 20er und 30er Jahre angefertigt hat, sowie um Karikaturen, die die Situation der damaligen „Ernsten Bibelforscher" aus der Sicht bürgerlicher und antisemitischer Presse widerspiegeln. Der größere Teil dieser Materialien war fotokopiert.

Anschließend legte Gebhard seine Sicht der Situation der ZJ nach der Zerschlagung des Faschismus und nach Gründung der DDR dar.

In diesem Zusammenhang las er mir aus seinem Schreiben an die Dienststelle des Staatssekretärs für Kirchenfragen vom 03. Juli 1988 vor:

„Zeugen Jehovas militante Antikommunisten?" …

Gebhard unterstrich nachdrücklich, daß die ZJ zu keinem Zeitpunkt aus „eigener Initiative heraus" gegen die staatliche Ordnung in der DDR vorgegangen wären.

In jeden Falle, so Gebhard, hätten die ZJ nur auf die konventaiven Haltungen staatlicher Organe reagiert. Desweiteren meinte Gebhard, sei es unrealistisch, wenn der Staat darauf warten würde, daß die ZJ ihre unpolitische Haltung aufgeben würden.

3. Von mir nach Arbeitsthematik und dem Stand seiner Studien befragt, äußerte Gebhard mir gegenüber, daß er an einer „umfassenden Geschichte der ZJ" arbeite. Gegenwärtig befinde er sich im Stadium der Materialsammlung. Einen provisorischen Grundriß seiner Arbeit könne er noch nicht geben. Schwerpunkte seiner Arbeit, so Gebhard, würde u. a. der Antikommunismus der ZJ, sowie deren Endzeitvorstellungen sein. Demzufolge könne die von der Dienststelle angebotene Hilfe durch einen Verlag auch nicht in Betracht kommen.

Im Verlauf meiner Bemerkungen machte ich Gebhard auf die Notwendigkeit und Möglichkeit von Konsultationen mit Fachwissenschaftlern aufmerksam, deren Arbeitsbereich seine Studien tangieren würden. In diesem Punkt bot ich Gebhard die Hilfe unserer Dienststelle an.

Gebhard äußerte sich dazu nicht. In diesem Zusammenhang wich er einer Antwort aus.

4. Ich wies Gebhard darauf hin, wie unsere Dienststelle seinen Status und sein Studienanliegen betrachtet. Nach wie vor hat sich nichts daran geändert, daß Gebhard als Privatperson, ohne Auftrag einer wissenschaftlichen Einrichtung, Entwicklung der ZJ einer wissenschaftlichen Bearbeitung unterzieht.

Gebhard will auch einige Auffassungen des Urania-Buches einer differenzierteren Betrachtung unterziehen. Dieses Vorhaben, stellte ich Gebhard gegenüber fest, respektiere unsere Dienststelle nach wie vor.

Unverständlich sind daher die politischen Forderungen Gebhards, die er ausgehend von seinem Studienanliegen hinsichtlich von Ursachen und Perspektiven des gesetzlichen Verbots des Wirkens der Organisation der ZJ in der DDR erhebe.

Keiner wissenschaftlichen Einrichtung und keinem Wissenschaftler, sagte ich zu Gebhard, ist es gestattet, ausgehend von getätigten Studien (die in seinem Falle noch keinerlei Zäsur aufweisen) Forderungen an das Gesetzeswerk unseres Landes zu richten. Das ist Sache der Volksvertretung in der DDR, in der die Werktätigen ihre Angelegenheiten gesetzlich regeln, und, wenn erforderlich, entsprechend den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen neu zu fassen.

Unverständlich ist auch, sagte ich zu Gebhard, daß dieser in seinem Briefwechsel mit der Dienststelle unseren sozialistischen Staat mit dem NS-Staat, unsere staatlichen Organe mit dem faschistischen Repressionsapparat identifiziert. Damit werden alle antifaschistischen und demokratischen Inhalte geleugnet, die gerade unsere sozialistische Gesellschaft auszeichnen.

Zum anderen drängt sich meinerseits die Frage auf, wie im Zusammenhang mit einem solchen Unverständnis gesellschaftlicher Prozesse in der DDR eine wissenschaftliche Arbeit möglich sein soll. In diesem Zusammenhang fragte ich Gebhard, welchen Raum Betrachtungen über gesellschaftliche Entwicklungsprozesse in der DDR in seinen Studien einnehmen. Aus meiner Sicht sei dies unerläßlich. Dazu, so empfahl ich Gebhard, müßte sich mit den Dokumenten der SED und anderen beschäftigt werden, die Auskünfte über die Entwicklungen in den verschiedenen Etappen geben.

5. Im weiteren wies ich Gebhard darauf hin, daß sich aus dem Wesen unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung, respektive aus den Interessen der Werktätigen, die Aufrechterhaltung des gesetzlichen Verbotes des Wirkens der Organisation der ZJ ergibt.

Die weitere Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, so erläuterte ich Gebhard, die weitere Ausprägung der Vorzüge des Sozialismus in der DDR und damit die Entwicklung seiner Attraktivität vollzieht sich wesentlich über die demokratische Mitgestaltung aller Werktätigen bei der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten in den verschiedensten Bereichen. Hier integriert sich auch die Tätigkeit der christlichen Bürger unseres Landes. Das sogenannte „Unpolitischsein" der Mitglieder der von den USA aus gelenkten ZJ-Organisation entschlüssle sich bei näherer Betrachtung, im Zusammenhang mit den konkreten gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen keinesfalls als „unpolitisches Sein" der betreffenden Bürger.

Unter den gegebenen sozialistischen Verhältnissen befördert das Wirken der WTG objektiv die Herauslösung der Werktätigen aus der Teilnahme an der Regelung ihrer gesellschaftlichen Angelegenheiten. damit wird gegen grundlegende Interessen unserer Bürger verstoßen und der Sozialismus seiner wesentlichen Entwicklungsbedingung beraubt. Einen solchen Verstoß gegen seine Interessen kann unser sozialistischer Staat (auch künftig) nicht zulassen.

Gebhard stimmte der Logik meiner Überlegungen zu, verwies aber zugleich auf die Entwicklung in Polen.

Ich antwortete, daß jeder sozialistische Land in Verantwortung vor seinem Volk die staatliche Politik, auch im Bereich Kirchenfragen, ausarbeite und gesetzlich fixiere. Dabei werden die Erfahrungen der befreundeten Staaten aufmerksam studiert, ohne jedoch kopiert zu werden.

Gebhard antwortete, daß die Vergleiche in seinen Briefen, die mein Unverständnis hervorgerufen haben, in der Regel äußere Anlässe hatten, die ihn dann in der bekannten Art und Weise reagieren lassen haben. Seine diesbezüglichen Schreiben, so unterstrich Gebhard wiederholt mir gegenüber, stellen kein Spiegelbild dessen dar, was er in seiner späteren Ausarbeitung darzulegen beabsichtige.

Ich äußerte ihm gegenüber nachdrücklich, daß für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen unserem staatlichen Organ und ihm, in erster Linie der Briefwechsel und die darin fixierten Inhalte relevant sind. Für die Zukunft, forderte ich ihn auf, soll er sich der heftigen, unberechtigten und unsachlichen Ausfälle gegenüber unserem Staat und der Arbeit seiner Organe enthalten.

Unser staatliches Organ wird im Rahmen seiner Möglichkeiten und Kompetenzen helfen, so wie das im Gespräch vom 28. 10. 1985 durch Herrn Heinrich und jetzt erneut angedeutet worden ist. Voraussetzung dafür ist die Herstellung und Erhaltung eines sachlichen Verhältnisses von Gebhard zur staatlichen Einrichtung.

6. Gebhard informierte mich darüber, daß sich im Zusammenhang mit der Einsicht von Literatur (einschließlich A(bteilung für) S(pezielle) F(orschungsliteratur) ) seine Arbeitsmöglichkeiten in der Staatsbibliothek wesentlich verbessert hätten. Ein ähnliches erhofft er sich auch in der Deutschen Bücherei in Leipzig. Seine Anfrage an die Benutzung der Bibliothek des IPW wurden bisher negativ beantwortet (zu letzterem siehe auch „Geschichte der Zeugen Jehovas" S. 656, Anm. 77).

Ich hob nochmals den Fakt hervor, daß Gebhard seine Studien als die eines Privatmannes, ohne Auftrag oder Einbindung in die Arbeit einer wissenschaftlichen Einrichtung betreibe. Unsere Dienststelle, sagte ich Gebhard, hat nicht die Befugnis in die Benutzer - bzw. Benutzungsordnung von Büchereien und wissenschaftlichen Einrichtungen einzugreifen. Die Möglichkeit einer Hilfe durch unsre Dienststelle ist hier nicht gegeben.

Was das mit erwähnte Gespräch vom 28. 10. 1985 anbelangt, würde ich das im Nachhinein auch dem Bereich partieller „Liberalisierung" der DDR-Politik zuordnen. Davor war ich gegen eine Mauer des Schweigens angerannt, was meinen Wunsch etwa anbelangte, in der Staatsbibliothek gesperrte Literatur (Abteilung für „spezielle Forschungsliteratur") einsehen zu können. Ein Wandel trat jetzt in der Tat dergestalt ein, dass mir nunmehr selbst erstellte Listen über gesperrte Literatur, die einzusehen ich wünschte, de facto von der Stabi genehmigt wurden. Normalerweise wäre es aber Usus gewesen, dass ich dafür eine „amtliche Bescheinigung" hätte vorlegen müssen. Die wurde mir weiterhin verweigert. Andererseits blockierte man entsprechende Begehren gegenüber der Staatsbibliothek nicht mehr. Möglicherweise haben da einige solcher gewünschten Bücher aus der faschistischen Zeit und ähnliches, deren Genehmigung der Direktor der Benutzungsabteilung in der Stabi jeweils gegenzeichnen musste, selbigen auch einige „Schweißperlen" auf die Stirn getrieben.

Was den von Stephan erwähnten Vortrag ihm gegenüber anbelangt, so findet sich der wörtlich nicht in den Akten des Staatssekretariats für Kirchenfragen wieder. Da aber selbst Stephan einräumt, Gebhard habe sich auf dieses Gespräch vorbereitet, so sei denn (aus meinen Akten) hier das damalige Gesprächskonzept noch wiedergegeben. Allerdings ohne die mit erwähnten Fotokopien und Bilder zeitgenössischer Dokumente. Diese Auslassungen werden nachstehend durch … gekennzeichnet.

Wenn Sie mir gestatten, möchte ich gerne mal ein paar Anmerkungen zu dem Vorwurf machen, die Zeugen Jehovas seien „militante Antikommunisten".

Ein Grundelement in der Verkündigung der frühen Bibelforscherorganisation (der jetzigen Zeugen Jehovas) war, die Hervorhebung eines sich verschärfenden Kampfes zwischen Kapital und Arbeit. Aus der Sicht der Bibelforscher konnten diese Auseinandersetzungen nur durch ein unmittelbar bevorstehendes „göttliches Eingreifen" gelöst werden. Der Organisationsgründer Russell empfahl seiner Anhängerschaft, sich an diesem Kampf nicht aktiv zu beteiligen.

Wenn man so will, stellte seine These eine Bestätigung des Ausspruches über den Opiumcharakter der Religion von Karl Marx dar.

Das Ansprechen der Konfliktlage zwischen Kapital und Arbeit seitens der Bibelforscher, war nicht allen recht.

Es gab nicht zu unterschätzende Kräfte, die den realen Kern der Bibelforscherverkündigung mißdeuteten.

Wenn man von Jonak spricht, dann muß man hinzufügen, daß sein Buch nicht im „luftleeren Raum" entstanden ist. Jonak war zwar Österreicher, daß hinderte ihn jedoch nicht daran aktiver Mitarbeiter einer faschistischen Organisation namens „Weltdienst" zu sein. Leiter dieses „Weltdienstes" war ein Oberstleutnant a.D. mit Namen Ulrich Fleischhauer in Erfurt.

In einem 1935 in Bern (Schweiz) in Szene gegangenen Prozeß, der sich um ein berüchtigtes Machwerk namens „Protokolle der Weisen von Zion" dreht, agierte Fleischhauer als faschistischer Experte, der das Gericht mit einem fünf Tage in Anspruch nehmenden mündlichen (und schriftlichen) Gutachten „beglückte". Fleischhauer verwendete zwar viele Worte, indes hatten sie die Eigenschaft um den Kern herumzureden. Letztlich scheiterte Fleischhauer bei seinem Versuch die „Echtheit" der dubiosen „Protokolle" zu beweisen. Statt dessen zierte er sein „Gutachten" mit einer Reihe von „Nebenkriegsschauplätzen". Einer davon war seine Behauptung, daß die Bibelforscher die „Erfüller" der „Protokolle" seien.

Die einschlägigen Berichte der zeitgenössischen Tagespresse berichten davon zur Genüge.

Der "Protokolle"prozeß von 1935 zeitigte Nachfolgeprozeße.

Ein Prozeß dieser Art wurde formal von einem weißgardistischen Exilrussen mit Namen Boris Toedtli in Szene gesetzt.

Toedtli behauptete dem Gericht gegenüber, sich durch die Bibelforscherreligion in seiner Religiosität „herabgewürdigt" zu sehen. Er beantragte, die Bibelforscherliteratur zur Schundliteratur zu erklären. (Genau die gleiche Forderung hatte die jüdische Gemeinde im „Protokolle„prozeß gegenüber diesem Machwerk erhoben). Ich übergehe hier die Details dieses Prozeßes. Sie liefen auf die Frage hinaus, ob Kritik an anderen Religionen gestattet sei oder nicht, und wo die Grenze zu ziehen sei. Da die Zeugen „schon" damals Nonkonformisten waren, lag es auf der Hand, daß die Zeugen nicht ganz „ungeschoren" aus diesem Prozeß (respektive seiner Revisionsverhandlung) hervorgingen.

Zu Toedtli bemerke ich noch, daß er in Rußland geboren war. Seine Eltern hingegen waren gebürtige Schweizer. Anfang der 20er Jahre kam Toedtli dann in die Schweiz.

Neben der zeugeneigenen Literatur berichteten vereinzelt auch Tageszeitungen über diesem Prozeß. Ein mir zugänglicher Bericht dazu stammt aus der Sozialdemokratischen Zeitung „Berner Tagwacht" vom 28. August 1936. Es ist bezeichnend, daß in diesem Pressebericht schon eine Assoziation zu dem bereits bekannten Herrn Fleischhauer hergestellt wurde, der zwar formal daran nicht beteiligt war, aber als geistiger Inspirator bewertet wurde.

Toedtlis Stern war seit Ende 1936 im Fallen begriffen. Die Schweizerische Justiz unterzog sich der Mühe, sich diesen Toedtli einmal näher anzusehen. Man nahm eine Haussuchung bei ihm vor und das gefundene umfangreiche Material reichte aus, Toedtli unter Spionageanklage zu stellen.

Nach 1945 gab es zum Fall Toedtli noch mehr Aufklärung. Die alliierten Siegermächte beschlagnahmten die umfangreiche Korrespondenz von Dr. Jonak, die dann nach London in die dortige Wiener Library gelangte, (als Freyenwald-Collection). Heute befinden sich diese Archivalien in Tel Aviv (Israel).

Ihr papiermäßiger Erhaltungszustand ist mittlerweile sehr schlecht geworden. In London existieren Mikroverfilmungen dieser Dokumente. In der Freyenwald-Collection sind auch einige bemerkenswerte Dokumente enthalten, die das enge Zusammenwirken von Jonak, Toedtli und Fleischhauer offenbaren.

Ein für mich bemerkenswertes Dokument der Freyenwald-Collection ist auch der Brief, den der Pfarrer Julius Kuptsch an den Dr. Jonak sandte. Kuptsch adressierte dieses Schreiben direkt an die Erfurter Adresse des „Weltdienstes"! Er bedankt sich dabei daß Jonak ihm ihm sein Zeugenbuch zugesandt habe und fand dabei in jeder Hinsicht nur lobende Worte. Zu Kuptsch muß man noch wissen, daß er selbst bereits eine Reihe von Schriften auch gegen

die Bibelforscher geschrieben hat. Besonders bemerkenswert erscheint mir der Schlußabsatz des Schreibens von Kuptsch.

Ich möchte jetzt auf die Zeit nach 1945 zu sprechen kommen.

Um die Konflikte der Zeugenleitung mit der DDR nach 1945 zu verstehen, muß man sich auch in die Grundsatzauffassung der Zeugenleitung hineinversetzen.

Diese Grundsatzauffassung läßt sich vielleicht am besten mit dem Satz „Kampf ums Dasein" veranschaulichen.

Um sich im Konkurrenzkampf der Religionen und Ideologien behaupten zu können, legt die Zeugenleitung besonderen Wert auf die Kultivierung von Elementen des Urchristentums.

Wenn dem Jesus beispielsweise die Worte in den Mund gelegt werden, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei, dann sieht die Zeugenleitung darin zugleich ihre Handlungspramisse.

Die Frage, was für eine Gesellschaftsordnung ihre Umwelt hat, interessiert die Zeugenleitung nur zweitrangig.

Ein Beispiel dafür ist das Hitlerregime. Um zusätzlichen Konfliktstoff mit diesem aus dem Wege zu gehen, korrigierte die Zeugenleitung beispielsweise Anfang der dreißiger Jahre ihren jahrzehntelangen Philosemitismus.

Die politische Frage, daß das Hitlerregime das Judentum unter Ausnahmegesetze stellte, interessierte die Zeugenleitung, wie übrigens auch die Kirchen relativ wenig.

Die Konflikte der Zeugenleitung mit dem Hitlerregime resultierten lediglich daraus, daß das Hitlerregime die Zeugenleitung bei ihrem „Kampf ums Dasein" in wie sie meinte, unzulässiger Weise einengte.

Die gleiche Situation bestand im Prinzip auch nach 1945.

Die Frage, welche Gesellschaftsordnung im Osten Deutschlands sich verfestigte, interessierte die Zeugenleitung nur dahingehend, inwieweit ihre Interessen dadurch mit tangiert wurden.

Interessant war für sie nur, welches Ausmaß an Freiheit zu Propagierung ihrer Theorien ihr gewährt wurde.

Es gehört zur Strategie der Zeugenleitung, daß sie grundsätzlich mit den Elementen Zuckerbrot und Peitsche arbeitet. Einerseits die Verkündigung eines angeblich unmittelbar bevorstehenden „Reich Gottes" durch „göttliches Eingreifen". Andererseits

die Peitsche der Vernichtungsandrohung für alle, die diese Botschaft nicht anzunehmen bereit sind.

Übrigens hat auch die katholische Kirche in früheren Jahrhunderten eine ähnliche Strategie praktiziert. Das „nötigt sie hereinzukommen" des Augustinus ist kirchengeschichtlich bekannt.

Die Militanz ihrer Verkündigung brachte der Zeugenleitung vielerlei Feinde ein. Neben den Kirchen auch politische Mächte. In der DDR und anderen Ländern meinte man diese Militanz nicht hinnehmen zu können. Die Folge war das Verbot.

Ich kenne die Zeugenliteratur von ihren deutschsprachigen Anfängen bis in die neuere Gegenwart durch eigene Anschauung. Unter anderem habe ich alle Zeitschriftenjahrgänge seit 1910 bis zur Gegenwart (1986) eingesehen. Die Lücken an Zeugenliteratur vor 1980 die ich bisher nicht einsehen konnte (bedingt durch schwierige Probleme) meine ich an den Fingern abzählen zu können.

Ich kenne auch die Stellen, die man in der DDR als angeblichen Antikommunismus der Zeugenleitung inkriminiert hat. Wenn ich mir alle diese Passagen nüchtern durchdenke, dann stellen sie für mich jeweils nur eine Antwort der Zeugenleitung dar, auf vorangegangene Einschränkungen ihres Expansionsdranges. Wenn man den Aspekt Militanz der Zeugenverkündigung einmal beiseite läßt, dann stellen alle diese Passagen lediglich die Abwehr, niemals aber den eigeninitiierten grundsätzlichen Angriff der Zeugenleitung gegen das politische System der DDR dar.

So wie die Zeugenleitung in der Frage des Antisemitismus 33-45 relativ neutral war, so ist sie es auch in der Frage, welche Wirtschaftsordnung in der DDR praktiziert wird, relativ neutral. Die Reizschwelle wird für die Zeugenleitung erst dann überschritten, wenn sie in ihrem Expansionsbestrebungen behindert wird.

Bei der Analyse der antikommunistischen Aussagen der Zeugenleitung komme ich zu dem Ergebnis, daß die letzte relevante Aussage dieser Art aus dem Jahre 1970 stammt.

Ab etwa 1972 herrscht in dieser Frage relative Ruhe dergestalt, daß sie ihre früheren, pointierten Aussagen (Zitat: „Der Kommunismus gleiche dem Blut eines Toten") nicht mehr in krasser Form wiederholt hat.

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5.7.1988

Anlage:

Ohne Zweifel gibt es auch in der Gegenwart religiös verbrämten militanten Antikommunismus. Kürzlich habe ich selbst ein Buch dieser Machart eingesehen.

Klaus Gerth „Der Antichrist kommt. Die 80er Jahre Galgenfrist der Menschheit?" Verlag Schulte & Gerth, Asslar 1982.

Ich zitiere mal einige markante Blüten daraus:

„Fassen wir noch einmal zusammen. Wir leben in der aufregendsten Phase der Weltgeschichte. … Zu keiner Zeit gab es eine Erfüllung der endzeitlichen Prophetie, da das Hauptereignis, nämlich die Sammlung der Juden aus allen Volkern, erst 1948 begann. Ohne Zweifel hat dieses Jahr eine zentrale heilsgeschichtliche Bedeutung. … Der Bär (Sowjetunion) befindet sich also auf dem Vormarsch gegen Israel. Wird er den Einfall allein wagen, oder gesellen sich andere Kämpfer hinzu?…

Russland ist Gerichtsreif … Die Frage nach dem Zeitpunkt des sowjetischen Angriffs… Solange wir jedoch in der westlichen

Welt die Auffassung vertreten, Glaube sei „Privatsache", solange wird aus einer „christlichen Gegen-Revolution" nichts

… Appeasement - ein viel gebrauchtes Schlagwort unserer Zeit. Heute trägt die neue Politik der Entspannung nur zur Schwächung des Westens bei. Schon vor dem zweiten Weltkrieg wurde Entspannungspolitik betrieben. Chamberlain und Daladier traten für Appeasement gegenüber Hitler ein. Heute verhalten sich einige Länder des freien Westens genauso wie Chamberlain und Daladier Ende der dreißiger Jahre."

Diese Passagen laßen ja wohl an Eindeutigkeit kaum zu wünschen  übrig.

Genau aber solche Aussagen sind in der Zeugenliteratur seit Beginn der 1970er Jahre nicht mehr nachweisbar.

Es versteht sich selbstredend, daß dieser Verlag Schulte & Gerth, Asslar, keinerlei direkte oder indirekte Verbindung zu den Zeugen hat, daß mochte ich noch ausdrücklich hinzufügen.

Waldemar Hirch

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