"Geschichte und Geheimnis der Zeugen Jehovas"
- Ein Buchbericht -
Gespräche und Kommentare der Studiengruppe Christliche
Verantwortung (Berlin)
Nr. 11 (1973)
Im Jahre 1969 erschien in
Großbritannien eine neue Veröffentlichung über Jehovas Zeugen mit dem Titel:
"Millions now living will never die - A study of Jehova's Witnesses". Sie liegt
ab 1971 auch in deutscher Übersetzung vor (Furche-Verlag, Hamburg, BRD; Theologischer
Verlag, Zürich, Schweiz). Der deutsche Titel lautet: "Viele von uns werden niemals
sterben". Kritisch angemerkt sei, dass insbesondere der Untertitel: "Geschichte
und Geheimnis der Zeugen Jehovas" doch wohl etwas zu frei übersetzt sein dürfte,
denn von einem "Geheimnis" zu sprechen, rechtfertigen weder die allgemeinen
Fakten noch der spezielle Inhalt dieser Veröffentlichung.
Der englische Verfasser - Alan
Rogerson, 1944 geboren - hat offensichtlich eine ähnliche Erfahrung hinter sich wie
einige andere Autoren (nicht alle) die Literatur über Jehovas Zeugen veröffentlichten.
Er wurde von seinen Eltern als Zeuge Jehovas erzogen, als er aber bei nüchterner
Betrachtungsweise erkannte, dass er sich diese Lehre nicht zu eigen machen kann, trennte
er sich von ihnen.
Neben den üblichen Quellen der
WTG-Literatur, verwendet er auch das in einem weltlichen Verlag erschienene Buch des
früheren WTG-Direktors A. H. Macmillan aus dem Jahre 1957 ("Faith on the
;March" - "Glaube im Vormarsch"). Ferner auch einige Bücher der insgesamt
siebzehn (!) Bände umfassenden "Schriftstudien-Epiphania" von Paul S. L.
Johnson, wie sie von der jetzigen "Laien-Missionsbewegung-Epiphania"
herausgegeben wurden. Johnson war bekanntlich eine Schlüsselfigur bei den mit dem
Machtantritt von Rutherford verbundenen internen WTG-Schwierigkeiten. Unter
Berücksichtigung dessen hätte man sich gewünscht, dass gerade diese bisher wenig
erforschten Partien stärker herausgearbeitet werden können.
In seiner Darstellung der Geschichte
beginnt Rogerson mit dem Jahre 1874 als adventistischem Endzeitdatum, dass von Russell
übernommen und weiter entwickelt wurde. Über das darauf folgende Datum 1878, zitiert er
A. H. Macmillan und dessen Bericht, dass
"einige sich versammelten in der
kritischen Nacht in weiße Gewänder gekleidet und warteten darauf, in den Himmel
aufgenommen zu werden, aber Russell gehörte nicht zu ihnen. Was Macmillan jedoch nicht
erwähnt ist, dass Russell tatsächlich glaubte, dass Königreich sei aufgerichtet worden
- jedoch unsichtbar (S. 18).
An diesem kleinen Beispiel einer
polemischen Auseinandersetzung mit der Darstellung des WTG-Direktors Macmillan wird
deutlich, dass Rogersons erklärte Absicht (S. 12): "Ich habe versucht, meinen
Standpunkt unparteiisch darzulegen, da ich persönlich weder für noch gegen die Zeugen
eingenommen bin"; eben nur ein undurchdachter Versuch ist, da es letztlich keine
wertfreien Urteile geben kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn man wie im vorliegenden
Fall die Aufgabe übernommen hat, geschichtliche Irrtümer näher zu untersuchen.
Die Person C. T. Russells als des
Begründers der jetzigen Zeugen Jehovas meint Rogerson mit den Worten einschätzen zu
können: "Wir müssen daher zu dem Schluss kommen, dass Russell für seine Person
nicht eitel war, dass jedoch die Ansprüche, die er für seinen Glauben erhob, alles
andere als bescheiden waren" (S. 21). Ganz im Gegensatz zu dessen Nachfolger J. F.
Rutherford über den er berichtet:
"Rutherford ließ an seinem Platz
am Esstisch ein Mikrofon einbauen, damit jedes Wort, dass er sagte, von allen Anwesenden
zu ihrer Erbauung über Lautsprecher gehört werden konnte" (S. 80).
Über das Datum 1874, als angebliches
Ende von 6000 Jahren Menschheitsgeschichte bemerkt Rogerson: "Das
Argument
stammte ebenfalls nicht von Russell, sondern von einem Mr. Bowen in England. Er stellte
fest, dass durch exakte Anwendung der Bibel-Chronologie errechnet werden konnte, wie viele
Jahre seit der Schöpfung Adams vergangen waren. Bowen nahm die Zahlen der Bibel wörtlich
und kam so auf das Jahr 4129 v. Chr. für die Erschaffung Adams." (S. 30).
Über Russells eigentlichen Glauben
sagt Rogerson: "Trotz gegenteiliger Behauptungen der Zeugen Jehovas glaubte Russell
jedoch nicht, dass Gottes Königreich 1914 aufgerichtet wurde (denn dies war bereits 1878
geschehen), und er glaubte keinesfalls, dass nach 1914 eine weitere Generation des
Konfliktes ohne Intervention Gottes folgen würde" (S. 31).
Auch an diesem Beispiel wird deutlich,
dass die angestrebte "Unparteilichkeit" in der Darstellung sich selbst
widerlegt.
In der weiteren Darstellung von
Rogerson, die hier nicht weiter wiederholt zu werden braucht, werden einige der
geschichtlichen Endzeitirrtümer der Zeugen Jehovas in ihren wesentlichsten Punkten
skizziert. Ferner einige der internen Schwierigkeiten aus der Zeit Russells,
einschließlich seiner Ehescheidung, die Wunderweizenstory, sein Tod und die Machtkämpfe
danach.
In diesem Zusammenhang tritt wieder
die Person P. S. L. Johnson in Erscheinung, der offensichtlich der bedeutendste Gegner
für Rutherford bei dessen Machtantritt darstellte. Zur Person Johnson muss man wissen,
dass er, bevor er zu den "Bibelforschern" kam, ein lutherischer Geistlicher
jüdischer Abkunft war und viele der anderen WTG-Mitglieder an Bildung und intellektuellen
Fähigkeiten haushoch überragte. Rogerson schildert die Sachlage so:
Das kurz vor seinem Tode Russell A. H.
Macmillan angewiesen hatte, Johnson nach England zu schicken mit der Aufgabe, die dortige
Zweigstelle der Gesellschaft in Europa zu überprüfen. Um Schwierigkeiten mit den
Einwanderungsbehörden während der Kriegszeit zu vermeiden, hatte Rutherford Johnson
Vollmacht im Namen der Gesellschaft eingeräumt.
Bei seiner Ankunft in England stellte
Johnson fest, dass einige Bibelforscher planten, sich von der amerikanischen Kontrolle zu
lösen und sich als unabhängige Gesellschaft in England eintragen zu lassen. Daraufhin
entließ Johnson zwei der Londoner Manager und benutzte seine Vollmachten zur
Neuorganisierung der britischen Zweigstelle. Rutherford, der diese Vorgänge
offensichtlich missverstanden hatte, glaubte, Johnson habe den Verstand verloren und wolle
von England aus eine Rebellion anführen. Mit unbarmherziger Machtpolitik, machte er nun
den ursprünglich loyalen Johnson zu seinem wirklichen Gegner. Die Geschehnisse nach
seiner Rückkehr in die USA schildert Johnson selbst mit den Worten:
"Er (Rutherford) befahl mir, dass
Bethel am gleichen Tag zu verlassen, die vier Direktoren sollten am folgenden Montag
gehen. Meine respektvolle, oft wiederholte Bitte, vor der Familie eine Erklärung abgeben
zu dürfen, wurde nicht erfüllt
Bruder Hirsch bat darum, einen Brief von Bruder
Pierson verlesen zu dürfen, in dem dieser schrieb, dass er Rutherfords Ausschluss der
vier Brüder vom Direktorium nicht billigte und das er treu zu dem alten
Direktoriumsausschuss hielte.
J. F. R. schrie förmlich, dass Bruder
Johnsons "Falschheit" daran schuld wäre, dass dieser Brief geschrieben wurde
Noch zorniger befahl er mir unter Androhung von gerichtlichen Schritten, dass
Bethel zu verlassen. Ich antwortete, dass ich den Direktionsausschuss wegen dieser
Entscheidung angerufen hätte; und da ich den Ausschuss als amtierend betrachtete, wobei
dieser das Recht habe, bei einer Berufung Entscheidungen zu treffen, wartete ich nun auf
diese Entscheidung; wenn mir der Ausschuss befehlen sollte, das Bethel zu verlassen,
würde ich dies sofort tun.
Auf diese Erwiderung hin verlor
Rutherford alle Selbstbeherrschung. Um seinen Befehl durchzusetzen, stürzte er auf mich
zu und schrie: 'Du verlässt dieses Haus'. Er packte mich beim Arm, so das ich fast
hingefallen wäre
" (S. 49).
Mit diesem gewaltsamen Machtantritt
Rutherfords, hatte in der Tat ein dunkles - von Aggressivität gezeichnetes Kapitel - in
der Geschichte der jetzigen Zeugen Jehovas begonnen. Mittels verschärfter Aggressivität
gegen andere Religionen, die Politik, die "Abtrünnigen" usw., wurde das
eigentliche weltanschauliche Fiasko, der eigene Bankrott überspielt.
Rogerson zitiert in diesem
Zusammenhang auch William Schnell, den jetzigen Leiter der "Christlichen Mission
unter Jehovas Zeugen" in den USA. Gerade Schnells Erlebnisbericht, hat heute im
Zusammenhang mit der Neuregelung der Ältestenfrage wieder eine hochbrisante Aktualität
erlangt. W. J. Schnell führte unter anderem aus:
"In ähnlich rücksichtsloser
Weise wurde überall in Deutschland vorgegangen, bis schließlich eine neue Art von
Versammlungen entstanden war. Jetzt rückte der Erntewerksleiter, der die Gesellschaft
vertrat, an den ersten Platz. Das war schon deshalb nötig, weil die Flut der von der
Gesellschaft erteilten Instruktionen immer mehr wuchsen. Die Ältesten, die sich nur noch
mit geistlichen Dingen zu befassen hatten, verloren nach und nach sogar dieses
Betätigungsfeld, da jetzt die Gesellschaft - durch ihr Organ die Wachtturm-Zeitschrift -
zum Lehrer der Klassen wurde, bis man schließlich mit einem Federstrich die Einrichtung
der Ältesten beseitigte" (S. 65).
Diese Aggressivität gegenüber allen
Andersdenkenden konstatierte sich in den USA während der spannungs- und
provokationsreichen 30-er Jahre auch dadurch, dass wie Rogerson in Polemik zu Macmillan
schildert, bei den öffentlichen Zusammenkünften jener Jahre "die Ordner gewöhnlich
schwere Stöcke mit sich führten um für alle Notfälle gerüstet zu sein" (S. 76).
Das die moralischen
"Qualitäten" der verantwortlichen WTG-Manager ein bemerkenswertes Maß an
Pervertierung erreicht haben, wird auch durch Rogersons Bemerkung deutlich: "Die
meisten Zeugen würden die Dogmen der Gesellschaft auch dann akzeptieren, wenn durch
Dokumente das Gegenteil bewiesen werden kann
Ich habe den Eindruck, dass sie nur
die Fehler eingestehen, die ganz offen zutage liegen und die dazu führen könnten, dass
einige Zeugen die Organisation verlassen. Wenn möglich, kehren sie den größten Teil
ihrer früheren Fehler unter den Teppich beruhigender historischer
Verallgemeinerungen" (S. 97, 98).
Über ihre Bibelauslegungen sagt er:
"Die Zeugen stehen hier vor dem üblichen Problem: Da sie davon ausgehen, dass die
Bibel keine Widersprüche enthält, müssen sie die 'unangenehmen' Texte neu
interpretieren" (S. 118).
"Die Argumente der Zeugen drehen
sich im Kreise: sie gehen davon aus, dass die Bibel keine Widersprüche enthält, und sie
'harmonisieren' die Texte durch ihre Auslegungen; dann führen sie die 'Harmonisierung' an
um zu beweisen, dass es in der Bibel keine Widersprüche gibt!" (S. 140, 141).
Seine Gesamtbeurteilung kann man
vielleicht am besten mit seiner Aussage wiedergeben: "Nach langer Bekanntschaft mit
der Literatur der Zeugen Jehovas kommt man zu dem Schluss, dass sie in einem
intellektuellen 'Dämmerzustand' leben. Die meisten Mitglieder - und sogar die Führer -
sind nicht sehr gebildet und auch nicht sehr intelligent.
Wenn sich ihre Literatur auf Gebiete
der Philosophie, der akademischen Theologie, der Naturwissenschaften oder einer anderen
strengen geistigen Disziplin begibt, sind ihre Ideen im besten Fall ein Spiegel
weiterverbreiteter Missverständnisse und im schlimmsten Fall barer Unsinn (S. 137).
"Die Zeugen scheinen sich im
geheimen vor den wissenschaftlichen Kritikern zu fürchten - es ist wiederum die Furcht
der Unwissenden vor den Einflussreichen
Andererseits können sie auf dem Gebiet der
Vermutungen mit den höheren Kritikern in Konkurrenz treten" (S. 141, 142).
Rogersons Einschätzung der
gegenwärtigen 1975-These ist: "Ich glaube, es ist eine oberflächliche Beurteilung,
wenn man annimmt, dass das Jahr 1975 über Sein oder Nichtsein der Zeugen entscheiden
wird: sie sind schon jetzt bereit, dieses Datum zu überleben, und es ist wahrscheinlich,
dass der Wandel in den sozialen Bedingungen den stärksten Rückgang in den
Mitgliederzahlen mit sich bringen wird" (S. 208).
Insgesamt hat man den Eindruck, dass
mit Rogersons Veröffentlichung eine lesenswerte und interessante Publikation vorgelegt
wurde; trotz der durch seine eigene Argumentation als Illusion widerlegten These einer
angeblichen "Neutralität".
Rogersons Veröffentlichung fügt sich
somit ein in die Reihe anderer mehr oder weniger kritischer Publikationen
Der WTG
dürfte es somit nicht an Erkenntnishilfen über ihren bisherigen Weg mangeln um klar
erkennen zu können, womit sie sich nicht zuletzt in ihrem eigenen Interesse, noch alles
an unbewältigter Vergangenheit zu befassen hat.
(Zeitschrift)
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