Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Beflaggung?

Es gab da mal die Streitfrage, ob die Versammlungsstätte, anlässlich der Berlin-Wilmersdorfer Erklärung vom Juni 1933 beflaggt worden sei.

Auch Detlef G. hat in der ersten und zweiten Auflage seines bekannten Buches, die These von der Beflaggung der Berlin-Wilmersdorfer Veranstaltung kolportiert. In der dritten, überarbeiteten Auflage hingegen nimmt er diese These zurück und setzt sich von ihr ab. So schreibt er beispielsweise dort (S. 104):

Das „zumindest Zweifel bestehen, die eine weitere Kolportage der Darstellung nicht angezeigt lassen. So weisen Fotos, die augenscheinlich von dem IBV-Kongreß in der Wilmersdorfer Tennishalle stammen, zumindest für den Innenraum keine Hakenkreuzbeflaggung auf, was auch durch weitere Zeitzeugenberichte gestützt wird. Allerdings ist es sehr wohl möglich, dass die von der WTG angemietete Sporthalle, in deren unmittelbarer Umgebung noch am Vortag SA, SS und andere NS-Formationen die Sonnenwendfeier zelebrierten, von außen mit Hakenkreuzfahnen versehen war."

"Erwachet!" 8. Juli 1998

Vielleicht war dem so. Indes, dass die Zeugen Jehovas damals mit dem Rücken an der Wand standen, dürfte wohl unbestritten sein. Gingen sie dabei zu weit, wie ihre Kritiker meinen? Oder nicht? Die Berlin-Wilmersdorfer Veranstaltung fand in einer bestimmten Konstellation statt. Bereits in etlichen Ländern des föderalistischen Deutschen Reiches waren die Zeugen Jehovas verboten. Lediglich noch nicht in Preußen, inklusive des Bundeshauptstadt Berlin.

Aber es war absehbar, dass dies nur eine Galgenfrist war. Die Entscheidung in Preußen bewirkte naturgemäß größeres Aufsehen in der Weltöffentlichkeit, als die Entscheidungen in anderen deutschen Bundesländern, die man im Ausland vielfach noch nicht mal beim Namen kannte. Auch die Naziführung war sich dieser Sachlage durchaus bewusst. Das Preußen so lange zögerte, muss nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt der außenpolitischen Signalwirkung eingeschätzt werden.

Vielleicht sollte man auch das politische Gesamtklima dabei nicht vergessen. Dies lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen. Nur wenige Tage nach dem 25. 6. 1933 fand in der gleichen Wilmersdorfer Tennishalle eine andere Veranstaltung statt. Der Bericht über jene Veranstaltung vom 29. Juni 1933 wurde umfänglich in der Zeitung „Der Reichsbote" vom 1. Juli 33 abgedruckt. Aus ihm seien unkommentiert, einige wesentliche Passagen zitiert:

„Der Gau Groß-Berlin der Glaubensbewegung 'Deutsche Christen' hielt am Donnerstag Abend in den Tennishallen eine Massenversammlung ab, in der nach dem Reichsleiter Pfarrer Hossenfelder der preußische Kultusminister Rust zu dem Thema 'Gott und Volk - Kirche und Staat' sprach. Die Tennishallen bis zum letzten Platz gefüllt. Das Hakenkreuzbanner und die Kirchenfahne grüßen die Versammelten. Kirchliche Jugend zieht ein unter Trommel- und Hörnerklang. … Anklage, harte Anklage erhob der Kultusminister gegen die Kirchenleitung, die versagt hätte, den Neubau der Kirche von sich aus auszuführen. … Die Herren können es heute nicht unterlassen, mit Märtyrergebärde vor das Volk hinzutreten. Sie hatten Gelegenheit, Märtyrer zu sein, als die Gottlosen-Bewegung frech durch die Straßen marschierte! (Stürmischer Beifall.) Danken Sie Gott, meine Herren von der Kirche, dass von der anderen Seite her eine Kraft gekommen ist, die Sie selbst der Kirche zu geben nicht verstanden haben! (Beifall). … Die Herren haben geglaubt, für den nächsten Sonntag einen Bitt- und Betdienst einsetzen zu müssen. … Die Kirche Luthers und seiner Mitreformatoren besteht nicht aus einem Dutzend Generalsuperintendenten (Beifall), die den Anschluss an die Zeit nicht zu finden vermögen, sondern aus den Millionen gottsehnsüchtiger Männer und Frauen …"

Apologie der WTG in Sachen 25. Juni 1933

Aufgrund eines grossformatigen Text-Bild-Bandes über "Berlin-Wilmersdorf. Die Jahre 1920 bis 1945" (1985 erschienen), kann man sich jetzt auch ein näheres Bild über die Wilmersdorfer Tennishalle machen.

Udo Christoffel  (Hrsg.) "Berlin Wilmersdorf. Die Jahre 1920 bis 1945"

Wilhelm Möller KG 1985 Zusammenstellung und Redaktion Kunstamt Wilmersdorf

Auf der Seite 225 dortselbst, kann man ein wie es heisst seltenes Zeitungsfoto der WilmersdorferTennishallen, kurz nach ihrer Eröffnung sehen. entnommen offenbar dem Blatt "Der Westen." Auf der Seite 237 klagt ein Textbeitrag über die schlechte wirtschaftliche Auslastung selbiger:

"Wilmersdorfer Tennishalle ohne Zukunft?"

Auf Seite 248 der Textbeitrag "Hitler in der Wilmersorfer Tennishalle:

Das Bild auf Seite 417 zeigt die inzwischen neue Nutzung der Halle, als Aufbahrungsstätte, für bei Luftangriffen umgekommene.

Auf Seite 524 dann ein Bild der Teilzerstörten Tennishalle.

Danach wurde die Halle als Neubau im Dezember 1930 eingeweiht. Die finanziellen Erwartungen ihrer Betreiber erfüllten sich nicht. Den größten Teil ihrer Bestandszeit diente sie jedenfalls nicht dem im Namen zum Ausdruck kommenden Zweck. Dagegen fand sie Verwendung für Politikorienierte Veranstaltungen. Selbst Hitler höchstpersönlich dozierte dort. Zu den zahlenden Kunden gehörten ergo im Juni 1933 auch die Zeugen Jehovas.

Mittelbar im Zusammenhang damit stehend noch einige Ergänzungen aus Forumsbeiträgen:

Von German am Dienstag, den 14. September, 2004 - 21:10:

Eine Anfrage aus dem Ausland: Hat jemand die Ansprach von Konrad Franke aus dem Jahre 1976, in der er die Geschehnisse um den Wilmersdorfer Kongress 1933 erzählt als Aufzeichnung in irgend einer Form (Kassette)? Der Vortrag wird u.a. bei Penton erwähnt.

Von Drahbeck am Mittwoch, den 15. September, 2004 - 13:10:

Offenbar muss die Sachlage so eingeschätzt werden:

Penton war es, der zuerst den fraglichen Franke-Text zitiert hat. Und dies in seinem Aufsatz:

"A story of attempted compromise: Jehovah's Witnesses, Anti-Semitism, and the Third Reich",

erschienen in: The Christian Quest, Vol. 3, No. 1,
Spring 1990. USA.

Eine entsprechende deutschsprachige Übersetzung dieses Penton-Textes liegt auch vor. In der heißt es:

Auf einer Tonbandaufnahme eines Vortrages des früheren "Zweigdieners" oder "Zweigaufsehers" der Wachtturm Gesellschaft in Deutschland, Konrad Franke, der die Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland behandelt, erklärte dieser folgendes: Er und andere Zeugen, die mit ihm in der Sporthalle Wilmersdorf in Berlin, wo der Kongreß 1933 stattfand, ankamen, seien schockiert gewesen: Das Gebäude war mit Hakenkreuzfahnen geschmückt, offensichtlich um sich bei den Nazis beliebt zu machen. Dann wurden die Zeugen während des Kongresses aufgefordert, ein Lied zu singen, das sie in Deutschland schon jahrelang nicht mehr gesungen hatten. Gegen den Text des Liedes war nichts einzuwenden, jedoch wurde es zu der Melodie der deutschen Nationalhymne "Deutschland, Deutschland über alles" gesungen

Dem fügt Penton als Anhang noch ein wörtliches Zitat aus diesem Franke-Vortrag mit an. Darin äußert Franke:

… So wurden wir dann noch im letzten Moment für den 25. Juni zu einer besonderen Versammlung nach Preußen, also nach Berlin, eingeladen, in die Tennishallen, zu einer besonderen Versammlung, wo eine Erklärung angenommen werden sollte. Viele konnten schon nicht mehr kommen. Aber ich hatte das Vorrecht, mit Bruder Albert Wandres auf dem Motorrad von Wiesbaden bis Berlin bei strömendem Regen zu fahren. Aber das hat uns nicht viel ausgemacht. Aber wir waren erschüttert, als wir am nächsten Morgen in die Tennishallen kamen und nicht diese Stimmung vorfanden, wie wir sie sonst bei Kongressen vorfinden. Als wir hereinkamen, waren die Hallen mit Hakenkreuzfahnen geschmückt. Aber nicht nur das.

Als jetzt nun die Versammlung eingeleitet wurde, wurde sie mit einem Lied eingeleitet, was wir jahrelang und überhaupt in Deutschland nie gesungen hatten, wegen seiner Melodie. Der Text war wohl gut, aber die Melodie […] Nun, Musiker, die hier sind, die werden an den Noten sofort erkennen, daß es die Melodie war "Deutschland, Deutschland, über alles". Könnt ihr euch vorstellen, wie es uns zumute war? Viele konnten nicht mitsingen. Es war gerade, als wenn ihnen die Kehle zugeschnürt wurde. Was hatten wir denn bloß jetzt für eine Führung, die uns in diese Gefahren brachte und in die Gefahr, jetzt unter diesen Umständen zu straucheln, statt uns zu helfen, uns beizustehen, damit wir eine furchtlose Stellung einnahmen? Mögen alle Ältesten, die unter uns sind, aus diesen Beispielen etwas lernen und mögen sie ihre Verantwortung in diesem Zusammenhang in der nahen Zukunft erkennen.

Nun wurde diese Erklärung, die Bruder Rutherford noch vor bereitet hatte, angenommen. Uns wurde der Auftrag gegeben, jeder sollte 250 Stück mit nach Hause nehmen und soweit es ist möglich ist, sofern er mutig dazu war, per Einschreiben an Richter, Staatsanwälte, Oberbürgermeister usw. senden. Ich habe damals 52 solcher Briefe weggeschickt per Einschreiben. Die Folge war, daß ich wenige Tage später das erste Mal schon dafür im KZ saß, wo die meisten noch gar nicht wußten, was das war.

(wörtlich zitiert aus seinem öffentlichen Vortrag von 1976)

Man vergleiche dazu auch: M. James Penton "Jehovah's Witnesses and the Third Reich", Toronto 2004, S. 25f. (Fußnote)


Noch eine weitere Passage aus offenbar dem gleichen Frankevortrag ist überliefert in der er sich wie folgt äußerte:
"Ja, und nun kam diese große Aktion, wie sie die Gestapo nannte, vom 28. 8. 1936. Man hatte uns zwei Jahre beobachtet, hatte Material gesammelt um uns zu belasten, und drei Tage vor dem nächsten Kongress in Luzern, wo wieder Bruder Rutherford zugegen war, hat man zugeschlagen. Wir waren erstaunt, was sie alles wussten. Hier findet ihr eine Skizze, eine Karte, wie wir sie später gefunden hatten. So hatten sie die illegale Organisation aufgezeichnet, und es stimmte genau. Ihr könnt oben sehen, ganz rechts, wo die viereckigen Kästchen sind, im letzten vollständigen Kästchen ist noch mein Name drin und auch das Gebiet, dass ich damals bearbeitete. Die anderen Kästchen waren alle anderen Bezirksaufseher, die alle am gleichen Tag - bis auf zwei oder drei - verhaftetet wurden. Damit hatte man geglaubt, den Kopf getroffen zu haben.

Nur ganz wenige konnten noch hinüber kommen und konnten Bruder Rutherford über die wirklichen Verhältnisse in Deutschland informieren. Wieder wurde eine Resolution verfasst und auch Hitler und dem Papst, wie wir das hier sehen, eine davon geschickt.
Nun kamen wir vor Gericht. Das war zum Beispiel die Anklageschrift für mich. Darin wurde so manches behauptet. Ich freue mich heute noch über dieses Dokument, denn in dem Inhalt hat man mir … bescheinigt, indem sie sagten: Franke vertritt die Auffassung, dass ihn keine von den Gerichten ausgesprochene Strafe abhalten wird, sich weiter als ein Zeuge Jehovas zu
betätigen. Und so kam dann auch das letzte. Dieses Gericht, dass wie wir vorhin hörten, was erst Freisprüche ausgeteilt hatte, war dann das erste Gericht, dass fünf Jahre Gefängnis verhängte und die bekam ich dann, wie ihr das hier sehen könnt, am 13. Januar 1937. Alles, was ihr hier seht, ging über die ganze deutsche Presse. Es stimmt alles ganz genau, bis auf meinen Familiennamen. Ich heiße nicht Funke, sondern Franke. Zur gleichen Zeit wurde Bruder Fritz Winkler zu vier Jahren Zuchthaus und 22 000 Mark Geldstrafe verurteilt. Er war damals als Reichsleiter tätig, wie man so sagte."

In einem neueren Aufsatz (in "Religion - Staat - Gesellschaft" Heft 1/2003) geht WTG-Funktionär W. beiläufig auf die Sache auch mit ein, wenn er schreibt:

Andere Vorwürfe in Verbindung mit dem Wilmersdorfer Kongreß – sie waren erst viel später von polemisierenden Apostaten in die Welt gesetzt und oft kolportiert worden – spielen in der ersten Auflage von Detlef G.s Werk zwar noch eine Rolle, wurden in seiner dritten Auflage jedoch korrigiert:
– kein Singen der Nationalhymne, kein Deutschlandlied, sondern das alte religiöse Bibelforscherlied Nr.64 "Zions herrliche Hoffnung" (Haydn-Melodie); schon das aus Tausenden Kehlen erklingende "Zion" hätte Antisemiten in Zorn versetzt!
– und keine Hakenkreuzfahnen in der Wilmersdorfer Kongreßhalle.

(Gegner der ZJ lassen Augenzeuge Konrad Franke in der von ihnen selbst gefertigten Tonbandtranskription einer seiner Rede sagen:

"Als wir hereinkamen, waren die Hallen mit Hakenkreuzfahnen geschmückt!" Wahrscheinlich sagte Franke aber "ankamen" statt "hereinkamen". Vordem hatte in unmittelbarer Nähe eine NS-Sonnenwendfeier stattgefunden, was eine bereits vorhandene äußere Schmückung des Gebäudes mit Fahnen vermuten läßt; Fotos belegen, daß während des Kongresses in der großen Tennishalle keine Fahnen hingen. Irreführend ist Frankes Bemerkung, Lied Nr. 64 sei "jahrelang – und überhaupt in Deutschland – nie gesungen" worden "wegen seiner Melodie"; tatsächlich sang man das Lied am 20.Mai 1929 auf dem Bibelforscherkongreß in Leipzig und mancherorts in den JZ-Gemeinden bis 1933 und danach.)"

Was die von W. angesprochene Beflaggungsfrage anbelangt, so habe ich mich dazu schon früher mal geäußert. Insofern rennt W. mit seiner Zurückweisung der Beflaggungsthese bei mir offene Türen ein. Was aber überhaupt nicht bedeutet, dass ich mir auch seine sonstigen Interpretationen zu eigen machen würde.

Zieht man die mit genannten G.-Äußerungen heran, ergibt sich als offensichtliche Quelle Helmut Lasarcyk, bekannt geworden auch durch seine Übersetzung der Studie von Jerry R. Bergman "Zur seelischen Gesundheit von Zeugen Jehovas" (1991 erstmals in Deutsch erschienen).
G. verweist ausdrücklich auf Lasarcyk wenn er in einer Fußnote schreibt:

(2. Auflage S. 99, Nr. 66)
Vgl. U(nterlagen) a(us) P(rivatbesitz) Helmut Lasarcyk, Konrad Franke: Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland. Vortrag (Transkription), Bad Herzfeld 1976, S. 28 abgedruckt in: The Christian Quest 3 (1990) S. 49.

Es ist keine neue Erfahrung, dass die Ex-ZJ-Szene vielfach einem "Durchgangsbahnhof" gleicht. Lasarcyk anfang der 90er Jahre sehr aktiv, ist auch in das Milieu der "Abgetauchten" abgerutscht.

In seiner 1991er Bergman-Übersetzung hatte Lasarcyk auch ein Werbeblatt mit beigelegt. Darin war unter anderem zu lesen:

"Mehrere übersetzte Texte sind auch auf Diskette verfügbar ...

DISK JZ 1: Bergman/Beverly/Penton (diverse Auszüge)
DISK JZ 2: Penton/ K. Franke (JZ und ???3 Reich" /Geschichte der ZJ in Dt.) Voraussicht Ende 1991 erhältlich.
(DOS-Format für IBM-kompatible PC)."

Da ich zur fraglichen Zeit noch nicht zu den Computernutzern gehörte; habe ich mich demzufolge auch nicht für diese Disketten näher interessiert.
Aber verstehe ich es richtig, ist wohl Lasarcyk als Anfertiger der entsprechenden Tonbandtranskription anzusehen.

Von Gerd am Mittwoch, den 15. September, 2004 - 13:38:

... Helmut Lasarcyk
Dieser lebt in Schleswig Holstein, ich korrespondierte vor Jahren mit ihm. Er hat auch keinen Bezug mehr zu irgend welchen Glaubensdingen.
1987/88 bat ihn Hubert Ciasto um Übersetzung des Buches "Crisis of Conscience", das Lasarcyk bekanntlich mit "Der Gewissenskonflikt" übersetzte.

Offenbar dem genannten Übersetzer zuzuordnen ist auch die Webseite: http://members.aol.com/lasarcyk

Das von Franke mit erwähnte „Unbehagen" an der Berlin-Wilmersdorfer Veranstaltung, kann man - indirekt - auch an einem Parallelbericht von Elke Imberger entnehmen. Letztere teilte in ihrer Studie, der umfängliche Archivstudien zugrunde liegen auch den folgenden Fall mit (S. 275f.):

„Auch in Neumünster fand im Zusammenhang mit den organisatorischen Veränderungen im Herbst 1934 eine Spaltung der IBV-Ortsgruppe statt, die jedoch eine andere Entwicklung als in Flensburg nahm. In Neumünster entstand nämlich eine Gruppe, die in Opposition zur deutschen IBV stand und eine eigene kleine Organisation am Ort bildete. Da dieses der einzige aktenkundig gewordene Fall einer organisierten IBV-Oppositionsgruppe in Schleswig-Holstein ist, soll näher darauf eingegangen werden.

Die Spaltung der Neumünsteraner Gruppe wurzelte in früheren Ereignissen: Der dortige Dienstleiter, ein 1885 geborener und 1924 als Bibelforscher getaufter Buchhalter, hatte im Juni 1933 an der Berliner IBV-Konferenz teilgenommen, war jedoch nicht einverstanden mit der Linie der Magdeburger Zentrale, die ihm zu sehr vom Religiösen ins Politische tendierte 166. Er löste sich vom Kurs der Magdeburger Zentrale und sammelte den größeren Teil der Neumünsteraner Bibelforscher, unter ihnen auch den Ältesten der Ortsgruppe, um sich. Mit ihnen hielt er Bibelstunden ab und verteilte an sie 'Wachtturm'-Exzerpte, die er zusammen mit dem Ältesten aus eigenen Übersetzungen des amerikanischen 'Watchtowers' hergestellt hatte

Wie die übrigen Zeugen Jehovas in Neumünster beteiligte sich die IBV-Oppositionsgruppe an der Protestaktion vom 7. 10.1934, doch verstand der Dienstleiter die Eingabe lediglich als eine Mitteilung an die Regierung über die Wiederaufnahme der Bibelforscher-Gottesdienste. Nach der Protestaktion kam es endgültig zur Spaltung der IBV-Ortsgruppe Neumünster, da der Dienstleiter im Rahmen der organisatorischen Veränderungen ebenfalls von Alfred Z(immer). und Franz B. seines Postens enthoben wurde. Ein anderer, dem Magdeburger Kurs loyal gegenüberstehender Bibelforscher übernahm die Leitung, wodurch sich der bisherige Dienstleiter persönlich gekränkt fühlte. Der entscheidende Grund für die Spaltung bestand jedoch darin, daß der ehemalige Dienstleiter die Wiederaufnahme der öffentlichen Missionstätigkeit ablehnte, da er der Ansicht war daß in Deutschland nach außen hin nichts mehr für die IBV zu leisten war

Er und seine Anhänger kamen aber weiterhin regelmäßig zusammen und betrieben Bibelforschung anhand der übersetzten 'Watchtower'-Auszüge. Die kleine IBV-Ortsgruppe Nortorf, die aus 4 Frauen bestand und schon vor dem Verbot organisatorisch zu Neumünster gehört hatte, versorgte der ehemalige Dienstleiter ebenfalls mit den übersetzten Exzerpten. Aus Sicherheitsgründen ordnete er an, daß die Zeugen Jehovas die 'Watchtower'-Auszüge nicht an andere weitergeben sollten. Auch bei den Bibelstunden, die in den Privatwohnungen der Anhänger stattfanden, war man vorsichtig, in der Wohnung des ehemaligen Dienstleiters und des früheren Ältesten, die sich von der Gestapo beobachtet fühlten, wurden keinerlei Zusammenkünfte veranstaltet'. Die IBV-Oppositionsgruppe, die anfangs die größere in Neumünster gewesen war, schrumpfte ab Herbst 1934 schnell, weil viele Zeugen Jehovas zu dem neu eingesetzten Schriftleiter überliefen, in dem sie den von Gott gewollten Führer sahen

Anfang Dezember 1934 stieß die Gestapo im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die Neumünsteraner IBV-Anhänger der Magdeburger Richtung ... auch auf die IBV-Oppositionsgruppe. Gemeinsam mit den Anhängern der anderen Bibelforscher-Gruppe Neumünsters wurden die Oppositionellen am 23.1.1936 in einem Massenprozeß vom Altonaer Sondergericht wegen Vergehens gegen das IBV-Verbot fast alle zu Geldstrafen von jeweils 200.- RM verurteilt. ...

Diese Konflikte bei der Umstrukturierung der IBV zeigen, daß nicht alle Bibelforscher bereit waren, sich auf die Form illegaler Tätigkeit einzulassen, die von der zentralen Sektenleitung propagiert wurde, sondern eigene Wege suchten, um ihren Glauben unter den Bedingungen des 'Dritten Reichs' zumindest ansatzweise zu praktizieren."

Hitlerzeit

ZurIndexseite