Nanda Herbermann

Wo Schatten ist, soll es auch Licht geben. Gemäß der Konzeption dieser Serie, das jeweilige Jahr als Ausgangspunkt zu nehmen, sei auf einen 1959 erschienenen Erlebnisbericht hingewiesen. Jener von Nanda Herbermann „Der gesegnete Abgrund. Schutzhäftling Nr. 6582 im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück".

Frau Herbermann agierte zeitweilig auch als Sekretärin des Jesuitenpeters Muckermann.

Es pfeifen die „Spatzen von den Dächern", dass je länger je mehr, auch Vertreter der katholischen Kirche in ernsthafte Konflikte zum Naziregime gerieten, was denn auch in diesem Fall zutrifft.

Folgt man einer Webseite

http://www.franziskanisches-zentrum.de/Archiv/05_Oktav/2005_16_Predigt_Schmid.pdf

so belief sich die Zeit ihres zwangsweisen Verbleibens im KZ auf „nur" 1 ½ Jahre. Indes lernte sie in dieser Zeit auch dort inhaftierte Zeuginnen Jehovas kennen, und zollt ihnen in ihrem Erinnerungsbericht durchaus Respekt. Respekt auch dann noch, wenn wie sie ja selbst sagt, sich deren Grundsatzauffassung nicht zu eigen machen kann.

Man kann sich allerdings des Eindruckes nicht erwehren, dass dieses Respekt-Erweisen wohl eher einer Einbahnstraße gleichkommt.

Jedenfalls sind Beispiele des Respekt-Erweisens in der umgekehrten Richtung, wohl eher dünn gesät.

Es mag sie im Einzelfall durchaus geben. Auf der Ebene der Publikationen der eigentlichen Wachtturmgesellschaft, wohl eher nicht.

Wie auch immer, nachstehend (im weiteren unkommentiert), einige der einschlägigen Aussagen aus dem Bericht von Frau Herbermann:

„Wenn ich an einen Tag im Lager zurückdenke, dann steigt mir noch jetzt der heiße Zorn hoch und die Fäuste ballen sich vor Empörung. Es war im Sommer. Der gesamte Block der Bibelforscher sollte für den Kommandanten und für die SS-Siedlung, die dem Konzentrationslager vorgelagert war, Luftschutzkeller bauen. Diese Arbeit wurde von dem niederträchtigen Kommandanten Kögel gerade den Bibelforschern übertragen, weil er wußte, daß in ihren Statuten jegliche Arbeit für Kriegszwecke strengstens untersagt ist. Er wollte sie dazu zwingen. Aber allesamt verweigerten sie standhaft die Ausführung dieses Befehles. Der Kommandant, zum Äußersten gereizt, ordnete für jeden Bibelforscher zehn Stockhiebe an. Alle mußten antreten zum Strafempfang. Ich sehe noch diese Prozession der meist alten, lieben Mütterchen. Sie waren als Gesamtheit, das sei ihnen zur Ehre gesagt, die angesehensten, friedlichsten, hilfsbereitesten und geduldigsten Häftlinge im ganzen Lager. Nun wurden sie wie eine Horde Vieh zur Schlachtbank getrieben, in diesem Fall zum Bock, auf den sie der Reihe nach geschnallt wurden. Jede Gefangene wurde zur Austeilung der Strafe mit Lederriemen am Bock angeschnallt, und dann ging es los, der Reihe nach. . . .

Sie aber beteten, still und ergeben. Heroisch haben sie sich gehalten, standhaft diese zehn Stockhiebe für ihren "Glauben" entgegengenommen. Als sie hernach aus dem Zellenbau wieder hinaustraten, versuchten sie, Haltung zu bewahren, so gut es ging. Viele von ihnen schlichen, gekrümmt und gebeugt vor Schmerz, mit ihren geschändeten, alten Körpern dahin. Es waren unter ihnen manche Frauen von sechzig Jahren und darüber. Ich dachte an meine Mutter. Und sie waren doch fast alle Mütter, deren Söhne zum großen Teil an den Fronten kämpften. — Aber was fragte der bestialische Kommandant mitsamt seinen gemeinen SS-Henkern darnach? Was fragte Herr Heinrich Himmler darnach? Manche der alten Mütterchen haben diese Schläge nicht überstanden.

Mit einigen aus ihnen unterhielt ich mich etliche Tage später. Ich fragte sie, ob sie noch große Schmerzen hätten? Sie lächelten still, aber in ihren Augen funkelte doch das Feuer der Empörung über die Schande, die ihnen und ihren "Schwestern" — so nennen sich die Bibelforscherinnen untereinander — angetan worden war. Ich persönlich habe die Bibelforscher, mit deren Anschauung im übrigen ich mich bestimmt nicht einverstanden erklären konnte, sehr geachtet. Sie verstanden wahrhaft zu lieben und zu leiden. In der Baracke der Bibelforscher gab es nie Zank und Hader, da gab es keinen Diebstahl und keinen Verrat, wie in so manchen anderen Blocks, vor allem im Block II. Immer waren sie gut und bescheiden, zu jedermann freundlich.

Hier muß ich noch erwähnen, daß an diesem Tage, da der Kommandant mit seinen Helfershelfern und -helferinnen sich die Arme bereits lahm geschlagen und die Genugtuung über diese unbegrenzte Macht über Leib und Leben seiner Opfer überreich gekostet hatte mit dem Inspektor — diesem Scheusal! - in dem Block VI der Berufsverbrecher erschien und die dort untergebrachten Gefangenen fragte, wer aus ihnen sich freiwillig zum weiteren Schlagen der Bibelforscherinnen meldete. Er versprach ihnen für ein paar Wochen besseres Essen und den Vorteil für einige Zeit nicht arbeiten zu müssen. Zwei junge kräfttige, weibliche Mitgefangene haben sich wahrhaftig zu dieser Schandtat freiwillig bereiterklärt. Nie hätte ich das selbst nicht bei den verkommensten Häftlingen für möglich gehalten. Aber auch diese Tatsache beweist, unter was für Subjekten wir leben mußten.

Das ganze Lager war schon über die Anordnung des Kommmandanten voller Empörung. Als nun aber noch diese beiden erbärmlichen Kreaturen sich zum Schlagen meldeten, da rasten sämtliche Häftlinge vor ehrlicher Entrüstung und schworen den beiden Berufsverbrechern Rache. Sie konnten sich nach Austeilung der Stockhiebe auf der Lagerstraße und im eigenen Block nicht mehr sehen lassen, wurden angespuckt und geschlagen, ja die Dirnen und Berufsverbrecher fielen über sie her uund verprügelten sie gründlieh, daß sie Zuflucht zur Oberaufseherin nahmen. Das Endresultat war, daß die Zwei für einige Zeit in den Zellenbau wandern mußten, wo sie besonders gut behandelt wurden und Licht und Essen zur Genüge bekamen. Meine Dirnen aber, die sich an der Schlägerei beteiligt hatten, erhielten Dunkelarrest und Stockhiebe und mußten dann noch ein Jahr in den Strafblock wandern. Nie wieder habe ich die Häftlinge unserer Baracke in so tiefer Erregung gesehen wie an diesem verhängnisvollen Tage. ...

Zweier guter Häftlinge, mit denen ich in den letzten Monaten Tag für Tag zusammenkam, möchte ich noch gedenken. Es waren Bibelforscherinnen, beides Mütterchen in weißem Haar von nahezu siebzig Jahren. Sie hatten ihren Mann und ihre Kinder verlassen und waren für ihren "Glauben" in das Konzentrationslager gewandert und lebten hier über ein Jahrzehnt lang ein erbärmliches, doch heldenhaftes Leben. Stets waren sie sanftmütig und freundlich. Die Arbeit dieser beiden bestand darin, die Büros der Oberaufseherin, den Appellraum der Aufseherinnen, die Korridore, Toiletten der Büros usw. sauber zu halten.

Schon aus Interesse redete ich mit ihnen häufig über ihren "Glauben". Es mußte doch etwas daran sein, daß sie, die jeden Tag ein Formular mit ihrer Austrittserklärung aus der Sekte der Bibelforscher nur hätten zu unterzeichnen brauchen, um dieser Hölle zu entgehen, so stark an ihrer Auffassung festhielten. Diese vorgedruckten Scheine lagen zu Hunderten im Büro der Oberaufseherin und wurden und wurden nicht weniger. Kaum je hat eine der Bibelforscherinnen ein solches Formular unterschrieben.

Ich persönlich erinnere mich nur an zwei Fälle, an zwei junge Holländerinnen, die ihre Austrittserklärung unterzeichnet haben. Soviel ich auch gegen ihre Ansicht und ihren Glauben einzuwenden hatte, sie blieben fest in ihrer Anschauung, von der sie nichts preisgaben, für die sie freiwillig Übermenschliches noch im hohen Alter ausstanden.

Irgendwie waren sie primitiv, und ihre Anschauungen hielten durchaus nicht Schritt mit dem Leben in der ruhelosen Welt da draußen. Doch bibelfest waren sie, ließen aber meine Einwendungen gegen diese und jene Stelle ihrer Bibel überhaupt nicht gelten und waren dabei so hartnäckig, daß man sich mit ihnen nicht sachlich auseinandersetzen konnte.

Aber heiter blieb ihr Gemüt, und so wohlgemut wie diese Bibelforscher waren wenige Häftlinge im Lager. Ein Gottvertrauen beseelte sie, das Berge versetzen konnte. Bei ihnen in der Baracke gab es keinen Streit, keinen Neid, keine Mißgunst, auch nicht den unwürdigen Verrat der Häftlinge untereinander. Das eine der Mütterchen, aus Schwaben stammend, war so leutselig, hatte ein frisches, gütiges Greisenantlitz und lichte, lebendige Augen, die trotz allem Grauen noch lieb und heiter strahlen konnten. Wenn sie mich sah, rief sie "Nannerle!" — Ihre Kameradin war im Gegensatz zu ihr recht kränklich und verfallen; die lange Haft hatte ihr alle Kraft genommen. Aber auch sie hatte diese wunderbare Haltung, obwohl man merkte, daß ein tiefer Gram sie ganz aufzehrte. Einmal fand ich sie weinend in einem verborgenen Eckchen sitzend, vor sich hinbetend: "O Gott, hilf mir! Hilf meinen Kindern!"

Mir tat dieses einsame Mütterchen so leid. Man konnte nicht helfen. Doch gab ich ihr, die stets unter großem Hunger litt, am Abend aus einem gerade eingegangenen Päckchen ein ansehnliches Stück Kuchen. Da klärten sich ihre traurigen Züge für einen Augenblick ein wenig auf.

1959er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

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