Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Ungarn

Politisch denkende Menschen, namentlich solcher westlicher Prägung, haben sicherlich keine „Bauchschmerzen" bezüglich des Artikels „Ungarn revoltiert gegen seine Zwingherren", marktgerecht als Sonderausgabe der "Erwachet!"-Ausgabe vom 22. 4. 1957 präsentiert. Indes westlicher politischer Konsens, und die offizielle zeitgenössische östliche Meinung, divergierten erheblich. Das muss auch gesagt werden. Man muss sich also letztendlich entscheiden, was einem wichtiger ist. Im Einklang mit dem westlichen Mainstream zu agieren. Das tat die WTG, dafür ist auch dieser Artikel Beleg. Dann muss man sich allerdings auch die Gegenfeststellung gefallen lassen. Das mit der vorgeblichen „Neutralität" „war wohl nichts".

Hat man sich politisch so positioniert braucht man sich - eigentlich - über die entsprechenden Gegenreaktionen auf östlicher Seite auch nicht mehr zu wundern. Es ist für eine internationale Religionsorganisation, die zudem vorgibt, noch „neutral" sein zu wollen, keinesfalls zwingend, und erst recht nicht geboten, zeitgenössisch so zum Thema Ungarn Stellung zu nehmen, wie es die WTG tat.

Die WTG beschritt damit eine gefährliche Gratwanderung, die schon nahe an das herankam, was man an anderer Stelle im gleichen „Erwachet!„-Jahrgang auch lesen kann, wenn man in der Ausgabe vom 8. 3. 1957 zu der Frage „Wer wird in Harmagedon kämpfen?" liest:

„Die auferstandenen Glieder des Leibes Christi, 'folgen dem Lamme wohin es irgend geht', zweifellos auch in das Schlachtgewühl. Das Blut wird in Strömen fließen. Harmagedon wird eine 'Drangsal sein, wie es seit Beginn der Schöpfung, die Gott schuf, bis zu dieser Zeit keine gegeben hat und nicht wieder geben wird.' Kein Mensch, der nicht auf der Seite des Königreiches Jehovas ist, wird am Leben bleiben. Satans ganze Welt oder sein System der Dinge, seine unsichtbaren dämonischen Himmel und seine verderbte 'Erde' der ihm dienenden Menschen, werden vernichtet werden."

Nachstehend die wesentlichen Aussagen des Ungarn-Artikels, als im weiteren unkommentierte, zeitgenössische Dokumentation verstanden.

„Ungarn revoltiert gegen seine Zwingherren

Warum stand das ganze Volk auf? Was geschah in Ungarn als der lächelnde russische Bär der nachstalinistischen Zeit zu knurren anfing?

Dieser Artikel stützt sich auf Berichte des 'Erwachet!'-Korrespondenten in der Schweiz.

Die Welt horchte auf, als am 23. Oktober des vergangenen Jahres das ganze ungarische Volk gegen die brutale, bedrückende Rote Herrschaft revoltierte.

Nach Stalins Entthronung hatte der russische Bär gelächelt. Das Fenster war einen kleinen Spalt breit geöffnet worden. Sehnsüchtig hatten die Menschen einen Blick ins Freie getan. Gierig sogen ihre erschlafften Lungen die frische Luft ein.

Dann erhob sich das bedrängte Volk wie ein Mann, um das Joch der verhaßten Herrschaft abzuschütteln. Die 'friedliche Koexistenz' mit Rußland flog auseinander. Das Lächeln des Bären verwandelte sich in ein Knurren, aus dem Glacehandschuh kam eine eiserne Faust hervor, und die Straßen Ungarns wurden mit Blut getränkt.

Es war nicht beabsichtigt, daß die Demonstrationen in Ungarn größere Ausmaße annehmen sollten, als sie in Polen angenommen hatten. Aber die Schießereien am ersten Tag wirkten wie ein brennendes Streichholz in einem Pulverfaß. Das ganze Volk explodierte. Der Haß gegen die kommunistische Herrschaft war so abgrundtief, daß das ganze Volk sich plötzlich gegen das System erhob, um es zu beseitigen.

Die Zwangsmethoden der Staatsdiktatur, die Unterdrückung der Freiheit und die grausame Willkürherrschaft der staatlichen Sicherheitspolizei (AVH) sind einige der Ursachen, die das Volk zur Revolution bewegten; ebenso die maßlose Ausbeutung der Arbeiter, das bedrückende Wirtschaftssystem und die Erinnerungen an die von den Russen begangenen Gewalttaten, nachdem sie die Nazis vertrieben hatten.

Das Volk hatte auch kein Vertrauen zu den Versprechungen des kommunistischen Regimes, die Bauern weigerten sich, in das Kolchossystem hineingepreßt zu werden, und der Haß gegenüber dem Staatsdiktat unter der kommunistischen Herrschaft war groß. Die Menschen lebten unter einem System, das sie haßten und sie warteten nur auf eine Gelegenheit, ihrem Haß Luft zu machen.

Überraschenderweise schuf die Regierung diese Gelegenheit selber. Nach der Entthronung Stalins wurden Ungarn, die im Namen des Stalinismus hingerichtet worden waren, rehabilitiert, indem man sie mit feierlichem Staatsgepränge neu begrub. Anstatt die unzufriedenen Massen zu besänftigen, gab dies Hunderttausenden die Gelegenheit, gegen das Regime zu demonstrieren. Die ungarische Jugend hörte aus dem Munde ihrer Roten Herren, was für schreckliche Verbrechen im Namen der Kommunismus begangen worden waren. Leidenschaftliche Diskussionen waren die Folge, und der Haß wurde noch unversöhnlicher.

Am Montag, dem 22. Oktober forderten die Studenten der Budapester Universität die Zurückziehung der russischen Truppen aus Ungarn. Am folgenden Tag verlangten sie freie Wahlen sowie Rede- und Pressefreiheit. Studenten, die ungarische Fahnen trugen, riefen: 'Lang lebe Ungarn!', 'Fort mit den Russen!'. Ihrem Umzug durch die Hauptstadt folgte eine Menge von mehreren Hunderttausend Menschen. Vor der Budapester Radiostation begann die kommunistische Sicherheitspolizei auf die Studenten zu schießen. Wütend darüber stürmten diese das Gebäude, und die Revolte war im Gange!

Wohl zogen die Kommunisten aus der Stadt ab, umzingelten sie aber, während russische Verstärkungen in das Land einströmten. Ministerpräsident Imre Nagy kündigte das Ende des Einparteinsystems an und versprach freie Wahlen. Ungarn trat aus dem kommunistischen Warschauer Pakt aus, erklärte seine Neutralität und ersuchte die vier Großmächte, diese Neutralität zu garantieren.

Würden die Russen eine solche Herausforderung an ihr System ohne weiteres hinnehmen?

Nein, russische Truppen umstellten und besetzten plötzlich alle ungarischen Flughäfen und unternahmen am 13. Tag des Aufstandes, 3 Uhr morgens, einen Großangriff auf Budapest.

Einer der Zeugen Jehovas in Budapest berichtete, er habe am 22. Oktober, dem Tag vor dem Ausbruch der Revolution, an seinem Arbeitsplatz gehört, daß am folgenden Tag die DISZ-Jugend (kommunistische Jugendorganisation) aufmarschieren sollte. An jenem Tag sah er auf dem Stalinplatz, der nur fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt lag, wie das mächtige Stalin-Denkmal unter dem großen Jubel der Menge gestürzt wurde. Zu seiner Frau sagte er:

'Gehen wir nach Hause, dies kann Folgen haben.'

Die ganze Nacht hindurch schrie die Menge auf der Straße, und gegen Mitternacht waren aus vielen Richtungen Schießereien zu hören.

Als dieser Ungar am 26. Oktober zur Arbeit ging, sah er am Eingangstor der Fabrik ein Plakat, das die Aufschrift trug:

'Im Schatten russischer Panzer arbeiten wir nicht!'

Sein Nachbar bat ihn, ihn zu seinem Arbeitsplatz zu begleiten. Als sie dort ankamen, sahen sie einen Galgen, an dem ein Plakat mit folgendem Wortlaut hing:

'Tod für die Streikbrecher!' So kehrten sie wieder nach Hause zurück.

'Nie zuvor', erzählte er, 'fand ich eine bessere Gelegenheit zum Zeugnis geben, sei es beim Schlangestehen vor dem Bäckerladen oder während der Kämpfe im Schutzkeller'

Folgendes ist die Geschichte eines anderen Zeugen Jehovas - einer von den sechshundert, die als Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen Sklavenarbeit geleistet haben. Er war zu acht Jahren Kerker verurteilt, aber dann in das Arbeitslager Talapa gebracht worden. Dort befanden sich bereits 200 bis 250 Zeugen aus den verschiedensten Gegenden Ungarns. Dreißig von ihnen wohnten zusammen in einem Zimmer …

Dieser Zeuge Jehovas wurde durch eine Amnestie frei, erhielt aber prompt wieder einen Stellungsbefehl und wurde erneut wegen Militärdienstverweigerung verurteilt, diesmal zu sechs Jahren Nach einiger Zeit landete er im Arbeitslager Zsolnak, wo er Glaubensbrüder traf, von denen einige Sonderreiseprediger gewesen waren, die die Aufgabe haben, unter den Zeugen Jehovas eine leistungsfähigere Organisation aufzubauen. In diesem Lager ging es weit strenger zu. ....

Aber nach dem 20. Parteikongreß, als der russische Bär zu lächeln begann, trat eine Milderung ein, und ungefähr 100 Zeugen Jehovas wurden freigelassen.

Als die politischen Gefangenen den Ausbruch der Oktober-Revolution erfuhren, traten sie sofort in einem Sympathie-Streik, weigerten sich zu arbeiten, aus dem Bergwerk heraufzukommen oder zu essen.

Die Zeugen Jehovas wurden aufgefordert, mitzumachen, und man drohte ihnen, daß sie erschlagen würden, wenn sie das Essen entgegennähmen.

Sie beschlossen mit zu tun, sofern alle anderen das Essen verweigerten. Die politischen Gefangenen faßten schnell ein Memorandum ab, worin die Freilassung gefordert wurde, und sandten es an die Regierung. Sie fertigten aus einem Leintuch eine Fahne an, zogen damit in den Hof des Lagers, hißten sie und sangen die ungarische Nationalhymne. Sie wollten die Zeugen zwingen, auch hinauszugehen, aber diese weigerten sich.

Man drohte ihnen. Sie hielten es für angebracht, mit ihrem Lagerführer zu sprechen.

'Wir können das nicht tun, selbst wenn wir unser Leben lassen müßten, weil dies unserer Gottesanbetung widerspricht', erklärten sie.

'Wir wollen den Hungerstreik mitmachen, aber anderen Forderungen können wir nicht nachkommen.'

Die anderen Gefangenen waren damit einverstanden. Sollte es zu einem bewaffneten Ausbruch aus dem Lager kommen, so würden sie die Zeugen ungeschoren lassen. Inzwischen kam militärische Verstärkung an. Auch Aufständische erschienen. Nach einiger Zeit kamen fünf Panzer der Regierung angerollt, und von dem heftigen Gefecht, das außerhalb der Lagers entstand, erbebte das ganze Lagergebäude. Am vierten Tag wurde der Hungerstreik eingestellt. Eine Kommission aus Budapest versprach, daß alle freigelassen würden, und achtzig wurden mit einem Entlassungsschein versehen.

Unterdessen liefen aber auch die Soldaten, die zur Verstärkung hierher gebracht worden waren, zur Regierung Nagy über und ermunterten die Gefangenen, auszubrechen. Aber alle warteten auf die Entlassungsscheine, die ja ein wichtiges Ausweispapier waren. Innerhalb von drei Tagen wurden alle freigelassen, welche Freude, wieder frei zu sein."

Ergänzend sollte man noch hinzufügen. Zu dem Zeitpunkt wo dieser Ungarn-"Erwachet!"-Artikel veröffentlicht wurde, war die Rutherford'sche Obrigkeitslehre von 1929 noch voll in Kraft. Man las unter anderem. Auch die Zeugen Jehovas nahmen an Streiks teil.

Eine Zeitblende.

Ums Jahr 1962/63 kippte die WTG die Rutherford'sche Obrigkeitslehre. Dies hatte dann in Krisensituationen auch praktische Konsequenzen. Erinnert sei insbesondere an die Zeit, Anfang der 1980er Jahre, als die Solidarnosc in Polen ihre Hochphase hatte. Auch da standen Streiks auf der Tagesordnung.

Der gewaltige Unterschied bestand jetzt allerdings darin, dass sich die Zeugen Jehovas dabei als ausgesprochene Streikbrecher betätigten, und sich dieses Umstandes auch rühmten.

1957er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

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