Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Kupfer-Koberwitz und Max Liebster

Wohl im Jahre 1957 erschien erstmals der Erinnerungsband des Journalisten Edgar Kupfer-Koberwitz mit dem Titel: „Die Mächtigen und die Hilflosen. Als Häftling in Dachau. Band I Wie es begann".

In einem Leserbrief an die „Ostsee-Zeitung" beispielsweise, zitierte der WTG-Funktionär Uwe L. aus dem Bericht des Edgar Kupfer-Koberwitz. Unter der Überschrift „Was sagen Augenzeugen" las man da:

„Kennst du die Bibelforscher?" „Ja, ich kenne sie." „Siehst Du, die gehen nicht in den Krieg, die lassen sich lieber töten, als daß sie einen anderen Menschen töten. Ich glaube, das sind die wahren Christen. … Sie trugen alles Brot zusammen, was sie hatten, nahmen sich die Hälfte davon und legten die andere Hälfte ihren Brüdern hin, ihren Glaubensbrüdern, die jetzt von Dachau kamen. Und sie bewillkommneten sie imd küßten sie, und bevor sie aßen, beteten sie und nachher hatten sie alle verklärte und glückliche Gesichter, und sie sagen, daß keiner mehr Hunger hatte. Siehst Du, da habe ich mir gesagt: Das sind die wahren Christen, so habe ich sie mir immer vorgestellt."

Andere Zeitzeugenberichte werden von L. offenbar als nicht zitierenswert angesehen.

Aber erst mal zu Kupfer-Koberwitz:

Der Bericht muss in seinem Kontext gesehen werden. Der darin Redende ist ein junger tschechischer Jude der weiter aussagte, und dass zitiert Herr L. nicht:

„Als wir Juden von Dachau in den Block kamen, versteckten die anderen Juden, was sie hatten, um nicht teilen zu müssen. … Draußen (außerhalb des KZ) haben wir uns gegenseitig geholfen, aber hier, wo es um Leben und Tod geht, will jeder sich zuerst retten und vergisst den anderen".

Und nach dieser Aussage wird dann zu den Bibelforschern übergeleitet, die Neuzugänge im KZ die aus einem anderen Lager kamen bewillkommneten. Und der zitierte Jude schließt seinen Bericht

„Warum können wir nicht so sein?"

Zum Ausdruck kommt in diesem Bericht also eine positiv bewertete Gruppensolidarität.

Es gibt aber noch andere KZ-Augenzeugenberichte, von Herrn L. ebenfalls nicht zitiert. Der Schriftsteller Ernst Wiechert etwa, der in Buchenwald in engem Kontakt mit den Bibelforschern (Zeugen Jehovas) war etwa äußert über sie in seinem Buch „Der Totenwald":

„Dumpfe, holzgeschnittene Gesichter hinter Brillengläsern, mit asketischen Lippen und der leisen, beschwörenden Stimme von Eiferern. Gesichter, die aus derselben Enge, derselben Not und derselben Verheißung geprägt schienen und von denen Johannes (das ist Wiechert) sich gut denken konnte, dass sie mit unbewegtem Antlitz zusehen würden, wie alle Ketzer auf einem langsamen Feuer in die ewige Verdammnis hinüberbrieten."

Bezogen auf die Ideologiegrundlage äußert er:

„Was nun allerdings bei näherem zusehen auf dem Grunde dieser Weltanschauung lag, war so beschaffen, dass es sich jeder ernsthaften Diskussion völlig entzog. Wer bis auf das Jahr genau weiß, wann diese Welt erschaffen wurde, und fast ebenso genau auch das Jahr, wann sie zugrunde gehen wird mit dem ist schwer zu disputieren und noch schwerer zu rechten, weil ein anderes Zeitalter, ja ein anderer Stern unter seinen Füßen zu legen scheint."

Sein abschließendes Urteil fasste er in die sinngemäßen Worte:

Das man sie achten und zugleich doch auch bedauern kann. Das ihr Verhalten auf dem Boden eines Dogmas beruht, dass mit dem theoretisch „denkbaren Dogma" vergleichbar sei, nur „Gras als Nahrung" zu essen.

„Man konnte sie alle achten, aber man musste sie auch alle bedauern. Der Märtyrer, der für den Glauben stirbt, dass man nur Gras essen dürfe (im übertragenem Sinne), begibt sich des Heiligenscheins um seine Stirn."

Heinrich Christian Meier etwa bewertet in seinem KZ-Bericht über das Lager Neuengamme, wie auch andere, dass menschliche Verhalten der Bibelforscher im KZ als positiv. Er macht aber die Einschränkung:

„Besonders vorzuwerfen ist ihnen lediglich, dass sie gegenüber den nicht zugehörigen Häftlingen von einer gleichgültigen Kälte waren, die wie eine Mauer schützend und drohend um ihre Gemeinschaft aufgerichtet war. Es gelang niemals jemandem, in die Gemeinschaft der Bibelforscher aufgenommen zu werden, es sei denn, dass er sich selbst zu den Lehren der Bibelforscher bekannt hätte."

Auf ein Beispiel menschlichen Versagens kommt der Katholik Johann Neuhäusler zu sprechen. Sein Vorwurf ist auch in der grundsätzlichen Aversion der Bibelforscher gegen die katholische Kirche zu sehen. Neuhäusler schrieb in seiner damaligen Eigenschaft als katholischer Priester:

„Darum durfte ich im KZ Dachau eine Woche lang nicht mehr zur Erholung ins Freie, weil ich einem Italiener in seiner Zelle die Beichte abnahm, ein Bibelforscher mich aber verriet, obwohl ich ihm viel Gutes getan hatte."

In ähnlichem Sinne äußert sich der evangelische Bischof Hans Lilje (der wegen dem 20. 8. 1944 verhaftet worden war, und im Gefängnis die Bibelforscher kennenlernte). Sein Votum enthält auch die Sätze:

„Wegen ihrer absoluten Wahrheitsliebe benutzte die Gestapo sie sehr gern in den verschiedenen Gefängnissen als Kalfaktoren, denn in ihrer Wahrheitsliebe gingen sie stets so weit, dass sie auch die Grenze der Kameradschaftlichkeit nicht gelten ließen. So war es für die Gestapo leicht, mit ihrer Hilfe die anderen Gefangenen zu beaufsichtigen."

Das nach 1945 mit am bekanntesten gewordene KZ-Buch ist das von Eugen Kogon „Der SS-Staat". Es beschränkt sich nicht auf einzelne Lager, sondern versucht eine Gesamtschau zu bieten, in deren Rahmen auch die Bibelforscher berücksichtigt wurden. Sein Gesamturteil fasst Kogon in die Worte:

„Das sie gleichwohl die Kraft hatten, für ihre isolierten paar scharfkantigen Glaubensdiamanten in jedem Augenblick nicht nur das Leben hinzugeben - was im Kollektiv zuweilen nicht einmal gar so schwer fällt -, sondern statt dessen auch die lange Kette täglicher kleiner Vorteile, an denen unser armes Menschenherz oft inniger hängt als am Ganzen, zu opfern."

Margarete Buber-Neumann etwa formulierte, dass sie eine „auffallende Ähnlichkeit in der Geisteshaltung der Bibelforscher und Kommunisten" feststellte. Zusammenfassend sagt sie:

„Die einen eiferten zu Ehren Jehovas, die anderen zu Ehren Stalins. Die einen forschten heimlich in der Bibel und stellten deren Inhalt, solange auf den Kopf, bis er sich zu ihren gewünschten Prophezeiungen umbiegen ließ. Die anderen hielten an Hand von Nazizeitungen heimlich Schulungskurse ab, machten aus schwarz weiß oder besser gesagt rot und entnahmen den Nachrichten das, was sie wünschten, nämlich eine Bestätigung vom baldigen Ausbruch der kommunistischen Revolution."

Ihr Gesamturteil kann man vielleicht am besten mit der Bemerkung wiedergeben:

„Dadurch, dass sie Bibelforscher wurden, hatte sich ihre Stellung mit einem Schlage gewandelt. Aus Unterdrückten, dienenden, mit dem harten Schicksal unzufriedenen Menschen wurden sie zu 'Auserwählten' erhoben. Ihr einstmaliger Groll gegen die ihnen persönlich widerfahrenen Ungerechtigkeiten verwandelte sich in Hass gegen alles, was nicht zu ihrer Glaubensgemeinschaft gehörte."

Zu dem von Herrn L. mit angeführtem Fakt der Wehrdienstverweigerung, ist meines Erachtens auch das Urteil der Kommunistin Lina Haag von Bedeutung, die in ihrem KZ-Rückblick auch über den Dialog den sie mit einer Bibelforscherin auf ihrem

gemeinsamen Transport ins KZ führte berichtet. Haag führt aus:

„Ihr verweigert den Kriegsdienst sage ich. Gut. Aber ist damit das Elend aus der Welt geschafft? Nein. Wofür geht ihr in den KZ zugrunde, für die Menschheit oder für Jehova? Für Jehova natürlich. Nicht für die hungernden Kinder, sondern für die Bibel. Ihr seid genau so wie die alten Märtyrer. _ Du opferst dich ja auch, sagt sie. Gewiss sage ich, aber nicht für den lieben Gott und nicht für Jehova, sondern für die Menschen. Sie sagt nur: Schade, du bist nicht im Glauben. Nein sage ich, ich bin nicht im Glauben, ich will auch gar nicht im Glauben sein. Mir ist wichtiger, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen und für ein erträgliches Leben zu kämpfen."

Abschließend sei vielleicht noch der Sozialdemokrat Benedikt Kautsky zitiert, der da äußerte:

„Die Korrektheit und Zuverlässigkeit war ihnen (den Bibelforschern) so zur zweiten Natur geworden, dass sie auch im Lager sie nicht ablegen können. Das hatte die unangenehme Nebenwirkung, dass sie als Vorarbeiter oft die ihnen von der SS erteilten Aufträge zu pünktlich ausführen wollten. Aber im übrigen habe ich nie einen Bibelforscher gegen einen andern Häftling grob oder gar handgreiflich werden sehen. Sie waren im allgemeinen hilfsbereit, vornehmlich natürlich zu ihresgleichen."

Dies alles ergibt ein differenzierteres Bild. Sich dabei nur Rosinen herauszupicken ist eine wenig hilfreiche Sache, die zwar das „schmoren im eigenen Saft" der Zeugen Jehovas bestätigt, den historisch Interessierten jedoch nicht zufriedenstellen wird.

Da nun Kupfer-Koberwitz namentlich von einem Juden berichtet, der sich positiv über die Bibelforscher äußert, bietet es sich auch an auf den Fall Max Liebster noch zu sprechen zu kommen, bei dem offenbar eine ähnliche Sachlage bestand.

Liebster, jüdischer Abkunft, erwischte wie so viele andere Juden, die berüchtigte Pogromnacht, von den Nazis verniedlichend „Reichskrisallnacht" genannt, vom 9. 11. 1938 in „kalter Art". Auch das Geschäft seines Arbeitgebers, bei dem Liebster beschäftigt war, wurde zerstört und geplündert. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde auch ihm zu grauenhaften Gewissheit. Die Chancen überleben zu können im Naziregime werden zusehends zur Illusion.

Sein Arbeitgeber hoffte noch, nach jenem Zäsur-Datum, emigrieren zu können. Unabdingbare Voraussetzung dafür war: Erstens viel Geld. Zweitens eine eidesstaatliche Erklärung von Angehörigen in den beabsichtigten Emigrationsländern. Sie würden wirtschaftlich für den Emigranten aufkommen. Das waren in der Praxis dann solch hohe Hürden, die für viele unübersteigbar waren. Zudem war nach dem offiziellen Beginn des Zweiten Weltkrieges, auch dieser Ausweg endgültig versperrt.

Liebster stand auch vor der Frage, nachdem der Laden seines Arbeitgebers zerstört, was er jetzt nun tun solle. Er meinte einen „Ausweg" dahingehend zu finden, einen Ortswechsel vorzunehmen. Er hoffte in der neuen Gegend kenne ihn niemand. In seinen Personalpapieren als Jude gekennzeichnet, erwies sich das als Illusion. Und so erwischte Liebster am 11. 9. 1939 die Verhaftung. In der Gefängniszelle lernte er erstmals einen Bibelforscher kennen und äußert sich über ihn positiv.

Die nächste Etappe für Liebster hieß KZ Sachsenhausen, mit all seinen Schrecken.

Inzwischen hatte die Naziführung beschlossen, ein weiteres KZ neu zu errichten, in Neuengamme. Da für seinen weiteren Ausbau Arbeitskräfte benötigt wurden, wurde Liebster zusammen mit 30 weiteren Juden von Sachsenhausen nach Neuengamme verlegt. Hier war eine Besonderheit zu registrieren, die es so in anderen KZ-Lagern nicht gab. Andere KZ- Lager hatten auch ihre „Bibelforscherblocks", und ihre Blocks für die anderen „Kategorien". Eine Mischbelegung gab es eigentlich nur in Ausnahmefällen. Jedoch beschloss der Kommandant von Neuengamme, dass über weite Strecken noch im Aufbau befindlich war, für die 30 neu eingelieferten Juden keinen eigenen Block aufzumachen. Der „Einfachheit" halber, steckte er sie in den Block, der schon mit Bibelforschern belegt war, mit der Begründung: „Sie haben ja den gleichen Gott".

Liest man Liebsters Bericht, drängt sich auch der Eindruck auf, die chronische Überbelegung, ein Kennzeichen vieler KZ-Baracken, war zumindest zu diesem Zeitpunkt, nicht in Neuengamme zu registrieren. Die 30 Neuzugänge konnten zu halbwegs annehmbaren Bedingungen, mit in jene Baracke integriert werden. Dort kam Liebster insbesondere mit dem Ernst Wauer seitens der Bibelforscher in nähere Berührung, über den er sich verschiedentlich positiv äußert, und den er in seiner Buchwidmung ausdrücklich namentlich mit erwähnt.

Das Verbleiben von Liebster in Neuengamme war kein Dauerzustand. Insgesamt lernte er wohl fünf KZs kennen. Zuletzt Buchenwald. Gerade in den kritischen Tagen des Jahres 1945, mit der überhastet angeordneten Lagerräumung, hatte Liebster es nur einigen glücklichen Umständen zu verdanken, zu überleben.

In einem einleitenden Geleitwort von Detlef G. liest man unter anderem:

„Nicht wenige Gefangene anderer Gruppen schlossen sich ihnen (den Bibelforschern) an. Zumeist waren es ausländische Häftlinge und Angehörige nichtpolitischer Kategorien, die sich dem Bibelforscherglauben gegenüber aufgeschlossen zeigten. In Einzelfällen kam es auch zu 'Bekehrungen' jüdischer Häftlinge."

Genau diese Kategorisierung als „nichtpolitische Gruppe" gilt es auch im Falle Liebster zu registrieren. Politische Gegner des Naziregimes, etwa die Kommunisten, waren für die Zeugen Jehovas in den KZs kein Missionsobjekt. Dieweil die eine feste, begründete Meinung hatten. Anders die Schwankenden, die da in der Regel gar nicht immer das tragische Schicksal verstanden, das sie ereilt hatte. Bei denen konnten die Zeugen Jehovas in der Tat „fündig" werden.

Nach 1945 sollte Liebster erneut erfahren, dass er in seiner Geburtsheimat nicht erwünscht ist. Einige seiner „lieben Mitbürger" gaben ihm denn auch unmißverständlich zu verstehen. Es wäre doch wohl „besser", wenn er als Jude im KZ verblieben und nie daraus zurückgekehrt wäre, als Ihnen, den Bundesrepublikanischen Spießbürgern, nun durch seine erneute Anwesenheit, ihr ach so „reines" Gewissen, nicht mehr ganz so rein erscheinen zu lassen. Kleinstadtmief verstärkte diese Tendenz noch.

Dies alles lässt es schon verstehen, dass Liebster die Konsequenz zog, sich nunmehr den Zeugen Jehovas mit „Haut und Haaren" zu verschreiben. Jenes unwirtliche Land Deutschland sollte denn auch für ihn nicht mehr länger „Heimat" sein. Er wurde, welch große „Karriere" Druckereiarbeiter der WTG in Brooklyn.

Am Rande noch mit vermerkt. „Der" Bibelforscher in Buchwald, der letzten KZ-Station von Liebster, war der Willi Töllner, ein charismatisch begabter Redner. Den Fakt, dass Töllner es war, der da diejenigen, die nicht voll auf seiner Linie schwammen, auch exkommunizierte, und das sogar unter den KZ-Bedingungen. Darauf geht Liebster in seinem Buchbericht nicht mit ein. Vielleicht hat er es damals auch so noch nicht mitbekommen.

Verklärt wird Töllner von ihm mit erwähnt, weil er offenbar, ganz kurze Zeit nach Naziherrschaftsende sein Täufer war. Denn zum Zeugen Jehovas wurde Liebster erst 1945 getauft.

Die Biographie von Max Liebster hatte schon einmal in wenig überzeugender Form, Andreas Müller darzustellen versucht, der da wohl in erster Linie sich selbst dargestellt hat, aber nicht seinen Biographie„Gegenstand".

Liebsters Buch umfaßt etwa 160 Seiten. Wer seinen Text aufmerksam liest registriert auch, das Redigierung und Endfassung wesentlich in den Händen von WTG-Funktionären lag. Das Buch seiner Frau hat 448 Seiten. Schon diese unterschiedliche Seitenzahl sagt meines Erachtens auch einiges über seine Aussagekraft aus.

1957er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

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