Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Stalin abgewertet

Das Revue passieren lassen im Rückblick des Jahres 1955, kann man eigentlich nicht verantwortlich vornehmen, wenn man ein Ereignis übergehen würde, dass sich in jenem Jahre in der Sowjetunion zutrug. Westliche Medien haben es durchaus gebührend gewürdigt. Die des Ostens hingegen, hielten es mehr mit dem totschweigen. Gerade aber das, was versucht wird unter den Teppich zu kehren, entfaltet nicht selten, seine spezifische Eigendynamik. So war es wohl auch in diesem Fall. Es verwundert überhaupt nicht, dass auch "Erwachet!" in seiner Ausgabe vom 8. 4. 1956 dieses Ereignis eine Notiz wert war. Man kann weiter gehen und noch sagen. Es wurde sachlich darüber berichtet. Insofern habe ich da keinen wesentlichen Dissens. Nur eine Gedankenassoziation drängt sich mir dabei doch auf, der man selbstredend in "Erwachet!" nicht begegnet.

Der Stalinismus wurde just in jenem Jahre, formal vom Thron gestoßen. Böse Zungen indes meinen, er lebt in einer variierten Form fort, und zwar in jener Organisation, die da die Zeitschrift "Erwachet!" herausgibt.

Vielleicht nicht in der Form des politischen; sehr wohl aber in der Form des "Endzeit-Stalinismus". Die buchstäblichen Stalinisten, mussten nun ihr Credo, dass die "Partei immer recht habe", in der Form eines Lippenbekenntnisses zu Grabe tragen. Mehr als ein Lippenbekenntnis war es ohnehin nicht. Auch bei den Zeugen Jehovas wird man, wenn man es darauf anlegt, ähnliche Lippenbekenntnisse finden, die genau nur das sind. Und nicht einen Zoll mehr.

Nun aber zu dem "Erwachet!"-Bericht.

Unter der Überschrift "Stalin abgewertet" las man in dieser Ausgabe:

"In Moskau fand der 20. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion statt, an dem rund 1300 Delegierte teilnahmen, die 8 Millionen Mitglieder vertraten. In seinem Rechenschaftsbericht äußerte sich Parteisekretär Kruschtschew u. a. auch über das Thema der Koexistenz. Er sagte, daß zwischen der von der Sowjetunion vorgeschlagenen 'Politik der Koexistenz' und dem Sieg des Kommunismus in der Welt kein Widerspruch bestehe. Es handle sich um zwei verschiedene Sachen; im ersten Fall denke man an die Beziehungen zwischen den Staaten, im zweiten Fall habe man es mit einer ideologischen Frage zu tun. Die Sowjetunion werde auf ihre ideologischen Ziele niemals verzichten. Sie sei davon überzeugt, daß der Sozialismus in der Welt triumphieren werde. Es gebe aber mehrere Wege zur Erreichung dieses Zieles. Es sei nicht nötig, zur Gewalt zu greifen, man könne auf parlamentarischem Weg zum Erfolg gelangen.

'Das Hauptziel unserer Bemühungen ist der Ausbruch des Sozialismus aus den Grenzen eines Landes und seine Umwandlung in ein Weltsystem.'

Ganz besonders wurde hervorgehoben, daß die Sowjetunion nach den Grundsätzen Lenins bestimmt werde.

Als sensationell wurde die Rede Mikojans, eines der Vizeministerpräsidenten empfunden. Er verwarf gewisse Thesen Stalins, verurteilte scharf den um Stalin aufgezogenen Persönlichkeitskult und stellte fest, daß man 20 Jahre lang keine kollektive Führung im Sinne Lenins gehabt habe. Dies habe sich äußerst negativ ausgewirkt. Mikojan wandte sich auch scharf gegen die sowjetischen Geschichtsbücher, 'in denen einige Leute verherrlicht, andere aber überhaupt nicht erwähnt werden.' Verdiente Kommunisten seien sogar später als Volksfeinde bezeichnet worden.

- Dieser 20. Kongreß hat demnach mit Stalin abgerechnet. Der Stalin-Mythos wurde zergliedert. Statt den toten Diktator zu verherrlichen, legte man sein Sündenregister vor. Damit wird die Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands wieder umgeschrieben."

"Erwachet!" lies es nicht bei diesem relativ neutralem Bericht bewenden. In der Ausgabe vom 22. 9. 1956 legt man nochmals kräftig nach. Es ist eines, eine politische Meinung zu haben, die dem Kontrahenten keineswegs "gefallen" muss. Ein anderes ist es jedoch, wird diese dezidierte Meinung über eine internationale Organisation verbreitet, die vorgibt "neutral" zu sein. Hierzu muss man sagen: Es gibt dabei nur zwei Varianten. Entweder man steht zu der Meinung, was durchaus zuzugestehen ist. Dann aber kann man nicht mehr rechtmäßig für sich in Anspruch nehmen, "neutral" zu sein. Oder man hält sich bewusst, noch dazu als internationale Organisation, aus diesem Glatteis-Gebiet heraus. Genau das aber tat die Zeugenorganisation nicht. Sie konterkarierte damit einmal ihren ihre Phrase, angeblich "neutral" zu sein.

Unter der Überschrift "Und wieder stürzt ein Götze" führte "Erwachet!" unter anderem aus:
"... In der vergangenen Monaten ist nun auch der Götze Stalin mit großem Getöse zu Boden gestürzt.

Noch vor wenigen Jahren schien es, die Kommunisten könnten ihren Götzen nicht genug mit Lob überhäufen. Stalin war für sie der Quell der Weisheit, 'der größte Mensch auf diesem Planeten', 'der größte Führer der ganzen Menschheit', 'der genialste Wissenschaftler', 'das größte Genie der Menschheit', 'der weiseste Prophet', ja, und. sogar 'die Sonne des Weltalls'! Aber das wurde über Nacht anders, Der Götze Stalin, einst die Sonne der Kommunisten, stürzte krachend zu Boden und sein Licht erlosch.

Seine Bilder sind aus den Kunstgalerien entfernt worden. Institutionen und Organisationen, die seinen Namen trugen, werden umgetauft, die Geschichte der kommunistischen Partei Rußlands wird. umgeschrieben, aber diesmal nicht auf seinen Befehl. Allein in der 70 000 Propagandisten mit der Aufgabe betraut worden, den Stalin-Mythos zu zerstören Ukraine sind. Viele Personen, die Stalin im Zuge der Säuberungsaktionen in Rußland und den Satellitenländern umgebracht oder abgesetzt hatte, werden rehabilitiert und als Helden oder Märtyrer gepriesen, und ihre Bilder sind wieder in den Museen ausgestellt!

In ihrer offiziellen Erklärung über die Entthronung Stalins schrieb die Zeitung 'Prawda' unter anderem: 'Weil es ihm (Stalin) an Bescheidenheit fehlte, wies er die Huldigungen und Ehren, die man ihm darbrachte, nicht zurück, sondern förderte diesen Kult noch in jeder Art und Weise. Im Laufe der Zeit nahm dieser Persönlichkeitskult monströse Formen an und schadete der Sache sehr.' Über Nacht ist Stalin ein Monstrum geworden. - New York Times, 28. März 1956.

Keine Kritik an Stalin scheint jetzt streng genug zu sein; ohne Zweifel ist sie auch völlig berechtigt. Er gilt nicht mehr als das militärische Genie, das den zweiten Weltkrieg gewann, sondern wird jetzt beschuldigt, Hunderttausende von russischen Soldaten unnötig in den Tod gejagt zu haben, weil er die Sowjetunion nicht rechtzeitig auf den Angriff der Nazis vorbereitet habe; er habe nicht für die notwendige Ausrüstung gesorgt und, die Meinung seiner Armeeführer mißachtend, militärische Operationen befohlen, die verheerende Mißerfolge gewesen seien. Er wird auch beschuldigt, im Jahre 1937 viele Führer der russischen Armee und Tausende von schuldlosen Offizieren ermordet zu haben; durch die Beseitigung Tausender Industrieller die russische Wirtschaft nahezu gelähmt zu haben; ein Feigling gewesen zu sein, der vor den anrückenden Deutschen aus Moskau geflohen sei; ein Sadist gewesen zu sein, der sich daran ergötzt habe, Menschen zu quälen, bis sie das gestanden hätten, was er habe hören wollen. Auch sei Stalin, was - in den Augen der Kommunisten - am schlimmsten sei, kein echter Kommunist gewesen.

Man hört zahllose Vermutungen ...

Oder geschah es, weil die russischen Führer erfahren haben, daß Stalin jahrelang ein zaristischer Spitzel gewesen ist? Diese Anklage erhob einer der jetzt im Ausland lebenden höchsten Offiziere der NKWD, der gefürchteten russischen Geheimpolizei. Er sagte, daß die Entdeckung dieser Tatsache die führenden russischen Generäle im Jahre 1937 veranlaßt habe, die Beseitigung Stalins zu planen, Stalin habe jedoch davon gehört und sie auf Grund der Anklage, mit Deutschland zusammengearbeitet zu haben, beseitigen lassen. Gleichzeitig habe er alle, die davon wußten oder davon hätten wissen können, auf die Seite schaffen lassen - nicht weniger als 5000 Offiziere. - Life , 23. April 1956."

Es kann hier nicht darum gehen, den Details von Stalins Biographie im Einzelnen nachzugehen. Es fragt sich jedoch, was ein halbes Jahrhundert später, davon als gesichertes Wissen, beispielsweise in Lexika dazu eingegangen ist. Und da scheint mir, als ein Beispiel, dass die Unterstellung "Stalin habe auch eine Phase als zaristischer Spitzel" gehabt, eben nur eine Unterstellung ist; aber in keiner Weise je bewiesen wurde. Die "Wikipedia" beispielsweise legt sich in ihrem Stalin-Artikel dazu auf die Linie fest:

"Zwischen dem September 1936 und dem Dezember 1938 wurden schätzungsweise etwa 1,5 Millionen Menschen umgebracht. Umstritten bleibt in der Forschung, inwieweit die Verfolgungen von zum Teil treuen Anhängern einen rationalen Kern hatten, oder ob man von reinen Wahnvorstellungen Stalins reden muß."

1956er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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