Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Muckertal

Sowohl Barmen als auch Elberfeld sind heute Bezirke der Stadt Wuppertal. Solche Eingemeindungen gab und gibt es auch andernorts - das steht nicht in Frage. Fakt ist aber auch dass in der Frühzeit der Bibelforscher (jetzige Zeugen Jehovas) in Deutschland, Elberfeld und Barmen die geographischen Ausgangspunkte waren, von der diese Organisation hierzulande startete.

Nun erschien just im Jahre 1956 ein Buch von Gerhart Werner mit dem Titel „Die Stillen in der Stadt". Laut Untertitel: „Eine Betrachtung über die Sekten, Freikirchen und Glaubensgemeinschaften Wuppertals". Dieweil eben in jener Gegend auch die Zeugen Jehovas ihren Start hatten, mag es nicht uninteressant sein, einige Aussagen aus diesem Buch einmal etwas näher vorzustellen. Genannter Autor teilt unter anderem mit:

Seit alters führt die Wupperstadt den Spottnamen „Muckertal", weil hier protestantischer Eigenwille und mystische Verspanntheit z. T. die wunderlichsten Blüten trieb.

Hier im Tal und im Bergischen Land hat sich die evangelische Lehre nicht durch fürstliche Begünstigung durchgesetzt - im Gegenteil, die Landesherren sind stets katholisch gewesen -, sondern ist von unten herauf als ursprüngliche Volksbewegung aufgebrochen, als eine Volkskirche, die sich ihre Unabhängigkeit aus eigener Initiative zäh genug erkämpfte.

In religiösen Kreisen gilt Wuppertal als ein geistiges Zentrum. „In Wuppertal ist eben jeder religiös und fanatisch", schreibt Wilhelm Schäfer, „vom Atheisten bis zum Baptisten".

Es ist wohl nicht zu viel behauptet, wenn man sagt, daß jede neue Sektenbildung in Deutschland hier sofort mit einer Gemeinde ebenfalls in Erscheinung tritt, die dann mitunter auch noch örtliche Abspaltungen oder Zusammenschlüsse mit verwandten Gruppen erfährt.

Manche Sekte ist überhaupt von hier ausgegangen oder hat, wenn sie ausländischen Ursprungs war, hier ihre erste deutsche Gemeinde gegründet.

Auch Friedrich Engels hat später in seiner Jugendschrift „Briefe aus dem Wuppertal" den Typ des hiesigen Handwerksmeisters geschildert, der ein eifriger Bibelleser und Choralsänger war und in seiner Werkstatt mit seinen Gesellen geistliche Andachten abhielt, bei denen die Hauptsache aber „immer die Verdammung der lieben Nächsten" war.

Freiligrath schimpft saftig über das „verdammte Muckernest", die „Sektenschlucht", das „vertrackte Traktättethal", das „verketzernd" sei wie kein zweites. „Mit der Toleranz ist es hier nicht weit her".

Und in der Tat, man betrachte so ausgesprochene Textilgegenden in Deutschland wie Schlesien und das Zwickauer Land in Sachsen - man wird immer finden, das dem Weberhandwerk ein ausgeprägtes Sektenwesen entspricht.

Am 3. Juli 1850 wurde im Elternhaus des Predigers Neviandt in Mettmann der „Evangelische Brüderverein" gegründet, der, zunächst in der Tradition des Spenerschen Pietismus fußend, innermissionarische Ziele vertrat. Er betonte das allgemeine Priestertum aller Gläubigen und geriet, da er eine freie, persönliche innermissionarische Tätigkeit forderte, in Gegensatz zur Landeskirche. Ein Pfarrer äußerte damals: „In was für einer Zeit Leben wir! Jeder Schuster und Schneider rühmt sich, den Heiligen Geist zu haben!

Der Sekretär und spätere Führer des Brüdervereins, der sich dann in Elberfeld betätigte und hier seine Zentrale hatte, war Karl Brockhaus, ein Verwandter des Gründers des Leipziger Brockhaus-Verlages. Ab 1848 lebte er als Hauptlehrer an der Volksschule am Neuenteich in Elberfeld und gab die Zeitschrift des Vereins „Der Botschafter in der Heimat" heraus. Bibelstunden, die er anfänglich gab, wurden ihm von der Kirche verwehrt. 1850 legte er sein Lehramt nieder und widmete sich ganz dem Brüderverein. Da dieser aber im Gegensatz zu seiner „Heiligungstheorie" ihm gar zu sehr das „Arme Sündertum" vertrat, schied er 1852 aus. Aus dem Kreis seiner Anhänger, die als Wiedertäufer und Dissenter, Separatisten und Winkelprediger verschrien waren, bildete sich später die „Christliche Versammlung", deren Gläubige oft unzutreffend als „Darbisten" bezeichnet werden.

Mit diesem englischen Sektierer haben sie wohl Berührungspunkte, aber die Gemeinde lehnt es ab, sich nach dem Namen eines Menschen zu nennen, obwohl Darby von 1854 ab mehrmals in Elberfeld zu Gast war und zusammen mit zwei Hilfsarbeitern die sog. „Elberfelder Bibelübersetzung" oder „Darbistenbibel" schuf. 1855 erschien das Alte Testament, 1871 die ganze Bibel.

1854 wurde der Titel der Zeitschrift umgeändert und hieß nun „Der Botschafter des Heils in Christo". Die Versammlung, deren Zentrale heute der freikirchliche Brockhaus-Verlag in Vohwinkel ist.

Die erste Adventistengemeinde ist ebenfalls auf Wuppertaler Boden entstanden.

1894 traten in Barmen die ersten Bibelforscher auf. Der amerikanische Pastor Russell, der Gründer dieser Sekte hielt schon im Jahre 1902 einen Vortrag in der „Concordia" auf der Lindenstraße. Im Anschluß daran wurde die erste Landesleitung der „Internationalen Bibelforschervereinigung", die damals noch „Wachtturm- Bibel- und Traktatgesellschaft" hieß, für Deutschland in Barmen gegründet, wo sie von 1902 bis 1922 verblieb, ehe man sie nach Magdeburg verlegte. Nach dieser Übersiedlung hatte die Barmer Gruppe ihr Versammlungslokal in der Lindenstraße, wo es 1943 durch den Bombenangriff zerstört wurde.

Im Juni 1933 wurde die Sekte, die seit 1931 den Namen „Jehovas Zeugen" führt, bekanntlich von Hermann Göring verboten, da sie ein Unterschlupf für Juden und Kommunisten geworden sei. Ihre tapfere Haltung während der Verfolgungen im Dritten Reich ist bekannt. Angeblich sollen die vielen Vermerke „Jesaja 41, Vers 24", die während dieser Zeit besonders im „Muckertal" auf die Stimmzettel geschrieben wurden, auf das Konto der hier außerordentlich zahlreichen Zeugen Jehovas kommen. Die erbosten nationalsozialistischen Ortsgruppenleiter, die daraufhin diese Bibelstelle aufschlugen, lasen dann bekanntlich: „Siehe, ihr seid aus nichts, und euer Tun ist aus nichts, und euch wählen ist ein Greuel".

Nach dem Kriege bauten die Zeugen Jehovas, die hier eine rege Aktivität entfalteten und wohl die rührigste Sekte in Wuppertal sind, ihre Organisation, die sehr angewachsen war, rasch wieder auf, sorgten für ihre aus den Gefängnissen und Konzentrationslagern entlassenen Glaubensbrüder und starteten eine außerordentlich rege Propaganda. Während es früher nur die Gruppe „Elberfeld-Barmen" gab, existieren heute deren drei in Barmen, Elberfeld und Cronenberg, die in 18 „Buchstudiengruppen" aufgeteilt sind und an deren Spitze ein „Stadtdiener" steht. Da sie gehalten sind, die Werbung für ihre Zeitschrift „Der Wachtturm" in unaufdringlicher Form durchzuführen, bieten sie diese in sog. "Feldgottesdienst"-Stunden schweigend zum Verkauf an.

Bemerkenswert ist, daß die während des Dritten Reiches von der NSDAP geförderte antikirchlich-neuheidnische „Deutsche Glaubensbewegung" in Wuppertal als organisierte Gemeinschaft nicht zum Zuge kam, im Gegensatz zu anderen Großstädten. Die religiös aktiven Nationalsozialisten schlossen sich in Wuppertal entweder den „Deutschen Christen" innerhalb der Evangelischen Kirche an oder traten, falls sie gottgläubig gesinnt waren, lediglich aus der Kirche aus und nahmen an den Veranstaltungen der Deutschen Glaubensbewegung teil, die andernorts stattfanden. In Wuppertal selbst kam es zu keiner Gründung einer Ortsgruppe der „Deutschen Glaubensbewegung".

Ebenfalls in das Jahr 1945 fällt die Zeit der Wiedergründung der „Freireligiösen Gemeinde Wuppertal", die im Dritten Reich verboten war. Davon der anfangs amerikanischen Besatzungsmacht in Wuppertal die Wiedergründung einer Freidenkerorganisation damals nicht gestattet wurde, weil sie bei ihnen im Verdacht der Förderung des Nationalsozialismus stand, traten die Freidenker den „Gesinnungsfreunden" der Freireligiösen Gemeinde bei, wo sie alsbald das Übergewicht erhielten, obwohl die freireligiösen in der Gegenwart großen Wert darauf legen, eine religiöse Gemeinschaft zu sein, und sich sogar auf die Tradition der deutschen Mystik für die Stützung ihrer dogmenfreien Religiosität beziehen. … Der Versuch, in Wuppertal später eine eigentliche Gottlosenbewegung wieder ins Leben zu rufen, ist hoffnungslos gescheitert. Auf der vorgesehenen Gründungsversammlung fanden sich außer dem Veranstalter - nur zwei Zeitungsberichterstatter ein.

Um auf dem im Text mit genannten Friedrich Engels noch mal zurückzukommen. Auch der ist ja im „Muckertal" aufgewachsen in einer frommen Familie. Später sah sein Lebensweg dann etwas anders aus. Immerhin erfolgte sein „Wandlung" nicht „über Nacht". Engels, 1820 geboren, setzte sich dann in seinen „Sturm- und Drangjahren" besonders auch mit religiösen Fragen auseinander. Dies insbesondere auch in der Form eines umfänglichen Briefwechsels. Sein Briefpartner hieß Friedrich Graeber, und aus den überlieferten Briefen von Engels an ihn, kann man durchaus einige charakteristische Eindrücke gewinnen.

So schrieb er ihm beispielsweise am 30. 7. 1839:

„Wär ich nicht in den Extremen der Orthodoxie und des Pietismus aufgewachsen, wäre mir nicht in der Kirche, der Kinderlehre und zu Haus immer der direkteste, unbedingte Glaube an die Bibel und an die Übereinstimmung der biblischen Lehre mit der Kirchenlehre, ja mit der Speziallehre jedes Pfarrers vorgesprochen worden, so wäre ich vielleicht noch lange am etwas liberalen Supranaturalismus hängengeblieben."

Weitere, durchaus aufschlußreiche Details kann man auch aus seinen weiteren Briefen entnehmen. So schrieb er etwa am 23. 4. 1839:

„Ich begreife nicht, wie die orthodoxen Prediger so orthodox sein können, da sich doch offenbare Widersprüche in der Bibel finden. Wie kann man die beiden Genealogien Josephs, des Mannes der Maria, die verschiedenen Angaben bei der Einsetzung des Abendmahls (dies ist mein Blut, dies ist das Neue Testament in meinem Blut), bei den Besessenen (der 1. erzählt, der Dämon fuhr bloß aus, der 2. er fuhr in die Säue), die Angabe, Jesu Mutter sei ausgezogen ihren Sohn zu suchen, den sie für wahnsinnig hielt, obwohl sie ihn wunderbar empfangen etc., mit der Treue, der wörtlichen Treue der Evangelisten reimen?

Wo sagt ein Apostel, daß alles, was er erzählt, unmittelbare Inspiration ist? Das ist kein Gefangennehmen der Vernunft unter den Gehorsam Christi, was die Orthodoxen sagen, nein, das ist ein Töten des Göttlichen im Menschen, um es durch den toten Buchstaben zu ersetzen."

Oder wenn er am 15. 6. 1839 schrieb:

„Was soll überhaupt ein Geschlechtsregister, das ganz überflüssig ist, da alle 3 synoptischen Evangelien ausdrücklich sagen, Joseph sei nicht Jesu Vater?

Ich will Dir nur grade heraussagen, daß ich jetzt dahin gekommen bin, nur die Lehre für göttlich zu halten, die vor der Vernunft bestehen kann. Wer gibt uns das Recht, der Bibel blindlings zu glauben? Nur die Autorität derer, die es vor uns getan haben. Ja, der Koran ist ein organischeres Produkt als die Bibel, denn er fordert Glauben an seinen ganzen fortlaufenden Inhalt. Die Bibel aber besteht aus vielen Stücken vieler Verfasser, von denen viele nicht einmal selbst Ansprüche auf Göttlichkeit machen. Und wir sollen sie, unserer Vernunft zuwider, glauben, bloß weil unsere Eltern es uns sagen?

Ferner: da ist Strauß „Leben Jesu", ein unwiderlegliches Werk. Warum schreibt man nicht eine schlagende Widerlegung? Warum verschreit man den wahrhaftig achtbaren Mann? … Ja, es gibt wahrhaftig Zweifel, schwere Zweifel, die ich nicht widerlegen kann. Ferner die Erlösungslehre: Warum zieht man sich nicht die Moral draus, wenn sich einer freiwillig für den anderen stellt, den zu strafen? Ihr würdet es alle für Unrecht halten; was aber vor Menschen Unrecht ist, das soll vor Gott die höchste Gerechtigkeit sein?"

Und in einem weiteren Brief äußert er:

„Als die Zürcher Geschichte mit Strauß losbrach, kannst Du dir gar nicht denken, wie greulich die „K(irchen)-Z(eitung)" Strauß Charakter verleumdet und verschrieen hat, während er sich doch - darin haben alle Nachrichten übereingestimmt - durchaus nobel bei der ganzen Sache benommen hat.

Übrigens, wenn das orthodoxe evangelische Christentum die Religion der Liebe genannt wird, so kommt mir das vor wie die ungeheuerste Ironie. Nach Eurem Christentum werden neun Zehntel der Menschen ewig unglücklich und ein Zehntel wird glücklich, Fritz, und das soll die unendliche Liebe Gottes sein? Bedenke, wie klein Gott erscheinen würde, wenn das seine Liebe wäre.

Mit Männer wie Schleiermacher und Neander will ich mich schon verständigen, denn sie sind konsequent und haben ein reines Herz; beides suche ich in der „Evangelischen Kirchen-Zeitung" und den übrigen Pietistenblättern vergebens. Besonders vor Schleiermacher hab ich ungeheure Achtung. Bist Du konsequent, so mußt Du ihn freilich verdammen, denn er predigt nicht Christum in Deinem Sinne, sondern eher im Sinne des Jungen Deutschlands … Aber er ist ein großer Mann gewesen, und ich kenne unter den jetzt lebenden nur einen, der gleichen Geist und gleiche Kraft und gleichen Mut hat, das ist David Friedrich Strauß.

Ich habe mich gefreut, wie Du Dich so rüstig aufgemacht hast, mich zu widerlegen, aber eins hat mich geärgert, ich wills Dir nur geradeheraus sagen. Es ist die Verachtung, mit der Du von dem Streben zur Vereinigung mit Gott, von dem religiösen Leben der Nationalisten sprichts. Du liegst freilich behaglich in Deinem Glauben wie im warmen Bett und kennst den Kampf nicht, den wir durchzumachen haben, wenn wir Menschen es entscheiden sollen, ob Gott ist oder nicht; Du kennst den Druck solcher Last nicht, die man mit dem ersten Zweifel fühlt, der Last des alten Glaubens, wo man sich entscheiden soll, für oder wider, forttragen oder abschütteln; aber ich sage es dir nochmals. Du bist vor den Zweifel so sicher nicht, wie Du wähnst, und verblende Dich nicht gegen die Zweifelnden. Du kannst selber einst zu ihnen gehören, und da wirst Du auch Billigkeit verlangen. Die Religion ist Sache des Herzens, und wer ein Herz hat, der kann fromm sein; wessen Frömmigkeit aber im Verstande oder auch in der Vernunft Wurzeln hat, der hat gar keine."

Ein im Jahre 1887 in Heilbronn erschienenes Buch von A. Sincerus, mit dem Titel: "Ein Gang durchs Wupperthal in diesem Jahrhundert" notiert auch noch (und dieses Zitat mag man dann ja als durchaus charakteristisch ansehen, auch im Kontext der sonstigen Ausführungen von Sincerus):

"Bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts war im ganzen Thal keine einzige Buchhandlung gewesen. Fremde kamen selten hierher. Die Entwicklung der Menschheit stand hier fast still."

1956er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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