Eine kirchenpolitische Wertung aus dem Jahre 1955

Das SED-Regime hatte nach seinem 1950er Zeugen Jehovas-Verbot, nunmehr rund fünf Jahre Zeit gehabt, über diese Entscheidung weiter nachzudenken. Im Bestand des Bundesarchives (DO 4 - 140) ist dazu ein vom 1. 3. 1955 datierter interner Vortrag eines höheren Funktionärs überliefert, der eine Gesamtskizzierung der damaligen Kirchenpolitik vornimmt. Der Verfasser wird nicht namentlich genannt, ist aber eindeutig den „Kirchenpolitispezialisten" zuzuordnen. Er nimmt eine Gesamtschau vor, in der die Zeugen Jehovas nur als eines von mehreren Themen gestreift werden. Nachstehend einiges vom wesentliche Inhalt seiner Ausführungen:

„Die Politik der Partei gegenüber der Kirche umfasst einige Probleme. Da ist einmal die Frage der Verbreitung unserer Weltanschauung, der Verbreitung naturwissenschaftlicher, atheistischer Erkenntnisse und andere Maßnahmen, die darauf eingestellt sind, die Massenbasis der Kirche und ihren Einfluss auf die Massen einzuschränken.

Das ist zweitens der Kampf gegen die reaktionären Kräfte in der Kirche und deren ständiges Bemühen, die Kirche und die Religion zur Unterstützung der Politik der Reaktion auszunutzen. Das ist aber auch der ständige Kampf für die Stärkung fortschrittlicher Kräfte in der Kirche und vor allem - ich betone: vor allem! - die Gewinnung der Millionenmassen der christlichen Bevölkerung für die aktive Unterstützung der Politik der Partei.

Ich will auf dieses Problem hier nicht eingehen, obwohl wir die kleinen Religionsgemeinschaften nicht übersehen dürfen. Auch hier wäre es grundsätzlich falsch, die Dinge über einen Leisten zu schlagen. Es gibt unter den kleinen Religionsgemeinschaften Menschen, die verhältnismäßig aufgeschlossen uns gegenüber sind, manchmal viel aufgeschlossener als die Mitglieder anderer Kirchen, wobei man berücksichtigen muss, dass sie in der Vergangenheit oft verfolgt worden sind. Selbstverständlich ist - und das ist ein kompliziertes Problem - dass die meisten und stärksten dieser Sekten und kleinen Religionsgemeinschaften traditionell ihre Zentren in England und Amerika haben.

Gefährlich sind die Zeugen Jehovas in Verbindung mit der Propaganda des Atomkrieges durch die amerikanischen und Adenauerschen Kriegsaggressoren; denn diese Leute verbreiten gerade jetzt sehr intensiv die Lehre, dass die Atombombe die endlich gefundene göttliche Waffe sei, die den von ihnen lang ersehnten Weltuntergang herbeiführt, bei dem nur sie übrig bleiben.

Nun gestattet mir, einiges zur politischen Lage zu sagen. Hier muss man offen und kritisch vor dem ganzen sozialistischen Lager sagen, dass die Lage bei uns sehr unbefriedigend ist. So unbefriedigend, wie auf keinem einzigen anderen Gebiet unserer Politik.

Was sofort gegenüber allen befreundeten Ländern auffällt ist die Tatsache, dass bei uns als einzigem Land im sozialistischen Lager, die Kirche bis heute einer der Arbeiter- und Bauernmacht feindlichen Leitung steht, dass sie von dieser Führung offen als Waffe zur Unterstützung der politischen Reaktion gegen uns benutzt wird. Bis heute werden immer wieder, vor allem in besonders wichtigen Situationen, für die ganze Republik verbindliche Kanzelabkündigungen und Verleumdungen gegen unsere Arbeiter- und Bauernmacht verfasst …

Die Kirchenführung benutzt, ohne eine Klärung zu versuchen, jeden Anlass, eine Hetzkampagne gegen uns zu entfalten. Wo sie keinen Anlass hat, aber ihre äußeren Auftraggeber und ihr inneres 'Gewissen' sie dazu drängen, suchen sie einen Anlass. …

Es sind auch Maßnahmen materieller Art erforderlich. Wir geben zur Zeit 13 Millionen jährlich an direkten Zuwendungen und 15 Millionen in anderer Form, so zum Beispiel durch die theologischen Fakultäten der Universitäten, durch Zuwendungen von Gemeinden. Es gibt bei uns kleine Gemeinden, die bis zu 22.000,-- DM an Sonderabgaben bis heute an die Kirche leisten.

Es ist vorgesehen, dass zunächst einmal ein bescheidener Fonds bei der Abteilung des Ministeriums des Innern gebildet wird, um solchen Pfarrern, die irgendwie von der Kirche gemaßregelt werden oder fortschrittlichen Pfarrern, die irgendwelche Dinge benötigen, wenn sie zu Konferenzen gehen, Vergünstigungen zu gewähren. Ein Teil dieser Mittel wird den Vorsitzenden der Bezirke zur Verfügung stehen, so dass sie in Zukunft nicht nur allgemeine Unterhaltungen mit ihnen zu führen brauchen, sondern ihnen dabei helfen können, wenn sie wirklich in Not sind. Vorausgesetzt natürlich, dass sie sich loyal unserem Staat gegenüber verhalten.

Die Diskussion über die Teilnahme der Kinder unserer Genossen an der Jugendweihe ist ein erster Schritt, um einige unmögliche ideologische Halbheiten in der Stellung zur Religion und Kirche einmal in der Partei zur Diskussion zu stellen.

Wir stellen noch nicht die Frage des Religionsunterrichtes, der Trauung, der Zugehörigkeit zur Kirche, obwohl auch diese Fragen einmal für solche Genossen aufgeworfen werden müssen, die nicht durch wirklichen Glauben mit der Kirche verbunden sind."

1955er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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