Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Sie wählte den Tod

Spricht man Jehovas Zeugen auf das Thema Bluttransfusionen an, begegnet man nicht selten Abwiegelungen. Alles "halb so schlimm". Einige meinen gar, Todesfälle gebe es deswegen "kaum". Seitens der WTG wird indes selten über eingetretene Todesfälle berichtet; dass ist richtig festgestellt. Wenn solche Fälle zur Sprache kommen, dann ist es doch wohl eher die säkulare Presse, die das gegebenenfalls mal thematisiert. Die Doktrin der Bluttransfusions-Verweigerung wurde von der WTG erst nach 1945 eingeführt. Das Jahr 1954 war ja noch nicht allzuweit von diesem Einführungsdatum entfernt; gehört somit noch zur Frühzeit dieser Doktrin. Und da ist es bemerkenswert, dass selbst die WTG einmal über einen solchen Todesfall berichtete. Zwar heroisch verklärt; aber immerhin berichtet. Im Wachtturm 1954 (S. 733) konnte man unter anderem lesen:

Die dreizehnjährige Renate Große klagte immer wieder über Müdigkeit. Der Hausarzt wies ihre Klage ihrer Mutter gegenüber ab mit den Worten: "Junge Mädchen simulieren gern. Machen Sie sich darum keine Sorgen." Als es Renate aber in der Schule schwindlig wurde und sie heimgebracht werden mußte, wurde sie ins Krankenhaus verbracht, wo man ihr die Diagnose auf Gelenkrheumatismus stellte. Als indes die Behandlung für Gelenkrheumatismus nichts half, wurde ein Spezialist für Blutkrankheiten herzugerufen, und er sagte, es sei Leukämie, Blutzellenkrebs, wofür noch kein Heilmittel gefunden sei und wofür Ärzte gewöhnlich Bluttransfusionen empfehlen.

Renates Mutter, die Zeugin Jehovas ist, erhob Einspruch gegen Bluttransfusionen, worauf der Spezialist aufbrauste. Es war ihm ganz unverständlich, wie eine Mutter, die Liebe zu ihrem Kinde haben will, das letzte Heilmittel ablehnen könne, und so wurde ihm der Standpunkt der Zeugen Jehovas in bezug auf Bluttransfusionen in Gegenwart des Chefarztes und des Stationsarztes erklärt. Ein Arzt, der Zeuge Jehovas ist, prüfte den Fall und erklärte, die Krankheit sei so weit vorgeschritten, daß Renate nur noch sechs Wochen leben werde.

Als Verwandte, Krankenschwestern und andere Zimmerpatienten von dieser Stellungnahme hörten, redeten sie auf die Mutter und auf Renate ein, doch umsonst. Der Stationsarzt, ein Katholik, bestand darauf, man müsse die Einwände der Mutter unbeachtet lassen, und er wandte sich wiederholt an Renate selbst. Eines Abends, um 9.30 Uhr, setzte er sich an ihr Bett und führte ihr ein schreckliches Bild vor Augen, in welcher Weise und wie bald sie sterben werde - doch alles umsonst. Nachdem er sie verlassen hatte, schrieb Renate einen Brief, in dem sie ihre Überzeugung zum Ausdruck brachte, so daß alle wissen könnten, daß er auch ihr Entschluß und nicht nur der ihrer Mutter sei.

Als sie einige Wochen später besucht wurde, war sie freudig, obwohl sich ihr Zustand sichtbar verschlimmert hatte. Sie wollte neue Dinge aus den Zeitschriften "Der Wachtturm" und "Erwachet!" hören und sprach wenig über ihre Krankheit. In der Tat, sie machte Spaß über das Angebot des Arztes, sein eigenes Blut zu übertragen und bemerkte: "Mutti, wenn ich noch einmal gesund werden sollte, dann wollen wir vieles noch ganz anders machen und Jehova noch mehr dienen, und wenn nicht, dann weißt Du, in meiner Tasche ist ein Brief!"

Als der Chefarzt Renates Fall mit einem der Zeugen Jehovas besprach, rief er aus: "Glauben Sie, daß ein Mädchen mit 13 Jahren eine so tiefe religiöse Überzeugung haben kann, um unter Todesgefahr eine Behandlung des Arztes abzulehnen?"

Es wurde ihm versichert, daß Renates eigenes Verhalten seine Frage beantworte, denn nachdem sie vernommen hatte, daß sie sterben müsse, war sie noch freundlicher und liebenswürdiger als zuvor. Als man ihn aufmerksam machte, daß man Renate habe überreden wollen, war er erstaunt, dies zu hören, und danach wurde kein Druck mehr bezüglich einer Bluttransfusion auf Renate ausgeübt, obwohl die anderen Zimmerpatienten sich feindselig zeigten, bis Renate in ein Privatzimmer verbracht wurde. Der Chefarzt bemerkte ferner:

"In meiner langen Praxis ist mir noch nicht ein solcher Fall passiert, daß ein Kind, nachdem es erfahren hatte, daß es sterben müsse, so fröhlich war."

Renate starb. Bei ihrer Beerdigung wurde der Brief vorgelesen, den sie in der Nacht, nachdem der Stationsarzt sie hatte überreden wollen, geschrieben hatte:

"An alle Verwandten und Bekannten!

Ihr Lieben, ich bitte Euch herzlich, aber sehr eindringlich, der lieben Mutti nicht im geringsten irgendwelche Schwierigkeiten zu machen, weil sie die Blutübertragung, die ich vom Arzt aus haben sollte, abgelehnt hat. Es ist genauso mein fester Wille gewesen, lieber Gottes Wort treu und gehorsam zu sein, als ein Gesetzesübertreter zu sein und mein Leben künstlich zu erhalten; indem ich jedes halbe Jahr eine neue Blutübertragung haben müßte. Es ist ein wahres Wort: 'Wer sein Leben liebt wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert in Treue zu mir, der wird es wiederbekommen.'

Aber meine große Hoffnung ist nicht, daß ich im Himmel irgendwo als Geist umherschwebe, nein, sondern ich ruhe im Grabe bis nach Harmagedon, und wenn mich der große Lebengeber (Jehova) für würdig erachtet, gibt er mir eine Auferstehung, richtig in Fleisch und Blut als Mensch auf einer gereinigten paradiesischen Erde in Wonne und Glück; und seht, darum ist mir das Sterben auch nicht schwergefallen; könnt Ihr das verstehen?

Ich bin zwar noch jung, aber ich habe mein Leben in die Hand des Schöpfers gelegt, und er leitet alles, wie es richtig ist. Also zum Schluß bitte ich Euch noch einmal dringend, der Mutti nicht irgendeinen Stein in den Weg zu legen und ihr jede Aufregung zu ersparen, die nicht sein muß. Sondern seid lieb und freundlich zu ihr und laßt auf keinen Fall ein böses Wort fallen. Seid alle herzlich gegrüßt und geküßt von Eurer Euch alle liebenden Renate. - Beherzigt dies aber bitte!"

1954er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

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