Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Der 17. Juni 1953 in der Darstellung der Zeugen Jehovas

Falls die SED-Führung es noch nicht gewusst haben sollte, wie es um ihre "Reputation" in der Bevölkerung bestellt war, am 17. Juni 1953 bekam sie den Veranschaulichungsunterricht dafür frei Haus geliefert. Noch Jahrzehnte danach wurde dieses Thema seitens der SED tabuisiert. "Konterrevolutionäre" seien es gewesen, die da ihren Thron ins wackeln brachten, so ihre Lesart. Die Wirklichkeit indes sieht etwas differenzierter aus.

Natürlich war das ganze für den Westen "das gefundene Fressen". Es wäre nicht die Zeit des kalten Krieges gewesen, hätte man westlicherseits nicht versucht, dass zusätzlich zu schüren. Wo standen die Zeugen Jehovas in diesem Streit? Waren sie wirklich "neutral"? Dies wird man wohl kaum sagen können. Ihre diesbezügliche Berichterstattung ging konform mit der westlichen. Sie hielten sich nicht aus diesem Streit heraus. Sie streuten genauso so wie auch etliche andere westliche Berichterstatter Salz in die Wunden des kommunistischen Regimes.

Nachstehend Zitate aus der Berichterstattung der Zeugen Jehovas in ihrer Zeitschrift "Erwachet!" vom 8. 8. 1953 S. 29:

"Am 10. Juni verkündete die ostdeutsche Führung (das Politbüro) ein umfassendes Programm zur Rückgängigmachung zahlreicher einschneidender Maßnahmen, mit denen in letzter Zeit die Sozialisierung der Wirtschaft, die Ausschaltung politischer Gegner und die Absperrung vom Westen vorangetrieben worden waren. Zu den wichtigsten Reformen gehören:

1. Erleichterung des Interzonenreiseverkehrs.

2. Alle Personen, die wegen 'Verbrechen gegen das Volkseigentum' (Wirtschaftsvergehen) Haftstrafen von maximal drei Jahren erhalten haben, werden amnestiert.

3. Die Überbesteuerung der Privatbetriebe wird abgeschafft. Privatbetriebe, die wegen von der Regierung verfügten Sondermaßnahmen zur Schließung gezwungen wurden, können die Geschäftstätigkeit 'sofort' wieder aufnehmen. 'Zur Verbesserung der Versorgung' werden die staatlichen Läden wieder Privatfirmen als Lieferanten heranziehen.

4. Die nach Westdeutschland geflohenen Bauern dürfen wieder auf ihre Höfe zurückkehren. Großbauern, deren Besitz inzwischen in Kolchosen verwandelt worden ist, sollen 'volle Wiedergutmachung' erhalten.

5. Alle Vorschriften, nach denen die rund zwei Millionen 'unproduktiven' Ostdeutschen bei der Zuteilung von Lebensmittelkarten benachteiligt oder von ihr ausgeschlossen wurden, werden ab 1. Juli aufgehoben. Dieser 'neue Kurs' in Ostdeutschland wurde in verschiedenen Kreisen Westdeutschlands dahingehend kommentiert, daß die Krise durch den völligen Zusammenbruch der Versorgung und durch die Massenflucht aus der Sowjetzone bereits so groß sei, daß die kommunistische SED nicht mehr in der Lage sei, die sowjetischen Ansprüche zu befriedigen, von der Versorgung der eigenen Bevölkerung ganz zu schweigen. Der Widerruf zahlreicher Sowjetisierungsmaßnahmen sei ein sensationeller faktischer Kurswechsel und bedeute eine weitgehende Abkehr von der Politik der Sowjetisierung Ostdeutschlands; er sei der Auftakt für Viermächteverhandlungen über Deutschland.

Nach Bekanntwerden der neuen Erlasse begann der Flüchtlingsstrom nach Westberlin nachzulassen. Am 12. Und 13. Juni wurden in der Sowjetzone landwirtschaftliche Funktionäre der SED, 'die sich bei Enteignungsaktionen durch besondere Linientreue hervorgehoben haben', massenweise verhaftet. Die Ostzonenregierung hat u. a. auch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, die am 19. Februar dieses Jahres verfügt worden war, wieder aufgehoben.

Der Krug geht zum Brunnen

Ab 16. Juni sollte die Arbeitsnorm im gesamten sowjetischen Besatzungsgebiet Deutschlands um 10 Prozent erhöht werden. 'Das Maß dessen, was man in zivilisierten Gegenden der Bevölkerung bieten darf, war übervoll', schreibt der Korrespondent der Berner 'National-Zeitung'. Die Bauarbeiter in der Stalinallee legten die Arbeit nieder, machten sich auf den Weg in das Regierungsviertel in der Wilhelmstraße und forderten vor den Ministerien sofortige Zurücknahme der Anordnung, Rücktritt der Regierung und neue, geheime und freie Wahlen. Funktionäre der SED, die versuchten, die Menschen mit Schlagworten zu befriedigen, wurden verprügelt und zu Boden getrampelt. Streikende riefen den Ministerialbeamten entgegen: 'Wir rufen den Generalstreik aus, dann seid ihr in einer Stunde weggefegt.'

Die Ostdeutsche Regierung gab angesichts der Demonstration der 20 000 Arbeiter überraschend schnell bekannt, daß sie nicht länger auf den erhöhten Quoten bestehe.

Aber die Erregung hielt nicht nur an, sondern sie wuchs.

Am Mittwoch (17. Juni) sammelten sich rund 15 000 Ostberliner Arbeiter und setzten zu einem neuen Marsch auf die Regierungsgebäude der Sowjetzonenregierung an. 500 mit Knüppeln bewaffnete Volkspolizisten versuchten den Sturm der Demonstranten auf die Regierungsgebäude aufzuhalten. Seit den frühen Morgenstunden ruhte in den großen Volkseigenen Betrieben die Arbeit. Der gesamte Stadtbahnverkehr in Berlin wurde lahmgelegt. Kurz vor 12 Uhr erschienen auf dem Marx-Engels-Platz etwa 20 sowjetische T-34 Panzer, die durch scharfes Fahren die dort zu Zehntausenden angesammelten Ostberliner Arbeiter zerstreuten. Um 12 Uhr mittags trat das Personal der Ostberliner Transportanstalten in den Streik. Damit wurde nach dem Stadtbahn-Verkehr auch der Untergrundbahn-, Straßenbahn- und Omnibus-Verkehr im gesamten Ostsektor lahmgelegt.

Kurz nach Mittag eröffneten von dem Gebäude der ostdeutschen Regierung in der Leipziger Straße Volkspolizisten und russische Soldaten das Feuer auf die Demonstranten. Es gab dabei Tote und viele Verwundete. Um 13 Uhr verhängten die russischen Besatzungsbehörden über Ostberlin den Belagerungszustand. Menschenansammlungen von mehr als drei Personen auf den Straßen und Plätzen wurden durch diesen Befehl verboten. Die Protestbewegung dehnte sich auch auf weitere Städte der Sowjetzone aus. So wurde am 19. Juni über Magdeburg berichtet, daß 10 000 Arbeiter das Rathaus, die Polizeipräfektur und die Gefängnisse stürmten und die Gefangenen befreiten. Sowjettruppen gingen gegen die Demonstranten vor und schossen auf sie. Es wurden Dutzende von Toten und Hunderte von Verletzten gemeldet."

Am 22. 8. 1953 meldet "Erwacht!" (S. 29):

"Zu den Unruhen in Ostdeutschland

Aus einem Protestmarsch einiger Dutzend Bauarbeiter gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen hatte sich in kürzester Zeit ein allgemeiner Volksaufstand entwickelt, der schon am ersten Tag die kommunistische Regierung Grotewohl-Ulbricht weggefegt hätte, wenn nicht sowjetische Panzer und Maschinengewehre zu ihrem Schutz aufgefahren wären. Die Unruhen spielten sich aber nicht nur in Ostberlin, sondern auch in weiten Teilen der Sowjetzone ab. Besonders heftig scheinen die Demonstrationen in Leipzig und im Gebiet der sächsischen Urangruben gewesen zu sein. Im Urangebiet sollen 100 000 Bergarbeiter gestreikt haben, und im Laufe der Schießereien, seien 25 Arbeiter getötet worden.

Nach Berichten, die in Westberlin eintrafen, sollen in Leipzig und anderswo verschiedene kommunistische Parteigebäude in Brand gesteckt worden sein.

'Neues Deutschland', das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei, kündigte mit drohendem Unterton für die nächste Zeit schärfste Verfolgungen in der Sowjetzone an. Die Sowjetzonen-Regierung werde in Zukunft 'gerechter und sorgsamer' das Leben der Werktätigen in der Zone beobachten. Sie werde gleichzeitig härter als bisher gegen die Feinde der Republik vorgehen und entschiedener im Kampf für Einheit und Frieden sein. Es sei Agenten und Provokateuren gelungen, Teile der Werktätigen zur Arbeitsniederlegung zu veranlassen, und es wird der Arbeiterschaft vorgeworfen, sie hätte ein größeres Unterscheidungsvermögen zwischen Provokateuren einerseits und berechtigten Klagen anderseits an den Tag legen müssen. Der Einsatz der sowjetischen Truppen sei notwendig gewesen, um den westlichen Agenten eine entscheidende Niederlage beizubringen.

Verschiedene Veröffentlichungen der ostdeutschen Führer zeigen, daß die Kommunisten bereit sind, in unwichtigeren Angelegenheiten Konzessionen zu machen, damit die allgemeine Unzufriedenheit besänftigt werden kann. Andererseits dauern die Verhaftungen und Exekutionen an. Die Gesamtzahl der Hinrichtungen soll bis zum 26. Juni 30 erreicht haben. Der Berliner 'Telegraf' schätzt die Zahl der Verhaftungen in Berlin und in der Ostzone auf über 16 000. Am 25. Juni wurde in Berlin berichtet, daß die Russen langsam ihre Tanks und Truppen aus Berlin zurückziehen, um sie in der Nähe von Berlin zu belassen, damit sie im Fall weiterer Unruhen sofort wieder eingreifen könnten."

Am 8. 9. 53 (S. 30) meldet "Erwachet!":

"Eine Bilanz des Juniaufstandes in Ostdeutschland

Nach dem Mitte Juli veröffentlichten Bericht von Staatssicherheitsminister Zaisser von der Ostzonenregierung über die Juniereignisse wurden in deren Verlauf 569 Personen getötet und 1744 verletzt. Im einzelnen sind laut Zaissers Rapport 267 Demonstranten getötet und 1071 verletzt worden. Von den Sicherheitsdiensten der sowjetzonalen Regierung, ihren Funktionären und Angehörigen der politischen Parteien seien 116 getötet und 645 teilweise schwerverletzt worden. Hinzu kämen noch 141 standrechtliche Erschießungen und 14 vollstreckte Todesurteile, die sowjetzonale Gerichte verhängten. Unter den von den sowjetischen Standgerichten verurteilten 141 Personen hatten sich 52 Volkspolizisten und Angehörige des SSD befunden, die wegen Befehlsverweigerung erschossen worden seien.

Die Sowjets sollen 16 Tote und 126 Verletzte gehabt haben. Nach Zaissers Bericht wurden 5143 Demonstranten verhaftet, 2917 wurden ohne Urteil freigelassen und 1026 erhielten zusammen 6321 Jahre Zuchthaus. 1150 Personen seien noch im Gefängnis, ferner 1756 Volkspolizisten. Von diesen erhielten bisher 630 zusammen 2031 Jahre Zuchthaus. Der verursachte Schaden betrage 23,8 Millionen Ostmark. Am 24. Juli berichtete die Presse die Absetzung von Zaisser, der mit dem in Ungnade gefallenen Beria enge Beziehungen unterhalten haben soll."

1953er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

ZurIndexseite