Heiraten „nach" Harmagedon

Es war sein „letzter Streich", dass Buch „Kinder" von Rutherford, welches ab 1943 auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Eine Kernthese darin lautet: „Von der Zeit an, da die anderen Schafe zum Herrn hin versammelt werden bis Harmagedon verfließen nur einige wenige Jahre." (S. 312)

Die Rutherford-Organisation hatte faktisch nach 1925 stagniert. Sofern neue hinzukamen, wurden sie durch die Zahl derjenigen, die ihr wieder den Rücken zukehrten wieder dezimiert. Wie auch andere Organisationen setzte Rutherford auf die Jugend. Letztere sollte für ihn die „Eisen aus dem Feuer holen". Sie sollte besonders aktiv seine Literatur möglichst als Vollzeitdiener verbreiten, sich durch Widerwärtigkeiten nicht abschrecken lassen. Dazu bedurfte es eines ideellen Anreizes. Ihn schuf Rutherford mit seinem „Kinder"-Buch, zudem noch eine separate Broschüre mit „Studien-Fragen" dazu veröffentlicht wurde.

Einige besonders markante Fragen aus dieser „Studien-Fragen" Broschüre:

„Welches war die Hoffnung dieser jungen Leute, wie Eunike sie ausdrückte, und welche Anregung machte sie deshalb bezüglich der Gedanken, ob sie Kinder haben sollten?"

„Welchen Rat gibt die Schrift Gliedern der 'Jonadab'-Klasse mit Bezug auf Heiraten in der Gegenwart?"

„Eine wie lange Zeitspanne verstreicht vom Sammeln der 'andern Schafe' an bis Harmagedon, und was kennzeichnet diese Zeit?"

„Weshalb haben Eltern mit kleinen Kindern während Harmagedon ihrer kleinen wegen mehr Leid zu erdulden?"

„Wie äußerte sich Johannes über den Lauf, dem sie jetzt folgten, und was sagte er über die passende Zeit ihrer Heirat?"

Die Tendenz war klar. Sie kommt markant in einem fiktiven Dialog im „Kinder"-Buch zum Ausdruck. Dort werden dem Johannes und der Eunike die Worte in den Mund gelegt:

„Es ist unsere Hoffnung, dass in wenigen Jahren unserer Ehebund vollzogen werden kann und wir durch die Gnade des Herrn herzige Kinder haben dürfen, die dem Herrn zur Ehre gereichen werden. Wir können unsere Heirat gut hinausschieben, bis dauernder Friede auf der Erde Einzug hält. Jetzt dürfen wir unserer Bürde nichts hinzufügen, sondern müssen frei und für den Dienst des Herrn gewappnet sein. … Unsere gegenwärtige Pflicht ist klar: Wir müssen jetzt Zeugen für den Namen Jehovas und sein Königreich sein. Wir können weiterhin bei unseren Eltern wohnen. …

Wir werden einander eine Zeitlang nicht so häufig sehen, aber wir können jeden Tag gleiche Gedanken hegen über all das Wunderbare, dass uns in Aussicht gestellt ist.

Nach diesem erschien dem jungen Mann und dem Mädchen an seiner Seite die ganze Umgebung noch schöner. Die Vöglein in den Zweigen schienen das Lob Jehovas und seines Königs zu singen. So stimmten sich sie - Hand in Hand - in das Lied mit ein und dankten Gott für alle Segnungen, die er ihnen geschenkt hatte" (S. 365-67).

Auch in seiner 1938 erschienenen Broschüre "Schau den Tatsachen ins Auge" belehrt Rutherford schon seine Leser:

"Jonadabe, die jetzt ans Heiraten denken, würden, wie es scheinen will, besser tun, einige wenige Jahre zu warten, bis der feurige Sturm Harmagedons vorüber ist, und dann die ehelichen Beziehungen aufzunehmen und die Segnungen zu genießen, die mit einer Anteilnahme am Füllen der Erde mit gerechten und vollkommenen Menschen verbunden sind" (S. 50).

Was sollten sie in diesen apostrophierten "wenigen" Jahren bis dahin tun? Nun, sich schlicht und einfach für die WTG verausgaben. Und wie man so sagt: "Und wenn sie nicht gestorben sind - so tun sie das noch heute"!

Aber natürlich sind die heutigen Zeugen Jehovas in den allermeisten Fällen verheiratet. Jedenfalls die, in den örtlichen Versammlungen. Festzustellen ist bei ihnen im besonderen auch ein überproportionaler Anteil an Frühehen. Das hängt dann wieder mit ihrer rigiden Sexualmoral zusammen. Bekanntlich kann die Sexualität einen bedeutenden Einfluss ausüben. Um nicht Gefahr zu laufen, in die berüchtigte Gemeinschaftsentzugsmaschinerie der Zeugen Jehovas hineinzugeraten (unter anderem auch wegen vorehelicher Initimbeziehungen). Und das Spitzelwesen ist diesbezüglich bei den Zeugen durchaus als ausgeprägt zu bezeichnen. Um diesen genannten Gefahren aus dem Wege zu gehen, kommt es bei ihnen immer wieder zu überstürzten Frühehen, bei denen man mit Fug und Recht bezweifeln kann, ob die Partner sich wirklich schon ausreichend genug kennen. Die Ernüchterung folgt dann später. Unglückliche Ehen, die vielfach versucht werden um des Scheines willen, formal bestehen zu lassen. Oder aber im anderen Fall auch die Scheidung mit all ihren Problemen.


Über die Hintergründe, wie die Rutherford'sche Nicht-Heiraten-These zu den Akten gelegt wurde, berichtet Gerd Borchers-Schreiber in seinem Buch einige interessante Details. Er beruft sich dabei auf das Insiderwissen einiger hochrangiger WTG-Funktionäre, die zur fraglichen Zeit am Hauptsitz der WTG in den USA anwesend waren. Bemerkenswerterweise hatte der damalige WTG-Präsident Knorr erst im Alter von 45 Jahren den Ehebund geschlossen. Borchers berichtet zu diesem Aspekt:


"Als (der WTG-Funktionär) Egon in 'Gilead' war, wurde der WTG-Präsident Knorr von anderen Zeugen in der Zentrale sanft aufmerksam gemacht: 'Einige nehmen Anstoß, dass du schon so lange mit einer Glaubensschwester 'gehts', aber die Verbindung nicht ehelich legalisierst.' Daher sprang Knorr eines Morgens über seinen eigenen Schatten. Im Anschluss an die Betrachtung des 'Tagestextes' gab er bekannt, bald Schwester '…' zu heiraten. Das schlug wie eine Bombe ein. … Der ehemalige Leiter des WT-Zweigbüros von Belgien/Luxemburg, Fleury, befand sich um 1950 in der USA-Zentrale. Er erzählte mir, dass man ihm dort wegen 'Unreife' Vorhaltungen machte, als er plötzlich beschloss, seine Nelly zu heiraten. Damals war noch ein Mönchsleben angesagt, mit der Heirat Knorrs war aber der Bann gebrochen. Ein regelrechter Heiratsboom setzte unter den Zeugen ein." Auch Raymond Franz berichtet in seinem Buch "Der Gewissenskonflikt" (S. 21-23) als Zeitzeuge gleichfalls darüber.

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1943er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte