Zäsur

Das Jahr 1942 begann mit einer Zäsur. Am 8. 1. 1942 endete die Lebensspanne von J. F. Rutherford. Schon wenige Tage später saß sein Nachfolger fest im Sattel. Der Englische „Wachtower" notierte schon unmittelbar darauf:

„Am Nachmittag des 13. Januar 1942 kamen alle Mitglieder der zwei Ausschüsse im Gesellschaftsraum des Bethelheimes in Brooklyn zusammen. Nathan H. Knorr, der anlässlich der letzten allgemeinen Wahl in Pittsburgh zum Vizepräsidenten gewählt worden war, hatte einige Tage vorher die Glieder der Ausschüsse gebeten, Gott unter Gebet und Überlegung ernstlich um Weisheit anzuflehen, damit sie richtig geleitet werden möchten; und dies hatten sie getan. Die gemeinsame Versammlung wurde mit Gebet eröffnet, wobei man besonders bat, Jehova Gott möge Weisheit geben in der Wahl von Dienern nach seinem Willen, die ihn in der gesetzlich vorgeschriebenen Weise in den Organisationen vertreten sollten. Nach gebührender, sorgfältiger Erwägung wurden folgende Brüder zu ihren bezüglichen Stellungen ernannt und einstimmig gewählt: Nathan H. Knorr als Präsident und Hayden C. Covington als Vizepräsident der zwei Körperschaften. Später am selben Tag wurden anlässlich einer Zusammenkunft der Bethelfamilie in Brooklyn die Ergebnisse der Wahl vom Sekretär des Direktionsausschusses bekanntgegeben, und dies löste Begeisterung aus." (Vgl. auch den deutschen WT vom 1. 1. 56 S. 10).

Eine Frage drängt sich anlässlich dieses Berichtes nur noch auf. Wer hat eigentlich, von wem abgekupfert? Die Zeugen Jehovas von den „überwältigenden" „Wahl"ergebnissen der Nazis. Oder die DDR von den Nazis? Oder, oder???

Lief die Inthronisation von Knorr auch glatt über die Bühne und handelte man dort nach dem Grundsatz „Der König ist tot - hoch lebe sein Nachfolger"; so sah die säkulare Presse das erst einmal etwas anders. Die interessierte sich nicht so vorschnell für den Nachfolger. Die fragte erst einmal, was gibt es über Rutherford noch zu sagen?

Den Anfang machte die in Bern erscheinende Tageszeitung „Die Nation", die bereits am 12. 2. 1942 einen Bericht über Rutherford brachte. Dieser war nun so garnicht nach dem Geschmack der Zeugen Jehovas und so bestanden sie postwendend auf eine „Richtigstellung". Auch die ist interessant. „Die Nation" (Nr. 11/1942 S. 4) schreibt dazu:

„In unserer Ausgabe vom 12. Februar erschien ein Artikel über den verstorbenen Führer der 'Ernsten Bibelforscher' Richter J. F. Rutherford. Die 'Vereinigung Jehovas Zeugen der Schweiz' bittet uns dazu folgende Entgegnung zu publizieren:

Es ist nicht richtig, dass Jehovas Zeugen in der ganzen Welt riesige Geldsammlungen für ein Regierungsgebäude in San Diego veranstaltet haben. Jener 'Palast' in dem Richter Rutherford einen 'fürstlichen Lebensabend' genossen haben soll ist in Wirklichkeit ein in spanisch-kalifornischem Stil erbautes geräumiges Haus, dass noch von einer Familie mit Kindern bewohnt wird. Nirgendwo wurde dafür Geld gesammelt. Ein paar Freunde wollten es J. F. Rutherford schenken, der es jedoch nicht für sich annahm, sondern im Grundbuch als Eigentum der Watch Tower Bible Society eintragen ließ, zur Benutzung Seitens des jeweiligen Präsidenten der Gesellschaft und seiner Mitarbeiter für ihren Dienst bestimmt.

Im Grundbuch wurde als Name des Hauses 'Beth-Sarim', d. h. 'Haus der Fürsten' registriert und wie J. F. Rutherford im Buche 'Die Rettung', Seite 326 schreibt, wurde damit bezweckt, einen greifbaren Beweis zu schaffen, dass es heute Menschen auf Erden gibt, die völlig an Gott, an Christus Jesus und an sein Königreich glauben und auch glauben, dass der Herr die treuen Männer alter Zeiten bald auferwecken wird.

Seinen juristischen Titel hat er sich nicht angemaßt, sondern trug ihn mit Recht. Er fungierte jahrzehntelang als Anwalt, eine kürzere Zeit als Richter, und dieses Amt hätte er bis an sein Lebensende ausüben können, wenn er sich nicht freiwillig einer höheren Aufgabe gewidmet hätte. Bis zuletzt war er Mitglied der Anwaltskammer von New York und plädierte noch im vorigen Jahr persönlich vor dem United States Supeme Court, dem höchsten Gericht seines Landes."

Offensichtlich legte Rutherford sehr viel Wert auf seine juristischen Titel. So ließ er sich denn von seiner Anhängerschaft in nahezu schon penetranter Weise als „Richter" ansprechen. War er aber ein wirklicher Richter im klassischem Sinne? Man wird diese Frage verneinen müssen und ihm eher das Prädikat Aushilfsrichter zuerkennen können. Hätte Rutherford, der offenbar sehr Titel-versessen war, sich in der Öffentlichkeit ständig als „Rechtsanwalt J. F. Rutherford" vorstellen lassen, so gäbe es dagegen sicherlich keine Einwände. Aber er wollte offenbar immer als auf einer höheren Stufe stehend, dargestellt werden. Da ging es dann schon eher in die Richtung Hochstapelei. Symptom dafür ist auch das gespreizte Dementi, dass man mal in der Zeitschrift „Trost" zur Richterfrage lesen konnte. Offensichtlich glaubte man dazu einer eidesstaatlichen Erklärung zu bedürfen. Liest man sie unvoreingenommen, kann man daraus klar entnehmen, dass Rutherford die Sprosse eines Hilfsrichters nie überschritten hatte.

„Staat New York, Kreis Kings

Ich, Edwin Keller, wohnhaft in Brooklyn, New York, erkläre unter Eid, dass ich die Gerichtsakten eingesehen habe, die im Kreisappellationsgericht der Vereinigten Staaten für den zweiten Kreis im Staate New York deponiert sind und ich entnehme diesen Akten folgendes:

Herr Sparks, Staatsanwalt, verhörte vor Gericht Josef F. Rutherford. Er stellte ihm gewisse Fragen, auf welche die nachstehenden Antworten gegeben wurden. Besagte Fragen und Antworten erschienen im Gerichtsprotokoll wie folgt:

Frage: Sind Sie praktizierender Anwalt?

Antwort: Ich praktiziere nahezu 15 Jahre als Anwalt in Missouri.

Frage: Haben sie in Missouri ein richterliches Amt innegehabt?

Antwort: Zeitweise habe ich als Richter des Kreisgerichtes amtiert unter einem besonderen Gesetz in Missouri, wonach Glieder der Anwaltskammer als Richter gewählt werden, um für besondere Fälle während bestimmter Gerichtsperioden als Richter zu amtieren. Nur in dieser Eigenschaft habe ich als Richter gedient.

Frage: Sind Sie auch Mitglied der New Yorker Anwaltskammer?

Antwort: Ja, mein Herr, ich wurde Mitglied der New Yorker Anwaltskammer im Jahre 1910.

Ich erkläre unter Eid, dass ich das Obenstehende aus dem amtlichen Gerichtsprotokoll abgeschrieben habe und dass dieses eine genaue und wahrheitsgetreue Abschrift ist.

gez. Edwin Keller

Vor mir unterschrieben und eidlich ausgesagt an diesem 12. Tag des Novembers 1936

gez. Charles E. Wagner. Öffentlicher Notar." („Trost" 1. 3. 1942 Nr. 467 S. 13).

Jener inkriminierte Artikel über Rutherford aus „Die Nation", wurde dann noch von einigen anderen Publikatsorganen nachgedruckt. Über Umwege schließlich auch von der sozialdemokratischen Zeitung „Berner Tagwacht" am 6. 8. 1942. Über die „Berner Tagwacht" brauchten sich die Zeugen Jehovas eigentlich nicht zu beschweren. Letztere hatte in ihrer Publizistik beispielsweise viel zur Demaskierung des Boris Toedtli, einem erbitterten Gegner der Zeugen Jehovas beigetragen. Aber richtig „dankbar" für diese Schützenhilfe waren sie indes nicht. Auch ist es bezeichnend, dass die „Berner Tagwacht" ihrem Nachdruck des „Nation"-Artikels noch ein eigenes redaktionelles Vorwort voranstellte. Darin wurde unter anderem ausgeführt:

„Man würde aber der Geschichte der Sektenbewegung nicht gerecht werden, wenn man den Bibelforschern nicht ungewöhnliche Hingabe, Aufopferung und Begeisterung für ihre Mission, oder wie sie es nennen, für ihre neue Bibelauslegung zubilligen würde. Wir kennen durch und durch saubere Anhänger, die bei magerem Verdienst freudig große Opfer bringen und im persönlichen Leben die hilfsbereitesten Helfer sind. Bibelforscher haben bei Verfolgungen und Unterdrückungen beispielgebende Standhaftigkeit bewiesen, sich weder von Drohungen, Gefängnisstrafen, Schlägen, noch selbst Todesgefahren einschüchtern lassen. Sie sind auch keineswegs muckerisch, haben ihrer Lehre im letzten Jahrzehnt einen sozialen Inhalt gegeben, der ihnen nicht zuletzt seriöse Elemente aus den ärmeren Volksklassen zuführte. Sie waren in neuer Zeit wohl die am stärksten angefeindete Sekte, nicht zuletzt auch von Seiten der katholischen Kirche, die das Eindringen der Bibelforscher in die katholischen Kantone gerade um des, man möchte sagen, des Glaubenseifers und des christlichsozialen Inhalts der Lehre wegen scharf verfolgte."

In einem Punkt irrte allerdings die „Berner Tagwacht" bei ihrer Einschätzung. Der von ihr apostrophierte „christlichsoziale Inhalt" ist letztendlich als Konkurrenz, nicht jedoch als „Unterstützung" der Sozialdemokratie ausgelegt. Das ist dieser Stellungnahme offenbar entgangen und hätte es verdient, auch gebührend gewürdigt zu werden.

Die Ära Rutherford

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1942er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte