Nazi-Zynismus

Auch in der Nazizeit gab es kollaborierende ausländische Journalisten, die sich gelegentlich für das Goebbel'sche Propagandaministerium einspannen ließen. Über einen solchen Fall berichtete in der Schweiz auch die dortige Tageszeitung "St. Galler Tagblatt" am 12. 5. 1939.

Es ist eines jener wenigen zeitgenössischen Dokumente, die das Ausland in gefilterter Form über die Existenz der deutschen Konzentrationslager informierte. Meine Meinung zu diesem Erguss habe ich mit der obigen Überschrift zu Protokoll gegeben. Aber sicher kann man nicht umhin, jenen Artikel eine gewisse zeitgeschichtliche Bedeutung zuzuerkennen. Die Ausführungen im "St. Galler Tagblatt" besagen:

"Kürzlich erhielt der französische Journalist Jean Fontenoy die Bewilligung, einen Tag lang mit eigenen Augen das Leben und Treiben im Konzentrationslager Oranienburg zu beobachten. Er wurde von dem Lagerkommandanten, einem General, persönlich im ganzen Lager herumgeführt und erstattete dann im 'Journal' in einer eingehenden Reportage über diesen interessanten Besuch Bericht. …

'Die Bibelforscher?' knurrte der General. 'O die! Für die habe ich eigene Isolierungsbaracken erstellen lassen. Sie lagern hinter Stachel- und Hochspannungsdraht. Und damit sie mit keinem andern Lagerinsassen verkehren können, ist es jedermann verboten, näher als bis auf zehn Mater an die Absperrwand ihres Lagers heranzukommen.

Kürzlich kam die Frau eines solchen Bibelforschers. Sie flehte um Freilassung ihres Mannes. Ich ließ ihn kommen. Er schaute sie an, als kenne er sie gar nicht. Sie fing an zu weinen und jammerte: 'Wir haben ja nichts mehr zu essen, und ich habe niemand, der uns hilft.' Der Bibelforscher antwortete: 'Du hast Jehova.' Die Frau: 'Ich beschwöre dich, unterschreibe und kehre zu uns zurück.' Der Mann: 'Geh und bete fleißiger zu Jehova…'

Der Kommandant rief einen heran. Dieser kam und meldete sich (nicht so schneidig, wie man es sonst in diesem Lager gewohnt ist):

'Huber, Johann, 27 Jahre. Ernster Bibelforscher.'

Dann entspann sich zwischen den beiden folgender Dialog:

'Weshalb bist du im Konzentrationslager?'

'Ich habe den Herrn angebetet.'

'Was für einen Herrn?'

'Jehova'

'Anerkennst du unseren Führer als dein Oberhaupt?'

'Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen. Mein Oberhaupt ist Jehova.'

'Wo ist der, dein Jehova?'

'Im ganzen Weltall.'

'Wer herrscht über Deutschland?'

'Jehova'

'Aber es steht geschrieben, du sollst dem Cäsar geben, was des Cäsars ist, und Gott, was Gottes ist.'

'Es steht geschrieben, du sollst nicht töten.'

'Es steht geschrieben …'

'Aber es steht auch geschrieben …' usw. usw.

'Und ich? Wer bin ich?'

'Sie sind ein Geschöpf Jehovas.'

'Bin ich dein Vorgesetzter oder nicht?'

'Sie sind ein Geschöpf Jehovas.'

'Hast du mir zu gehorchen oder nicht?'

'Ich habe Jehova zu gehorchen.'

'Ach, scher dich zum Teufel! Tölpelhafter Kerl!'

Der General wandte sich wieder zu mir und sagte achselzuckend und mit einem bitteren Lächeln: 'Nun haben Sie es selbst gesehen. Mit denen ist nichts anzufangen. Mit Milde nichts und mit Energie nichts. Es ist alles umsonst.'

Diesem Dialog hatten aus einiger Entfernung etwa fünfzig andere Lagergefangene mit hellem Entzücken zugehört. 'Haben Sie die beobachtet?' fragte mich der Kommandant. Und er fügte bei: 'Begreifen Sie nun, weshalb ich die Bibelforscher absondere? Sie würden mir innert ein paar Stunden im ganzen Lager Revolutiönchen anzetteln. Sie sind von allen die abscheulichste Brut.'

Kam ich neuerdings auf dieses Thema zu sprechen. 'Sie haben also', sagte ich, 'vierhundertfünfzig dieser Bibelforscher in ihrem Lager. Aber gehören die wirklich hierher? Die meisten müssen doch in ihrer Art ganz brave und harmlose Leute sein. Fast so etwas wie Heilige. Auf alle Fälle wirklich harmlos.'

An Stelle des Lagerkommandanten antwortete mir mein Berliner Bekannter, der hohe Funktionär, der mir die Bewilligung zum Lagerbesuch verschafft hatte. Er führte aus:

'Da irren Sie sich gewaltig. Ich hatte es auch gemeint. Sogar noch, als ich das Polizeikommando von X. übernahm. Aber ich wurde sehr bald eines anderen belehrt und musste einsehen, dass sie einen gerade zu verderbenbringenden Einfluss ausübten. … Der Kommunismus schleicht sich heute auf dem Weg über die Bibel ein, wissen Sie, und …'

'Und', legte nun mit einem Faustschlag auf den Tisch der Lagerkommandant los, 'und die Religion ist eine verflucht bequeme Maske. Auf alle Fälle war sie es, solange wir den Leuten aus lauter Christentum nicht unter die Larve guckten. Es nannten sich alle einfach Bibelforscher: die Bolschewiken, die Juden, die Sozialisten, die unverbesserlichen Demokraten schwarzen Gepräges, alle, alle, sogar die Freimaurer, und unter dieser Maske war es ihnen möglich, unbehelligt ihr Gift unter uns zu spritzen. Ich weiß nicht, ob nicht die Freimaurer ihnen die Kunst des geheimen Organisierens beigebracht haben. Aber organisiert sind die Schufte, und wie! Und ausbringen tun sie einander nichts.

Hören Sie nur einmal: In Hamburg hatten wir wiederholt eine Bibelforscherzeitung erwischt … von unerhört systemwidrigen Inhalt, und allerlei ebenso giftgeschwollene Traktätchen. Die Druckerei ausfindig zu machen, gelang uns trotz unablässiger und angestrengtester Bemühungen nicht. … Ich fing schon an zu verzweifeln, als eines Tages einer meiner Polizisten, der mit dem Zollbeamten zusammenarbeitete, einem Reisenden ins Auge fasste, der eine ganze Mappe voll Bücher bei sich trug. Es waren lauter 'Mein Kampf', aber als mein Mann ein Exemplar öffnete, stellt es sich heraus, dass die Hälfte der Blätter herausgeschnitten und durch Bibelforscher-Literatur ersetzt worden war. Der Kerl mit der Mappe wurde verhaftet und im Verhör schwer hergenommen. Aber es war nichts aus ihm herauszubringen. Es war ein Genfer. In seinem Hamburger Logis hatten wir mehr Glück.

Gewöhnlich findet man bei diesen Leuten keine geschriebenen Namen oder gar Adressen. Sie lernen alles auswendig. Aber der Kerl war noch nicht lange genug in Hamburg und in seinem Telefonbuch waren daher gewisse Adressen mit einem Pünktlein versehen.

Ich verhaftete zweihunderfünfzig dieser pünktleinbezeichneten Leute und alle gestehen. Ich mache auch die Druckerei ausfindig und ziehe alles ein: das eben aus dem Druck kommende Blatt, die Traktätchen und meine, nun könne ich aufatmen. Aber ja, woher!

Die zweihundertfünfzig Bibelforscher kamen in ein Konzentrationslager und sind alle heute noch dort, Aber einen Monat nach ihrer Entfernung aus Hamburg erschien das Bibelforscherblatt von neuem. Ich blieb noch sechs Monate in Hamburg und musste fort, ohne die Befriedigung auch der neuen Druckerei oder auch nur einen neuen Blättchenverteiler auf die Spur gekommen zu sein. So. Da haben Sie sie, ihre harmlosen Bibelheiligen.'

Der General biss sich auf die Zähne und fuhr dann fort: 'Unerhört, wie diese Leute undankbar sind für das, was der Führer und unsere Partei alles für Deutschland geleistet haben. Und wenn sie finden, wir drangsalieren diese Heiligen und tun ihnen unrecht, so kann ich Ihnen folgendes sagen:

Ich habe auf meinem Bureau Formulare. Die brauchen die Leute nur zu unterschreiben, und sie können samt und sonders morgen schon wieder nach Haus. Aber sie weigern sich, den Führer und den Staat anzuerkennen. Das haben Sie ja heute Vormittag selber gehört.

Aufwiegler sind es, ein ganz verhängnisvolles Gezücht. Lieber noch Kommunisten und Päderasten, ja Mörder, als diese infamen 'Ernsten Bibelforscher.' Aber ich werde ihnen schon noch beikommen. Es geht um das Heil Deutschlands. Ich werde sie schon noch herumbekommen.

Ich sagte Ihnen soeben, sie brauchen nur ein Formular zu unterschreiben, den Führer und den Staat anzuerkennen, und seien dann frei. Das stimmt für die meisten Lagergefangenen, die nicht gemeiner Verbrechen wegen eingebracht worden sind. Aber bei den Bibelforschern bin ich ein bisschen vorsichtig. Vielleicht lachen Sie, wenn ich ihnen sage, dass auch ich in meiner Art Bibelforscher bin. Ich lasse die Leute nämlich häufig auf mein Bureau kommen und suche sie gütlich zu überzeugen. Ich diskutiere mit ihnen von gleich zu gleich. Ich frage, antworte, stelle Probleme, Dilemma und mache Einwände.

Ich suche ihnen begreiflich zu machen, dass die Bibel ein Ding ist und das praktische Leben ein anderes. Um das zu können, muss ich in der Bibel ebenso beschlagen sein, wie sie selber. Aber wenn ich einen schließlich so weit habe, dass er scheinbar einlenkt und tatsächlich unterzeichnet und meint, er brauche nur noch nach Hause zu gehen um wieder ein freier Mann zu sein, dann sage ich: Halt, mein Junge, gar so rasch geht das nicht. Und ich rufe am gleichen Abend noch sämtliche Bibelforscher des Lagers zusammen, und vor diesen muss der angeblich Bekehrte mit lauter Stimme den Text des unterschriebenen Dokuments lesen und dann die Gründe darlegen, die ihn zur Überzeugung gebracht haben, dass die Unterwerfung unter die Staatsautorität das Richtige sei.

Das fällt natürlich schwer. Die meisten verzichten. Bringt aber einer den Mut auf, seinen Sektengenossen tatsächlich die Stirn zu bieten, so ertönt ein derartiges Geheul von Zusprüchen, Bitten und Vorwürfen, dass der Abtrünnige in den weitaus meisten Fällen das Unterwerfungsbekenntnis zerreißt und reuig erklärt, er ziehe es vor, Bibelforscher und im Konzentrationslager zu bleiben.

Suchen ihn die Sektengenossen dagegen bei der Bekanntgabe der Formularunterzeichnung nicht oder nicht inständig genug zur Rückgängigmachung des Schrittes zu bewegen, so lasse ich ihn augenblicklich frei, denn das ist eine sichere Gewähr dafür, dass sie selber die Überzeugung haben, der Mann sei für die Erforschung der Bibel rettungslos verloren."

1939er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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