Sechzig Stunden

Die Leitung der Zeugen Jehovas hört es nicht gern. Aber faktisch ist es so. Hinter vorgehaltener Hand stöhnt mancher über den subtilen Antreiberdruck zu möglichst umfangreicher "Klinkenputzertätigkeit". Bis heute hat sie ihren organisatorischen Druck nicht eingestellt, der auch die einfachen Mitglieder dazu verpflichtet, den sogenannten "Predigtdienst" auszuüben. Den wenigsten ist es ein echtes "Bedürfnis", mit Ausnahme vielleicht jener Minderheit, die sich dazu motivieren lässt "Karriere" in dieser Organisation machen zu wollen. Und ungeschriebene Voraussetzung dafür ist nun mal der sogenannte Pionierdienst.

Aber den einfachen Mitgliedern liegt durchaus nichts daran, beispielsweise als wandelnde "Wachtturm"- und "Erwachet!"-Litfasssäulen in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Sie fügen sich dabei lediglich dem Gruppendruck und der dazu antrainierten Vertreterpsychologie. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Berufssparte der Verkaufsvertreter über einen besonders hohen Prozentsatz (relativ gesehen) von Zeugen Jehovas verfügt.

Im Laufe der Zeit hat die krass egoistische Zeugenführung ihre geforderten Quotensätze für den Predigtdienst reduzieren müssen - ohne dabei die Forderung als solche aufzugeben.

Wenn man der Frage nachgeht, wie das ganze eigentlich anfing, dann wird man auch auf jenen "Wachtturm"-Artikel vom 1. 1. 1939 stoßen, in der dieser Forderungskatalog sich schon niederschlug.

Es versteht sich von selbst, dass die Forderungen von 1939 für Deutschland und große Teile Europas, erst nach 1945 zur Anwendung kommen konnten. Nichts desto trotz ist jener "Wachtturm"-Artikel ein bezeichnendes zeitgeschichtliches Dokument. In ihm konnte man unter anderem lesen:

"Ab 1. Januar 1939 wird es kein Hilfspionierwerk mehr geben. Alle im Dienste werden entweder Sonderpioniere, reguläre Pioniere oder Gruppenarbeiter sein. Das ganze Feld ist in Zonen eingeteilt, wobei über jeder Zone ein Diener steht. Jede Zone umfasst eine Anzahl Gruppen, und jede Gruppe hat ihre ordnungsgemäß ernannten Diener. … Den regulären wie den Sonder-Pionieren sind ihre bezüglichen Pflichten zugeteilt worden. Unter der Leitung und der Anweisung, wie sie allen Gruppen bekanntgemacht wurden, kennen jetzt die Glieder jeder Gruppe die ihnen zugewiesenen Pflichten. Verfehlt daher nicht, diese Pflichten als dem Herrn getan treu zu erfüllen!

Wie viele Stunden im Monat sollte jeder Gruppenarbeiter dem Felddienste widmen? Ein Monat hat 720 Stunden. Angenommen, jedes Gruppenglied müsse zur Beschaffung des Lebensunterhaltes für sich und die von ihm Abhängigen acht Stunden im Tag arbeiten. Wenn man an die Wichtigkeit des Königreiches denkt, scheint es, dass zwei Stunden durchschnittlich im Tag wenig Zeit genug wäre, sich im Gehorsam gegen den Befehl des Königs aktiv am Felddienst zu beteiligen. Das bedeutete sechzig Stunden im Monat für jeden Gruppenarbeiter, was etwa viermal die Stundenzahl ist, die viele Gruppenarbeiter bis jetzt dem Königreichswerk gewidmet haben.

Etliche haben sich mit ein wenig Dienst zufrieden gegeben und haben die Zeit, da sie in der Straßenbahn fuhren und sich mit Leuten unterhielten, auch als ein Teil des Dienstes betrachtet. Das ist aber keine Erfüllung des Gebotes des Herrn. …

Einige haben gefragt: Wenn doch das Radio von Gott erfunden wurde, warum haben wir denn nicht eine große Radiostation in jedem Gebiet der Erde? Natürlich könnte Jehova dies so einrichten, wenn es sein Wille wäre. Die Tatsache aber, dass er es nicht so angeordnet hat, zeigt an, dass dies nicht sein Wille ist. Die vernünftige Antwort auf die vorangegangene Frage scheint folgende zu sein: Das Feldzeugniswerk hat einen doppelten Zweck: es soll 1.) Den Namen und das Reich Jehovas, Gottes, bekanntmachen, und 2.) jedem Geweihten Gelegenheit bieten, seine Liebe und Lauterkeit gegen Gott zu beweisen.

Würde das ganze Zeugniswerk durch Radio getan, so gäbe es wenig Gelegenheit für jeden einzelnen Arbeiter, dem Herrn seinen vernünftigen Dienst zu tun, so wie er es befohlen hat. Der Herr hat nun für Tausende von Tonapparaten oder Grammophonen für Vortragsplatten gesorgt, und sie sollen dazu gebraucht werden, die Aufmerksamkeit der Menschen guten Willens auf den König und sein Königreich zu lenken" ("Der Wachtturm" 1. 1. 1939 S. 13).

Eingebettet ist das ganze in ein scharfes Managment-System. Zu diesem Zwecke wurden die örtlichen Zeugen Jehovas-Versammlungen mit einem von J. F. Rutherford unterzeichneten Zirkular informiert, dass den Titel

"Organisations-Anweisungen" trägt. Schon die Vokabel "Anweisungen" spricht für sich. Nachstehend mal einige charakteristische Sätze daraus:

"Der Watchtower vom 1. und 15. Juni (deutsche Ausgabe vom 1. und 15. Juli 1938) hat die schriftgemäße Methode, wie der Königreichsdienst organisiert werden sollte, dargelegt.

Was hier über die Organisation in den Vereinigten Staaten gesagt wird, hat ebenso auf alle Teile der Erde Anwendung.

Das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten wird in Zonen eingeteilt. Jede Zone umfaßt fünf bis zwanzig Gruppen. Die Zonen werden alphabetisch entsprechend den Staaten bezeichnet. ...

Alle Diener werden durch die Gesellschaft bestimmt, und die Ernennung geschieht auf folgende Weise: Jede Gruppe wird ersucht, die Namen der Personen einzusenden, die am besten für den Dienst in einer bestimmten Stellung geeignet sind.

Die Gesellschaft wird durch diese Liste nicht gebunden sein, sondern die Liste wird lediglich als Empfehlung betrachtet werden. Wenn der Zonendiener bestimmt ist und die in Frage kommenden Gruppen besucht hat, wird er sorgfältig erwägen, wofür die Glieder der verschiedenen Gruppen geeignet sind, und er wird dann der Gesellschaft seine Empfehlung der Personen senden, die ihm für die verschiedenen Dienste geeignet erscheinen. So informiert, wird die Gesellschaft in Brooklyn die Ernennung aller Diener vornehmen, die solche Stellungen solange einnehmen als sie ihre Pflichten treu erfüllen; und es bleibt der Gesellschaft überlassen, den Grad der Treue zu beurteilen. Ein Personalwechsel im Gruppen- oder Zonendiener-Amt kann zu irgendeiner Zeit durch die Gesellschaft vorgenommen werden.

Der Zonendiener wird von Zeit zu Zeit dem Hauptbüro der Gesellschaft Veränderungen in den Gruppen empfehlen, die ihm für die Förderung und den Fortschritt des Königreiches vorteilhaft erscheinen und zusammen mit diesen Empfehlungen wird er die Gründe hierfür angeben.

Der Zonendiener soll die allgemeine Überwachung des Felddienstes in der ganzen Zone führen. Der Gruppendiener wird die Überwachung der Tätigkeit der verschiedenen Teilgruppen haben, wobei er dem Zonendiener und im besonderen natürlich dem Hauptbüro der Gesellschaft in Brooklyn, bezw. dem Büro des Landes, untergeordnet ist

Die Pflichten des Zonendieners

Er soll in bestimmten Zeitabschnitten alle Gruppen innerhalb der Zone besuchen.

Der Zonendiener sollte mit den Verkündigern in seiner Zone völlig vertraut sein, ihre Dienstberichte überprüfen, den Geist der Zusammenarbeit der einzelnen beobachten und besonders die Bestbefähigten für den Dienst in den einzelnen Stellungen notieren und von Zeit zu Zeit diese Empfehlungen dem Büro in Brooklyn, resp. dem Büro des Landes, einsenden.

Der Zonendiener ist nicht ermächtigt, jemanden von einer Dienststellung zu entfernen oder dazu zu bestimmen, sondern seine Pflicht erschöpft sich in der Empfehlung von Ernennungen und Änderungen in der Absendung dieser Empfehlungen an die Gesellschaft. Es ist die Pflicht des Zonendieners, persönlich mit dem Diener jeder Gruppe oder Teilgruppe in Fühlung zu treten, seine Tätigkeit zu überprüfen und darauf zu achten, daß sie in Übereinstimmung mit den Instruktionen durchgeführt wird .."

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1939er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte