Freiheit oder Romanismus

In gewisser Hinsicht stellt sie ein Novum dar, jene Broschüre, die im Jahre 1938 in Australien publiziert wurde. Ihr Herausgeber war die dortige Watchtower Bible and Tract Society. Es ist nicht bekannt, dass diese englischsprachige Publikation auch in den USA sonderliche Verbreitung gefunden hätte. Die dortigen WTG-Oberen werden sicherlich Belegexemplare davon gehabt haben, aber für das "gemeine Fußvolk" in den USA war sie mit Sicherheit nicht bestimmt. Selbstredend wurden von der WTG davon auch keine autorisierten Übersetzungen in andere Sprachen vorgenommen. Die Schrift war spezifisch auf australische Verhältnisse hin konzipiert und dürfte auch nur dort, ihren relevanten Verbreitungskreis gefunden haben.

Diese zugegebenermaßen etwas ungewöhnliche Ausgangsbasis wird erst verständlich, wenn man sich ihren Inhalt näher ansieht. Da wollte also Rutherford anlässlich eines Zeugen Jehovas-Kongresses auch in Australien erscheinen. Wie bei den Zeugen Jehovas üblich, wurden die diesbezüglichen Vorarbeiten minutiös durchgeführt. In Sydney wollte er in der dortigen Stadthalle seinen Vortrag absolvieren. Aber nicht nur diese relativ kleine Örtlichkeit sollte genutzt werden. Es wurde auch eine eine ganze Reihe von australischen Rundfunkstationen herangetreten mit der Maßgabe, den Rutherford-Vortrag möglichst landesweit zu übertragen. Ein solches Ansinnen war auch für australische Verhältnisse ziemlich ungewöhnlich.

Im Prinzip agierten die dortigen Rundfunkstationen mehr oder weniger als Regionalsender. Das da ein Yankee anzureisen gedachte, der zu einem bestimmten Zeitpunkt fast das gesamte australische Rundfunknetz zu benutzen wollte, löste schon einiges Staunen aus. Das der Yankee zahlungskräftig war, konnte nicht in Zweifel gezogen werden. Also unter monetären Gesichtspunkten wäre die Sache, so ungewöhnlich sie auch gewesen sein mag, durchaus gelaufen. Aber das änderte nichts daran, dass dies Rutherford'sche Ansinnen, auch für australische Verhältnisse höchst ungewöhnlich war. Hohe und höchste Stellen befassten sich daher schon im Vorfeld damit. Und auch der katholischen Kirche blieb dieser "Rutherford-Anschlag", wenn ich es mal salopp so formulieren darf, nicht verborgen. Aber Rutherford war für die katholische Kirche keineswegs ein "Unbekannter". Man verband mit ihm, aus kirchlicher Interessenlage, übelste Befürchtungen. Und man handelte. Entweder wir oder der. Mit dieser Devise wurden verantwortliche Stellen massiv unter Druck gesetzt. Und der Druck trug Früchte.

Rutherford befand sich nach auf dem Schiff das ihn nach Australien brachte, als er schon unterwegs die Mitteilung zutelegraphiert bekam, mit der Stadthalle von Sydney als Versammlungsort, das wird nichts mehr und gleichfalls auch nichts mit seinen Radioambitionen. Am 24. 6. 1938 sollte seine große Rede starten, die nun wie eine Seifenblase zu zerplatzen drohte.

Aber untätig blieb Rutherford nicht. Sofort nachdem er in Australien gelandet war, mobilisierte er seine Anhängerschaft eine groß angelegte Protestaktion gegen die missliche Lage in Szene zu setzen. Glaubt man der WTG-Verlautbarung, wurde die gar von 120 000 Personen unterzeichnet. In der fraglichen Broschüre ist auch das diesbezügliche Protestschreiben abgedruckt. Einige Sätze daraus:

"Gott hat den Rundfunk als Mittel vorgesehen, Menschen zu erreichen; aber Er hält den Teufel nicht davon ab, sich an seiner Verwendung schaffen zu machen. So gibt er dem Teufel und seinen Agenten die Gelegenheit, ihr wahres Gesicht zu zeigen, ehe Er so mit ihnen verfährt, wie Er es verheißen hat. Zur Verständigung der Leute waren zweiundzwanzig Rundfunkstationen in Australien verpflichtet worden, um die Rede von Richter Rutherford zu übertragen. Das versetzte die Faschisten und die römisch-katholische Hierarchie so sehr in Furcht, daß sie einen verzweifelten Versuch begannen, die Übertragung zu stoppen. … Der Postminister wurde daraufhin dazu bewegt, zu fordern, daß zuerst eine Niederschrift oder Abschrift der Rede von ihm genehmigt werden müsse, ehe die Benutzung der Leitungen gewährt werden könne."

Das erwies sich als Knackpunkt. Wohl zu recht argwöhnte Rutherford, dass dieses Verfahren nichts anderes als eine handfeste Zensur seiner beabsichtigten Rede bewirken solle. Aber an einer "zahnlosen Rede" war Rutherford selbstredend nicht interessiert. Also lief das ganze letztendlich darauf hinaus, dass beide Seiten sich in ihren Maximalpositionen verhärteten. Es kam nicht zu der geplanten Radioübertragung. Wohl aber kam es im Vorfeld zu intensiven Bemühungen, diese doch wenn irgend möglich noch zu gewährleisten.

So schrieb beispielsweise am 21. 4. 1938 Rutherford an den australischen Postminister einen Brief. Neben etlichen in höflicher "Diplomatendiktion" gehaltenen Wendungen findet sich darin aber auch der nachfolgende Satz:

"Die einzige Äußerung, die ich machen werde und die auch nur dem Punkt einer Ablehnung nahekommt, ist diese: daß die Faschisten, Nazis und die 'römisch-katholische Machthierarchie' des Vatikanstaates darin übereinstimmen, die Macht über die demokratischen Nationen zu ergreifen und deren Völker durch Diktatoren zu beherrschen.

Sicherlich kann man nicht bestreiten, daß es ein solches Bemühen gibt, die Demokratien der Erde zu vernichten und anstatt ihrer diktatorische Herrschaften zu errichten. Sicherlich kann keine unvoreingenommene Person in Australien ernsthaft eine solche Feststellung, die in der Öffentlichkeit gemacht und per Rundfunk übertragen wird, übelnehmen."

Der australische Postminister hatte verstanden. Auch ihm waren die Wendungen des Diplomatenmilieus geläufig. Dem Herrn Rutherford direkt zu widersprechen? Dies wäre doch zu plump. Es reichte ja wenn die Nichtzugänglichkeit der australischen Rundfunkstationen für Rutherford weiter aufrecht erhalten würde. Wenn er weiterhin mit all seinen Vorstoßen gegen eine Mauer rennen würde. Und so lief es denn auch ab.

Wurde es auch nichts mit der Radioübertragung, so gelang es den Zeugen Jehovas dennoch eine neue Örtlichkeit, die Sports Grounds in Sydney zu mieten und Rutherford konnte dort vor 25 000 Anhängern seinen Vortrag halten. Aber sicherlich. Seine Verschnupftheit über den geplatzten Radiocoup konnte er nicht verbergen und er machte auch nicht die geringsten Anstrengungen dazu. Bei allem wettern über diesen Affront, versäumte er es auch nicht seine Grundsatzthese (unabhängig von den australischen Bedingungen) deutlich auszusprechen. Etwa mit seiner Bemerkung:

"Faschisten und Nazis haben in völliger Mißachtung der Rechte anderer das Land Abessinien zerstört, die Macht in Österreich ergriffen, Tausende von Christen in Deutschland verhaftet, weil sie die Bibel besaßen, und sie verfolgen einen aufrührerischen Krieg gegen die Regierung Spaniens; und das alles billigt die römisch-katholische Hierarchie vollkommen. Und jetzt versucht dieselbe unheilige Allianz, allen Nationen eine diktatorische Herrschaft aufzuzwingen. Gegen dies alles protestieren wir energisch."

An anderer Stelle seines Vortrages, wiederholt Rutherford seine These noch einmal, etwas ausführlicher. Auch diese Passage sei zitiert:

"Aus diesem Bündnis von Nationen ist eine Ungeheuerlichkeit herausgewachsen, die heute von den Religionisten vollkommen unterstützt wird. Diese Ungeheuerlichkeit ist die Herrschaft der verschiedenen Nationen unter einem tyrannischen Diktator, das heißt, eine Diktatur, die man auch als totalitäre Herrschaft bezeichnen kann. Sie kam zuerst in Rußland unter dem Deckmantel des Bolschewismus oder Kommunismus auf. Dann zeigte sie sich in Italien als Faschismus, in Deutschland läuft sie unter dem Namen Nationalsozialismus.

Die große Organisation, die in der Religion der Welt vorangeht, unterstützt nun diese Ungeheuerlichkeit, und das ungeachtet dessen, unter welchem Namen oder Deckmantel sie auftaucht. Diese monströse Diktatorenherrschaft versucht, Vorschriften oder Gesetze durchzudrücken, wie zum Beispiel die, daß man Menschen das "Heil" entbieten müsse, daß man zwangsweise die Fahne grüßen müsse und ähnliches mehr, womit die Menschen veranlaßt werden sollen - oder es wird versucht, sie dazu zu veranlassen -, anzuerkennen, daß ihr Schutz und ihre Rettung von Menschen und der Macht über die Menschen kämen, die durch ein Emblem oder eine Fahne dargestellt werden.

Anders gesagt, die Religionisten haben wirklich dem zugestimmt, daß Schutz und Rettung von menschlicher Macht kämen und nicht von Jehova Gott durch Jesus Christus. Die Religionsorganisationen fügen sich völlig in die Lehre, daß der "Staat" über Jehova Gott und seinem König Jesus Christus steht und höher ist. Durch ihre Verfügung und ihre Handlungsweise zeigen sie, daß sie glauben, der "Staat" dürfe alle Arten von Gesetzen erlassen, die völlig im Gegensatz zu Gottes Gesetz stehen und Gott mißachten, und daß alle Menschen diesem Gesetz des Diktators gehorchen müßten, egal was Gottes Gesetz gebietet.

Jetzt unterstützt der Vatikan vollkommen den grausamen Eroberungskrieg gegen die Abessinier, die Revolution und das ruchlose Abschlachten in Spanien und den ungerechten Krieg Japans gegen China. Dieselbe Religionsorganisation hat mit dem Nazidiktator ein Abkommen getroffen, und sie willigt darin ein, daß der Diktator die Macht über andere Nationen ergreift."

Im Gegensatz zu den Zeitgenossen, hat man aus der rückblickenden Perspektive eher die Möglichkeit "Licht und Schatten" abzuwägen.

Ich nehme mir die Freiheit für meine Person zu erklären, dass ich Rutherford's Einschätzung der katholischen zeitgenössischen Politik sehr wohl nachvollziehen kann. Die Apologeten der katholischen Kirche und ihre Kompagnons auch in der Evangelischen, haben mich bis heute nicht davon überzeugt, dass ihre zeitgenössische Politik nicht eine äußerst trübe war. Rutherford hat einiges deutlich ausgesprochen, was ich bezüglich genannter Herrschaften nur mit unterschreiben kann.

Dennoch auch Rutherford findet meine Kritik. Er hat es klar ausgesprochen, dass für ihn "Gott über den Menschen" steht und dass er gewillt ist, es diesbezüglich zum Konflikt kommen zu lassen. Die Praxis hat ja denn auch bewiesen, dass dem so ist.

"Gott" bedeutet indes in der Rutherfordterminologie er selbst (als dessen Sprachrohr). Wirft er seinen Gegnern Diktatur vor, so nur um seine eigene um so besser ausbauen zu können. Rutherford, sein Vorgänger und seine Nachfolger sind für mich alle, in einem kardinalen Punkt unglaubwürdig. Und das ist der, dass angeblich die Probleme der Menschheit "nur" durch Gott und durch die Endzeitspekulationen seiner "Sprachrohre" "lösbar" wären. In diesem Punkt - und das ist für mich der kardinale - gibt es keinen Konsens.

Menschen machen Fehler. Auch Rutherford, auch die heutige WTG. Fehler können ihr Korrelativ nur durch gegenteilige Argumentation finden. Also im Prinzip die Grundsätze der Demokratie.

Rutherford und seine Nachfolger reden indes primär von der "Theokratie" die praktisch nur eine religiös bemäntelte Diktatur ist.

1938er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

Die Ära Rutherford

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