"Volksempfänger"

Als in den 1920-er Jahren der heutige Rundfunk sich zur "Serienreife" entwickelte, da weckte er zugleich bei einigen gewisse Begierden. Auch die Nazis gehörten zu ihnen. Als es ihnen gelang 1933 die Macht in Deutschland an sich zu reißen, sollte sich das sehr schnell offenbaren. Ihr Propagandaminister Goebbels hatte schon früh den Wert des Rundfunks als ein Mittel zur Massenbeeinflussung erkannt. Und so wurde von ihm auch gleich nach 1933 die Order an die Industrie herausgegeben, preiswerte Radiogeräte in Massendimensionen auf den Markt zu bringen. Was dann auch gelang. Landläufig waren diese Geräte als "Goebbelsschnauze" bekannt, dieweil sie keinen Kurzwellenbereich enthielten und vorrangig nur den Empfang der nazistischen Propagandastationen ermöglichten.

Nicht nur die Nazis waren von den technischen Möglichkeiten des Rundfunks fasziniert. Jenseits des "großen Teiches" saß noch einer, den es offenbar ähnlich erging. Sein Name: Joseph Fränklin Rutherford, seines Zeichens "Häuptling" der Bibelforscher. Auch er hatte schon früh die propagandistischen Möglichkeiten des Rundfunks erkannt. Seinerzeitige sowjetische Autoren wollen dazu gar wissen, dass Multimillionäre wie Rockefeller, ihn mit saftigen Finanzspritzen versahen, die ihm den Einstieg in das Rundfunkgeschäft ermöglichten. Denn im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" gab es eine entscheidende Hürde dabei. Und die hieß: Money. Nur, wer finanzkräftig genug war, konnte sich auch auf kommerzieller Basis im dortigen Rundfunk verbreiten. Offenbar war dies für Rutherford keine Hürde. Denn mit immer neuen Rekordzahlen vermochte er seiner Anhängerschaft das Staunen beizubringen, wieviele dortige Radiostationen doch seine Vorträge übertrugen. "Vom Herrn überwaltet" hieß die Parole dazu. Vielleicht hatte dieser "Herr" auch einen sehr irdischen Namen und hörte auf Rockefeller & Co? Wer weiß es? Mögen die sowjetischen Autoren, die keine Quellenbelege für ihre These geliefert haben, vielleicht auch "im Nebel herumgestochert" haben. Interessant bleibt ihre These dennoch. Denn dass erhebliche Finanzbeiträge für die Rutherford'schen Rundfunkaktivitäten notwendig waren, steht außer Frage.

Die Rutherford'sche Radioeuphorie kam schon in seiner 1927 veröffentlichten Broschüre "Freiheit für die Völker" zum Ausdruck, wenn er sich darin mit den Worten verbreitete (S. 13):

"Niemand war jemals imstande zu erklären, was Radio ist. Es ist eine unsichtbare Kraft, durch die die menschliche Stimme durch die Luft getragen wird und anderen in weiter Entfernung Nachricht bringt: was es aber eigentlich ist, kann niemand sagen. Sicher aber ist, dass Gott das Radio bereitgehalten hat, weil er es in seinem, vor vielen Jahrhunderten durch seinen Propheten aufgezeichneten Worte vorausgesagt hat (Hiob 38:35). Daher musste auch im Verlauf der Entfaltung seines Planes die bestimmte Zeit kommen, das Radio zu gebrauchen. Diese Zeit ist nun herbeigekommen, und Gott will es zum Segen der Menschheit benützen."

Nur war Rutherford's Rundfunkpublizistik nicht dazu angetan, überall "helle Begeisterung" auszulösen. Eher war das Gegenteil der Fall. Rutherford war im "Markt der Religionen" nur eine Stimme unter vielen, wenn auch eine sehr aggressive. Ohne Zweifel vermochte er gewisse Kreise anzusprechen. Das waren dann die, die ausgehend von einer religiösen Sozialisation, in etwa mit jenen Kreisen vergleichbar sind, die in Deutschland von den Kommunisten (in den 1920-er Jahren) erreicht wurden.

Nur das die Deutschen in der Regel nicht mehr über die "religiöse Sozialisation" verfügten.

Symptomatisch kommt dies auch in der Grundsatzthese von Rutherfords 1933 veröffentlichter Broschüre "Intoleranz" zum Ausdruck, in der auch ausgeführt wurde:

"Hätten die heutigen Herrscher Erkenntnis und Verständnis und Glauben an Gottes Wort, so wären sie überzeugt, dass die Welt nie wiederhergestellt werden kann, und das alle Machenschaften zur Wiederherstellung der Welt sicherlich fehlschlagen werden, und zwar, weil Jehova das endgültige Urteil gefällt hat, dass diese Welt zerstört werden muss" (S. 61).

Ohne Berufung auf Jehova, und ohne religiöse Floskeln, verkündeten die deutschen zeitgenössischen Kommunisten eine ähnliche These. Auch sie waren der felsenfesten Überzeugung, dass der "bürgerliche Staat" um jeden Preis zerstört werden muss. In seinen Trümmern gedachten sie dann ihre Herrschaft, ihr "Goldenes Zeitalter" zu errichten. Wie man weiß, kam es etwas anders. Die kommunistischen Blütenträume jener Zeit wurden abrupt gestoppt.

Auch im "Land der unbegrenzten Möglichkeiten", wollten andere Religionsführer es nicht dulden, dass sich da Rutherford begann mit solchen Thesen sozusagen eine Art Monopolstellung in der Rundfunkpublizistik aufzubauen. Sie machten sich daher stark um ihn wieder aus dem Rundfunk zu vertreiben. Und sie hatten langfristig Erfolg damit. Aber da Money eine entscheidende Voraussetzung für den Rundfunkzugang war, gelang es den Rutherford-Gegner nicht, ihn kurzfristig zu vertreiben. Sie mussten in ihrer Gegnerschaft vorerst auch mal nur "kleine Brötchen" backen. Aber immerhin. Steter Tropfen höhlt auch den Stein. Und über Detailerfolge konnten auch sie sich schon Anfang der dreißiger Jahre freuen.

Eine Widerspiegelung dieser Sachlage ist auch aus dem Munde von Rutherford nachweisbar. In seiner 1933 erschienenen Broschüre "Zuflucht zum Königreich" kann man diesbezüglich einiges nachlesen. Nachstehend einige Passagen daraus, die auf die oben beschriebene Sachlage Bezug nehmen:

"In Kanada, dass einen Bestandteil der 'Christenheit' bildet, haben Männer in hohen amtlichen Stellungen das Volk jenes Landes daran gehindert, Gottes Botschaft im Rundfunk zu hören. … Ich werde den Führer jener Kommission nicht durch Nennung seines Namens auszeichnen. Er hat mich nicht beleidigt und kann mich nicht beleidigen, weil die Botschaft, die ich überbringe, nicht meine Botschaft ist. Er kämpft gegen Gott. Ein freies Volk, dass fähig ist, selbst darüber zu entscheiden, was es hören möchte, ist seines billigen Rechtes, zu hören was es in dieser Stunde großer Bedrängnis nötig hat, beraubt worden; und mehr als dies: Jehova Gott ist durch jenen in Kanada wohnenden überheblichen Zensor herausgefordert und sein Wort und sein Name sind geschmäht worden. Jehova Gott wird jenem gesetzlosen Menschen und seinen bösen Komplizen und Ratgebern gerechte Vergeltung erstatten. Er gibt zu, dass die Geistlichen seine Berater sind, und das jene Männer Pastoren und Hirten verschiedener religiöser Gemeinschaften sind. Jener Mann und seine Bundesgenossen sind die Gewaltigen der Herde der Geistlichen. Das Geschick, dass solche Menschen erwartet, hat Jehova Gott angekündigt, und ich werde sogleich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken. Es wäre also unangebracht, wenn ich mich gegen ihn oder gegen irgendeinen anderen Menschen in tadelnden Worte ergehen würde. Die Rache ist Jehovas, und er wird sein Urteil an seinen Feinden vollstrecken.

In der Schlacht zu Gibeon warf Jehova große Eisklumpen vom Himmel und erschlug so eine Menge der Feinde, und er ließ die Sonne und den Mond stillstehen, während Josua das Werk des Erschlagens beendigte."

Mit diesen markigen Worten hatte sich Rutherford über seinen Frust Luft verschafft. Trotz seiner, den Tatbestand massiver Drohungen schon erfüllenden Bibelauslegungen, hat der nüchterne Historiker dennoch zu registrieren, dass Rutherford den Kampf um den Rundfunk letztendlich doch verloren hat.

1933er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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