"Grüße vom Tagesanbruch"

In der Oppositionsgeschichte der jetzigen Zeugen Jehovas, nimmt die sogenannte "Tagesanbruch Bibelstudienvereinigung" einen der bedeuteren Plätze ein. "Bedeutend" aber nur in dem Sinne, dass sie als eine relativ frühe Oppositionsgruppe bis in die Gegenwart sich halten konnte. In der Gegenwart hat sie aber für die Zeugen Jehovas keine faktische Bedeutung mehr, da sie beliebt, sich mit letzteren nicht mehr näher auseinander zusetzen. Man ist auf dem Stand von "Anno Dunnemals" stehen geblieben. Wie auch immer. In den Dreißiger Jahren sah das noch etwas anders aus. Damals musste auch die WTG zu ihr polemisch Stellung beziehen. Das Beispiel einer solchen Polemik ist im "Wachtturm" vom 1. 6. 1933 enthalten. Der WT zitiert dort eine Stellungnahme des "Tagesanbruch" um daran seinen eigenen Senf als Kommentar anzufügen. Man konnte dort lesen:

"'Die (Bibelforscher) Organisation wurde von Pastor Russell in den siebziger Jahren gegründet, aber die wahren Nachfolger der Lehren Pastor Russells verließen die Gesellschaft schon vor einer Reihe von Jahren. … Eigentliche Internationale Bibelforscher nehmen es übel auf, mit dem zusammengewürfelt zu werden, was jetzt von der Gesellschaft als die Lehren der Bibelforscher vorgebracht wird. Pastor Russell gab einen klaren Umriss seiner Stellung gegenüber den Kirchen und weltlichen Einrichtungen. Er verurteilte harte Worte und Unduldsamkeit. Sollte Dr. Hague das letzte von Pastor Russell veröffentlichte Buch 'Die neue Schöpfung' besitzen, dann möge er Seite 564 aufschlagen, und den Gegensatz zwischen Richter Rutherford und den Anweisungen, die Pastor gegeben hat, wird sehr scharf hervortreten."

Der Wachtturm kommentierte dazu:

"Hier ist ein weiterer Beweis der völligen Blindheit derer, die einst behaupteten, dem Herrn zu folgen, aber die Wahrheit, dass der Herr zu seinem Tempel gekommen ist, verworfen haben; dies zeigt, dass sie nicht zur Tempelklasse gehören und im Dunkeln sind. In Band 6 der 'Schriftstudien' lesen wir auf Seite 564, wie oben angegeben, folgendes:

'Manche sind, nach unserer Ansicht, viel zu weit gegangen in der Verurteilung der gegenwärtigen Zustände und haben diese in einer Art und Weise an den Pranger gestellt, die der Herr nicht geboten, noch auch durch seine Worte und Lebensführung gezeigt hat. Wir sollten dessen eingedenk sein, dass die Welt im allgemeinen es so gut macht, wie sie es versteht. Verhältnisse fortwährend zu tadeln, die andere ebensowenig zu ändern imstande sind als wir selbst, ist in jeder Hinsicht nutzlos, da dies nur unglücklich macht und Ärger verursacht ohne die gewünschten Resultate zu erzielen.'

Der Schreiber dieses Briefes fordert aber den Leser nicht auf weiterzulesen. Noch auf derselben Seite dieses Buches zeigt der Verfasser, dass die Zeit kommen werde, wo der Herr seine Rache ansagen lassen würde. (Man berücksichtige ferner, dass Bruder Russell die angeführten Worte im Jahre 1904 niedergeschrieben hat). Er sagte damals:
'In solchen Dingen sollten wir dem Beispiel des Erzengels Michael folgen, der nicht einmal ein lästerndes Urteil über Satan folgte, sondern sagte: 'Der Herr schelte dich!'. Zu seiner bestimmten Zeit und in seiner Weise (Judas 9). So ist es auch mit uns. Da wir wissen, dass der Herr die gegenwärtigen Einrichtungen zu seiner eigenen Zeit und in seiner eigenen Weise schelten wird, so können wir mit dem Apostel sagen: 'Habt nun Geduld, Brüder, denn die Gegenwart des Herrn ist nahe gekommen'; die Aufrichtung seines Königreiches, das nahe gekommen ist, wird alle diese Schwierigkeiten beheben. Die vorzeitige Aufregung über diese Dinge ist nicht nur nutzlos, sondern sogar nachteilig und schädlich.'

Diejenigen, die Menschen fürchten oder Menschen zu gefallen suchen oder die Kritik von Menschen vermeiden möchten, unterlassen es oder weigern sich, dem Herrn darin zu gehorchen, dass sie seine Rache gegen Satan und dessen verruchte Organisation verkünden. Sie schneiden sich selbst ab von Jehovas Organisation und werden wie die Schrift zeigt, herausgesammelt und verworfen."

Zieht man ein Resümee dieses Zitates und seiner Kommentierung, dann wird man wohl sagen können: Die Rutherford'sche Organisation verstand sich als Kampforganisation gegen das, was sie als "Satansdiener" interpretierte. Der Tagesanbruch dagegen hielt es mehr mit dem Bibelwort, soweit es an uns liegt, mit allen Menschen Frieden zu wahren und sich um ein ehrbares und stilles Leben zu bemühen. Wer da theologisch im Recht war, möge der Leser selbst entscheiden.

In Deutschland hat der "Tagesanbruch" eigentlich noch nie eine größere Bedeutung besessen. Dennoch gab es auch hier Separationen. Ein herausragendes Beispiel ist da besonders jene Bibelforscher-Gruppierung in der westfälischen Stadt Kirchlengern, die den Rutherford-Kurs nicht mitmachte. Sie konnte sich bis heute halten und verkündet ihren für die jetzigen Zeugen Jehovas belanglosen Konservatismus, weiterhin in ihrer Zeitschrift "Christliche Warte".

Aus dem kritischen Jahr 1933 ist ein Dokument über sie überliefert. Bekanntlich gab es seitens der Evangelischen Kirche auch eine sogenannte "Apologetische Centrale". Die diesbezüglichen Archivalien erlebten eine Odyssee. Jahrelang nach 1945 galten sie noch als verschollen. Dann tauchten sie plötzlich wieder im Bundesarchiv (seinerzeitige) Sammlungen Potsdam auf. Ihr dortiges bleiben war nicht von langer Dauer. Sie wurden letztendlich wieder in die kirchliche Trägerschaft zurück gegeben. Immerhin, in der Zeit ihres verweilens im Bundesarchiv, waren sie dort für die Forschung zugänglich. In ihrem Bestand befindet sich auch ein den Bibelforschern gewidmeter Ordner. Er macht die auch schon vorher bekannte Tatsache deutlich, dass es in der ersten Zeit nach 1933 durchaus eine partielle Kooperation zwischen dem Gestapa und der Apologetischen Centrale gegeben hat. Nachstehend sei aus jenem Bestand noch jenes, auf die Kirchlengener Gruppe bezugnehmende Dokument zitiert. Es stellt faktisch eine Art Gutachten über sie dar:

"Die 'Freie Bibelforscherversammlung Kirchlengern' ist eine völlig selbstständige, unabhängige Versammlung mit biblisch-christlicher Grundlage und steht in keiner Beziehung zu einem größeren Verband, weder zu der internationalen Bibelforschervereinigung (Jehovas Zeugen) noch zu irgend einer anderen Gemeinschaft.

Ihre Zusammenkünfte finden in einer eigenen Halle statt und sind jedermann zugänglich. Sie führt keine Mitgliederlisten und erhebt keine Beiträge.

Von politischer Tätigkeit hält sich die Versammlung grundsätzlich fern.

Die Versammlung Kirchlengern hat sich am 22. 12. 1931 fast einstimmig von dem Verband der Internationalen Bibelforscher gelöst.

Auskunft erteilt Pfarrer Erdmann, Kirchlengern bei Herford.

Bericht am 1. November 1933 vom Gestapa."

1933er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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