Sie nahmen Konserven

Die Dreißiger Jahre sind gekennzeichnet durch die 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise. In ihrem Gefolge gelang es in Deutschland einem Hitler die Macht zu erringen. Nicht nur Deutschland hatte mit der Weltwirtschaftskrise zu kämpfen. Auch die USA. Auch dort gab es ausgesprochene wirtschaftliche Notstandsgebiete. William Schnell berichtet beispielsweise als Zeitzeuge in seinem Buch, dass man dort sogar alte Autokühler und Batterien als Bezahlung für die WTG-Literatur entgegennahm, die dann anderweitig wieder in Geld umgesetzt wurden. Mag ein solcher Bericht für die Heutigen auch abenteuerlich erscheinen, so sei darauf verwiesen, dass selbst im "Wachtturm" ähnliches nachweisbar ist. In der Ausgabe vom 1. 6. 1933 ist ein von Anton Koerber namentlich gezeichneter Bericht enthalten, indem unter anderem ausgeführt wurde:

"In Rutledge, das in der Gegend von Grainger etwa 25 Meilen von Knoxville (USA) liegt, wurden kurz vor der Versammlung mehrere Zeugen verhaftet. Es waren Pioniere, die Konserven als Gegengabe für die Literatur entgegengenommen hatten. Die Leute hier in der Gegend werden dann und wann vom Roten Kreuz und anderen Wohltätigkeitsorganisationen versorgt. Diese sogenannten 'Wohltäter' hatten die Behörde veranlasst, Jehovas Zeugen zu verhaften, weil sie von den Vorräten genommen hatten, mit denen sie die Armen versorgt hatten. Die Pioniere wurden verhaftet und die Lebensmittel denen wieder zugestellt, von denen sie sie erhalten hatten. … Da erfahren wir, dass sich die Beamten mit dem Staatsanwalt in Verbindung gesetzt und Anweisung erhalten hatten, wieder das alte Lied und den alten Tanz mit uns anzufangen, dass wir ohne Gewerbeschein hausierten, indem wir die Menschen der Lebensmittel beraubten, die ihnen zugeteilt wurden. "

Jener Anton Koerber rühmte sich nun, dass es ihm gelungen sei, in der sich anschließenden Auseinandersetzung, verbunden mit einer juristischen Komponente, letztendlich doch in jener feindlichen Gegend die Interessen der WTG durchzusetzen. Er hatte seine Lektionen in Sachen "Beraubung der 'Ägypter'" offenbar gut verinnerlicht!

Genannter Koerber sollte noch in anderer Weise geschichtsträchtig in die Annalen der Zeugen Jehovas-Geschichte eingehen. In der "Erwachet!"-Ausgabe vom 8. 11. 1964 wird von ihm beiläufig berichtet, dass er der Vertreter der "Watch Tower" in Washington sei. Das heißt, er repräsentierte dort für die Zeugen Jehovas deren Lobby-Verbindung zur amerikanischen Regierung. Eine solche Karriere war zu einem früheren Zeitpunkt für Koerber durchaus nicht voraussehbar. Im Gegenteil. Einige Zeit später - im Jahre 1935 - hatte Koerber mit Rutherford einen Streit der damit endete, dass ihm der weitere Zugang zur Brooklyner Zeugen Jehovas-Zentrale versagt wurde und er faktisch exkommuniziert wurde. Koerber hat diese Zäsur in seinem Leben relativ gut überstanden. Er begann danach wieder aktiv in der Immobilienbranche zu wirken und machte damit finanziell ein Vermögen. Anfangs der fünfziger Jahre war es jedoch sein Bestreben, wieder eine Rolle in der Religion spielen zu wollen. Seine Ambitionen, sich bei der Konkurrenzorganisation "Tagesanbruch-Bibelstudien-Vereinigung" einkaufen zu können, wurden von letzterer zurückgewiesen. Da besann sich Koerber im Jahre 1952 wieder auf das Zeugen Jehovas-Hauptbüro, mit dem er erneut direkten Kontakt aufnahm. Seine dortigen Gesprächspartner, in Kenntnis seiner Vergangenheit, ließen ihn kurzerhand abblitzen. Unter Bezugnahme auf amerikanische Quellen berichtet die Zeitschrift "Brücke zum Menschen" (Nr. 3/1997) über die Verwunderung, die einen WTG-Funktionär überfiel, der ihn kurz vorher einen amtlichen Korb verpasst hatte:

"Ein oder zwei Tage später, als ich in den Speisesaal des Bethels zum Essen ging, war ich sprachlos, denn auf dem Stuhl neben N. H. Knorr saß Anton Koerber als sein Gast. Nach dem Essen verließ ich den Raum und konnte immer noch kaum glauben, was ich gesehen hatte. Ich ging ins Foyer, und Koerber rief mich zu sich und zeigte zum Fenster hinaus auf einen neuen Wagen, der am Straßenrand geparkt war, und sagte: 'Schau den Cadillac auf der anderen Straßenseite - ich habe ihn Knorr geschenkt, und er kann jederzeit einen neuen haben, wenn er will'".

Nach jener Episode war der Aufstieg des Koerber unaufhaltsam. Schon ein Jahr später, im Jahre 1953 trat er für die Öffentlichkeit sichtbar, als Vorsitzender des Internationalen Kongresses des Zeugen Jehovas im New Yorker Yankee-Stadion in Erscheinung. Die "Brücke zum Menschen" schließt ihren Bericht mit der Einschätzung:

"Die Tatsachen zeigen, dass Anton Koerber bei den 'Tagesanbruch-Bibelforschern' (dem 'bösen Sklaven') genauso glücklich gewesen wäre wie bei der Wachtturm-Gesellschaft (dem 'treuen und verständigen Sklaven'), solange er nur öffentlich Beifall erhalten konnte."

1933er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

ZurIndexseite