"Stürmer", Nazis und Kirchen

Las man soeben "zwischen den Zeilen" davon, wie atheistisch orientierte Freidenker und Bibelforscher, in der Sache (wenn auch nicht in der Form) eine ähnliche Sprache führten, so gibt es auch für die Gegenseite ein charakteristisches Dokument. Am 8. 2. 1931 veröffentlichte das berüchtigte nazistische Organ "Der Stürmer" auch einen Artikel über die Bibelforscher. Vieles in seinen Ausführungen ist zeitbedingt. Zugleich gibt er jedoch auch eine bemerkenswerte Charakterisierung der damaligen Stimmungslage wieder. Im Einzelnen konnte man darin unter anderem lesen:

"Der schwarze Tag der 'Ernsten Bibelforscher' in Neustadt a. d. Aisch.

Die sogenannten 'Ernsten Bibelforscher' hielten es für angebracht, in Neustadt a. d. Aisch zwei 'Aufklärungsabende' anzusetzen und zwar für Sonntag, den 25. Januar und für Montag, den 26. Januar. Das man gleich zwei Abende nacheinander ansetzte, wird wohl damit zu erklären sein, dass sie die 'Bibelforscher' der politischen Einstellung der Neustädter bewusst waren und ihnen deshalb eine doppelte Spritze verabreichen wollten. Wir Nationalsozialisten von Neustadt bedauern aufrichtig, dass die Wunderdoktoren ihre Spritze gar nicht ansetzen konnten, sondern umgekehrt derart gespritzt wurden, dass sie zeitlebens an Neustadt denken werden. Wie gesagt: Schade!

Was hat sich nun an den genannten Tagen in Neustadt zugetragen? Am Sonntag, den 25. Januar, abends 8 Uhr war der Löwensaal in N. gut besetzt und mit großer Spannung erwartete man den 'Vortrag eines ernsten Bibelforschers'. Anscheinend hatte es aber dem Vortragenden die Rede verschlagen, als er die vielen Hakenkreuzabzeichen sah, den statt des Vortrages wollte man gleich mit der Vorführung eines Filmes beginnen. Diese Taktik wurde vom Ortsgruppenführer der Nationalsozialisten, unserem bewährten Pg. Fritz Erlwein gleich erkannt und die Situation war sofort geklärt als Pg. Erlwein die Beantwortung folgender Fragen verlangte:

1. Was sagen Sie dazu, dass die von den Bibelforschern für 1925 vorausgesagten Ereignisse (z. B. dieses Jahr sei die Zeit des Anbruches der 'goldenen Zeitalters' oder: Abraham stehe in diesem Jahre auf, um dann vom Berge Zion aus mittels Rundfunk die Welt zu beherrschen, nicht eingetroffen sind?

2. Warum sagen die 'Bibelforscher' nichts gegen das Judentum und dessen Vertreter, dass doch zweifelsfrei sehr stark mit dem Kapitalismus verknüpft ist, während sie ganz allein die christlichen Kirchen und Geistlichen als Vertreter der Hochfinanz verdächtigen und auch aufs Schärfste angreifen?

3. Sagen Sie auch, wie Russell, Ihr Führer, dass die Haltung der christlichen Kirche noch niedriger sei, als die eines 'Hurenweibes'?

Die Bibelforscher, die diese Fragen sichtlich beunruhigt hatten, erklärten, dass sie im laufe der beiden Vortragsabende dazu Stellung nehmen würden. Pg. Erlwein fragte nun die anwesenden Volksgenossen, ob sie mit dieser Antwort zufrieden seien. 'Nein! Sofort antworten! Heraus mit der Wahrheit!' Auf diese erregten Zwischenrufe antwortet ein Bibelforscher: 'Wenn Sie sich nicht zufrieden geben, lasse ich Sie durch die Polizei entfernen!'

Auf diese herausfordernde Bemerkung setzte ein ungeheurer Tumult ein, der sich noch verstärkte, als nach nochmaliger Fragestellung des Pg. Erlwein der Ruf nach der Polizei erging. Die Polizei griff ein.

Im Saale verbreitete sich der liebliche Duft von Stinkbomben.

Nun begab sich der evangelische Geistliche, Pfarrer Düll von Neustadt, an die Seite unseres Pg. Erlwein und forderte die anständigen Christen von Neustadt auf, mit ihm den Saal zu verlassen.

Alles stand auf und unter Absingen des Deutschlandliedes und des Rufes 'Deutschland erwache!' verließ man geschlossen den Saal. Einige Neugierige, darunter ein sogenannter 'Gebildeter', blieben im Saal zurück. Vom Gange heraus erschallen Rufe: 'Raus!'

Nun rückte die durch Gendarmerie verstärkte Polizei an und räumte den Saaleingang. Nach einigen Minuten begaben sich wieder verschiedene Leute, darunter Marxisten in den Saal. Der Tumult setzte von neuem ein. Frösche und Stinkbomben wurden geworfen.

Unter diesen 'Begleiterscheinungen' dozierte dann ein 'Ernster Bibelforscher' über die ungeheure Größe der Arche Noah. 'Ihr müsst's ja recht genau ausgemessen ham!' sagte dazu ein älterer, schlichter Bauersmann. Als er dann in seiner urwüchsigen Art noch einige weitere, treffende Zwischenrufe machte, wurde er von der Polizei gewaltsam aus dem Saale entfernt.

Unter andauernder Störung wurde dann der klägliche Vortrag rasch zu Ende geführt.

Während dieser Zeit versammelten sich die Nationalsozialisten mit der deutschbewußten Bevölkerung von Neustadt vor dem Gasthof 'Zum Löwen' zu einer Demonstration gegen die 'Ernsten Bibelforscher'. Unter großer Begeisterung wurden die Kampflieder der nationalsozialistischen Bewegung gesungen und mit einem kräftigen 'Deutschland erwache!' Und 'Heil Hitler!' fand die überwältigende Kundgebung ihren Abschluss.

Am andern Tage wurde unser Ortsgruppenführer Erlwein beim Bezirksamte vorstellig und lehnte jede Verantwortung für das Verhalten seiner Parteigenossen beim folgenden Vortragsabend ab. Daraufhin wurde die Fortsetzung der 'Aufklärungsarbeit' der ernsten Bibelforscher polizeilich verboten.

Die Bibelforscher waren nun am Ende ihrer Kunst und es war zu ergötzlich, wie der 'Forscher' sich unter dem Schutz der Polizei zur Bahn begab.

Seine Kampfgenossen wurden dann unter Marxisten und Kommunisten gesichtet. Diese baten nun die 'Bibelforscher' um Überlassung von Flugblättern zur Verteilung an die 'Massen'!!

Die gleiche 'Front' wurde dann noch deutlich dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sich das Neustädter Reichsjammer (gemeint ist das sozialdemokratische Reichsbanner) zu einer Gegendemonstration 'aufstellte'!!

Mit folgenden Worten, die den unvorsichtigen 'Führern' der Demonstration entschlüpft sind, kommen die 'gewaltigen Massen' der 'Aufmarschierenden' am besten zur Geltung:

'Zum Donnerwetta, wo nur heut die Leut stecken. Wenn man sie einmal braucht, sind sie nicht da!'

Armer 'Führer'! Das einige Halbwüchsige auf den Ruf der deutschgesinnten Bevölkerung: 'Deutschland erwache!' mit dem Rufe 'Deutschland verrecke! Nieder mit Deutschland!' antworteten, sei ihnen unvergessen.

Das außerdem Marxisten einen anwesenden Geistlichen in der gemeinsten Weise beschimpften entspricht ihrer Art. Ein Schulbeispiel für die Verrohung dieser Leute. Ein ehemaliger Schüler der Geistlichen bezeichnete diesen als 'Pfaffen' und 'Weißbrotfresser' Untermenschentum!

Manchem guten Bürger von Neustadt, der bisher den Nationalsozialisten nicht gutgesinnt war, sind nun die Augen aufgegangen und viele gewannen die Überzeugung, dass es die Nationalsozialisten nicht nur mit ihrer politischen Anschauung, sondern auch mit dem Tatchristentum ernst meinen. Neue Kämpfer treten in unsere Reihen ein.

Den immer noch schlafenden seien nochmals die politischen Begebenheiten, die wir innerhalb einer Woche in unseren lieben Heimatstädchen haben, vor Augen geführt: Tannenbergbund-Beifall der Marxisten! 'Ernste Bibelforscher'-Unterstützung durch Marxisten.

Deutsche Arbeiter, Bauern und Bürger von Neustadt erwacht, es ist allerhöchste Zeit!!"

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