Rumänische Episode

Noch heute kann man im Internet eine rumänische Bibelforschergruppe "begutachten", bei der die Meinungen hin und her wogen, wie sie denn einzuordnen sei. Aus dem Erbe Russells entstanden? Von Rutherford beeinflusst? Fest steht jedenfalls das es sich dabei auch um eine Gruppierung handelt, die einen von der WTG unabhängigen Kurs eingeschlagen hat. Mehr kann man zu ihr - jedenfalls in der deutschen Literatur - nicht ermitteln. Die Sache bekommt allerdings ein schon etwas anderes Gesicht, wenn man einen zeitgenössischen Bericht dabei mit im Blickfeld hat. Er sagt auch einiges über die "Brüderlichkeit" der damaligen Bibelforscher aus. Er sei deshalb hier nachstehend (kommentarlos) wieder gegeben. In der seinerzeitigen "Vossischen Zeitung" vom 10. 3. 1929 konnte man unter der Überschrift: "Die den jüngsten Tag erwarten" die nachfolgenden Ausführungen von Dr. Wolfgang von Weisl lesen:

"In einem soeben beendeten Massenprozeß gegen rumänische und deutsche Anhänger der internationalen Sektion der Bibelforscher die in Rumänien (und übrigens auch in Ungarn) verboten und kommunistischer Tendenzen verdächtigt sind, hat das Kriegsgericht des VI. Rumänischen Armeekorps in Klausenburg ein überaus hartes Urteil gefällt: neben einer Reihe von Gefängnisstrafen gegen rumänische Staatsbürger, wurden zwei Deutsche, Balzereit und Dollinger, der Vorsitzende und der Syndikus der deutschen Sektion der 'Bibelforscher' wegen Propaganda für diese Organisation zu nicht weniger als zehn Jahren Zuchthaus in in Contu macium verurteilt.

Die beiden Deutschen waren vor einem Jahr nach Klausenburg gekommen, um den dortigen Führer der 'Bibelforscher' Sima, einen Druckereibesitzer und zugleich Neffen des rumänischen Patriarchen, zur Verantwortung wegen seiner auffälligen Geschäftsgebarung zu ziehen, die unter anderem dafür verantwortlich war, dass die Organisation in Ungarn und Rumänien verboten war. Sima, der überdies den großen Betrag von über sieben Millionen Lei der Organisation schuldete, denunzierte die beiden Deutschen wegen 'kommunistischer' Umtriebe; sie und 14 rumänische Bibelforscher wurden verhaftet und die Deutschen erst gegen Zahlung einer Kaution von 200 000 Lei und nach zehntägigem Hungerstreik nach Deutschland entlassen.

In ihrer Abwesenheit wurde nun vom Kriegsgericht der Prozess gegen sie durchgeführt, bei dem Sima, der bisherige Führer der Bibelforscherbewegung in Rumänien, die Rolle des Kronzeugen gegen die Deutschen spielte, denen er etliche Millionen Lei schuldete. Das einzige Moment, dass bei dieser Verhandlung zugunsten der rumänischen Gerichtsbarkeit ist, dass Sima wenigstens am Ende des Prozesses unter Anklage gestellt wurde …"

Nach dieser Darstellung des speziell rumänischen Aspektes, wird in dem fraglichen Artikel dann noch relativ umfänglich, auf die zeitgenössische Bibelforschertheologie eingegangen. Man wird dem Autor bestätigen können, dass es ihm durchaus gelungen ist, auch dabei die wesentlichen Aspekte "einzufangen". Im einzelnen schrieb er dazu:

"Die 'Bibelforscher' sind eine der radikalsten, und zweifellos die rührigste christliche Sekte der Nachkriegszeit. … Sie sind zugleich aber - wenn man von den Quäkern absieht - die einzige christliche Sekte, die mit der Losung der Kriegsdienstverweigerung und des unbedingten Pazifismus Sturm gegen die bestehenden kirchlichen Organisationen sämtlicher Konfessionen läuft. 'Frömmelnde Heuchler predigen von den Kanzeln darüber, dass Kriegsdienst Gott wohlgefälliges Opfer sein könne - es sind ruchlose Diener Satans', so etwa formuliert die Bewegung der 'Bibelforscher' ihre Stellung zu diesem weltbewegenden Problem unserer Zeit.

Mit dem Worte 'Diener des Satan' kennzeichnet sie aber nicht nur jene Geistlichen, die etwa für den Krieg Stellung genommen haben, sondern letzten Endes - alle Geistlichkeit, alle Autorität überhaupt. Die uralte Menschheitsfrage, warum unsere Welt so viel Unglück, so viel Ungerechtigkeit und Leid füllen, beantworten die 'Bibelforscher' einfach: weil nicht Gott, sondern der Satan auf dieser Welt regiert - weil der Satan die Menschen belügt, weil er alle menschlichen Institutionen in seinen Dienst gebracht und vor allem, weil er selbst die Kirche dazu gewonnen hat, seine Lehren und nicht das Evangelium zu verbreiten.

Und so bildet die 'Vereinigung der Bibelforscher' eine Bewegung gegen jegliche christliche Lehre im Dienste der freien, unorganisierten - der Nachfolge Christi. Ihre Glaubenssätze verwerfen alles, was nicht auf Wort und Buchstabe der Bibel beruht.

Diese Lehrmeinungen sind an und für sich nicht neu; zum Teil sind sie Gemeingut einer ganzen Reihe von christlichen Sekten seit den Tagen der Gnostiker. … Aber die 'Bibelforscher' sind zugleich die entschiedensten Verkünder der (nach innen) bereits erfolgten Wiederkehr Christi und des baldigen Anbruches des Weltendeschicksal-Krieges von Harmagedon … Jetzt, in unseren Tagen, bilden die 'Bibelforscher' eine eigenartige und merkwürdige Gruppe in unserer aus ihren Fugen geratenen Zeit.

Auf Grund der bekannten Prophezeiung des Buches Daniels und unter der Annahme, dass die Zerstörung des Reiches Israels Anno 606 v. Chr. erfolgt sei - worüber man ja allerdings streiten kann -, errechnen die Bibelforscher, dass der 'Beginn des Endes der Zeiten' von dem die Bibel spricht, Anno 1799 (Napoleons Zug nach Ägypten) eintrat, dass der Beginn der Zeit über die man 'sich freuen wird', sie zu erleben, 1874 - Gründung der Arbeiter-Internationale - war, an dem Christus 'wiederkam' (das heißt, begann, wieder Anteil an dem Geschehen auf der Welt zu nehmen), und das 1918 das angekündigte 'Ende der Nationen' eingetreten sei. Die 'Nationen' seien im Begriff zugrundezugehen, und nun werde bald der Tag des letzten entscheidenden Kampfes kommen, zwischen Gut und Böse, zwischen Jehova und den Seinen gegen Satan … Das große Harmagedon.

Nun, diesen entsetzlichen Kampf, bei dem man nach den Worten der Bibel 'die Erschlagenen Jehovas von einem Ende der Erde bis zum anderen liegen' werden, - diesen entsetzlichen Kampf sieht jeder Militärschriftsteller von heute auch voraus, ohne das er deswegen ein 'Bibelforscher' zu sein brauchte. Nur, dass die 'Bibelforscher' aus ihm einige andere Folgerungen ziehen: sie glauben erstens, dass dieser neue Weltenbrand unvermeidlich und nahe bevorstehend ist; sie glauben ferner, dass er 'kein Krieg zwischen Nationen', sondern gemäß den Worten der Apokalypse ein Krieg 'Gottes des Allmächtigen' selbst sein wird, den er gegen den Satan führt, um die Herrschaft auf dieser Welt, das 'Königreich Gottes' anzutreten, und drittens, dass es die Aufgabe jeden Menschen sei, sich für diesen Tag dadurch vorzubereiten, dass er dem Satan entsage und sich auf die Seite Jehovas stelle - die Armee von morgen.

Das aber es Satan sei, der heute regiere, dass 'beweisen' die Bibelforscher nicht aus den Worten der Schrift, sondern aus dem Anblick des täglichen Lebens: sie verdammen nicht nur den Krieg, nicht nur die Kirche, nicht nur den Staat und jedes Ritual als sein teuflisches Werk, sondern auch die kapitalistische Gesellschaftsordnung, die auf Eigennutz aufgebaut sei. Aber sie glauben nicht daran, dass irgendeine andere von Menschen geschaffene Ordnung etwas bessern könne; weder Sozialismus noch Kommunismus sind besser als die Weltordnung des Privateigentums, dass sie für schlecht halten. Nur die Herrschaft Gottes kann etwas ändern - die Liebe und das Gericht, dass sie bald erwarten.

Und mit diesem Pessimismus gegenüber dem Staat in seiner heutigen Form bilden sie letzten Endes doch wieder nur ein Glied in der langen Reihe von Pessimisten, die die Hilfe von anderen erwarten. Und die warten, bis dahin warten …"

 

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