Dasselbe sagten auch die Freidenker!

Was motivierte Menschen in den zwanziger Jahren, sich den Bibelforschern anzuschließen? Zum einen wird man zu konstatieren haben, dass es sich dabei um solche handelte, die in der Regel eine religiöse Sozialisation erfahren hatten. Dennoch standen sie, aufgrund ihrer konkreten Lebensbedingungen auch den Kirchen kritisch gegenüber. Jenes Potential wurde nun von Rutherford in besonderer Weise angesprochen. In seiner 1927 veröffentlichten Broschüre "Freiheit für die Völker" kommen diese Aspekte auch markant zum Vorschein.

Das Bibelforscher-Jahrbuch für 1930 notierte über jene Schrift:

"Richter Rutherfords Vortrag ('Freiheit für die Völker', gesendet am 24. Juli 1927 von Toronto in Kanada über die größte Anzahl von Stationen, die bis zu jener Zeit verbunden waren) war ein schwerer Angriff auf die organisierte Religion und die Geistlichkeit aller Denominationen. Angesichts dieser Erfahrung kann die National-Broadcasting-Company nicht wieder gestatten, dass ihre Sendemöglichkeiten von ihm oder seiner Organisation benutzt werden. Diese Entscheidung, die am 5. Mai 1928 verkündet und bis heute aufrecht erhalten worden ist."

Im "Wachtturm" (1927 S. 341-344) wird jener Rutherford-Vortrag mit den Worten referiert:

"Satans sichtbare Werkzeuge sind solche selbstsüchtige Menschen, die berechnend ein System der Regierung bilden, dass die Völker bedrängt und kontrolliert. Drei Menschenklassen bilden diese herrschenden Mächte, nämlich: Hochfinanz, genannt 'Großgeschäft'; berufsmäßige Politiker, genannt 'Staatsmänner'; und orthodoxe Geistliche, genannt 'religiöse Führer', dass heißt solche, welche die Religion benutzen und handhaben.

Diese drei Klassen vereinigt bilden eine kleine Minderheit, welche herrscht. Ohne Rücksicht auf die ihnen obliegenden Verpflichtungen haben oft selbstsüchtige Menschen, welche diese herrschende Minderheit bilden, üppig und leichtsinnig zu ihrem eigenen Vergnügen auf Kosten der Massen gelebt. Lange Zeit haben die Völker solche geduldet und unterstützt und dabei große Leiden und Sorgen erduldet. Doch nun unterbreite ich Ihnen das Zeugnis ihres eigenen Mundes, welches über allen Zweifel beweist, dass die sogenannte 'organisierte Christenheit' eine Unaufrichtigkeit und eine Täuschung ist, ein System der Bedrückung und eine Bedrohung der allgemeinen Wohlfahrt der Völker.

Die Hochfinanz hat Trusts in der ganzen Christenheit aufgerichtet, und der Erzeuger muss an diese seine Produkte zu lächerlich billigen Preisen verkaufen, oder er kann sie überhaupt nicht verkaufen, und diese ihrerseits verkaufen sie dann wieder an den Verbraucher zu übermäßig hohen Preisen; der Konsument aber muss entweder zahlen oder verhungern. Der Erzeuger erhält nur wenig, der Verbraucher zahlt viel, und die Hochfinanz, die nichts produziert, rafft enorme und unvernünftige Profite an sich. Das Resultat ist, dass der Kleinhandel an die Wand gedrückt wird, dass die Trusts das Geschäft machen, und dass das Volk die Rechnung bezahlt.

Die Völker haben eine Form der Wahl, durch welche sie scheinbar ihre öffentlichen Diener wählen können. Aber die meisten dieser politischen Staatsmänner sind erwählt und kontrolliert durch den zersetzenden Einfluss des 'Großgeschäfts'.

Selbst die Gerichte sind durch das Großgeschäft bestochen.

Wenn das 'Großgeschäft' wünscht, seine Besitztümer zu vermehren, und Krieg vorteilhaft für seine selbstsüchtigen Interessen zu sein scheint, zögert es nicht, Krieg zwischen den Völkern der verschiedenen Nationen zu provozieren. Auf das Gebot der 'Hochfinanz' verordnen die Politiker die notwendigen Aushebungsgesetze, welche das gewöhnliche Volk aus allen Teilen des Christentums zwingen, die anderen zu töten, während die Vertreter des 'Großgeschäfts' und ihre Verbündeten sich in ihren Löchern verbergen.

Wer ist verantwortlich dafür, dass solch harte, grausame Herrschaft 'Christentum' genannt wird? Ich antworte: Die Geistlichkeit der verschiedenen Bekenntnisse. Ehrgeizig nach der Billigung und dem Beifall der Menschen und mit dem Wunsch, in Behaglichkeit und Üppigkeit zu leben, haben sich die so Gesonnenen mit dem Großgeschäft und den Berufspolitikern verbündet. In dem vergangenen Weltkrieg machten sie (z. B. In England) ihre Kirchen zu Rekrutierungsanstalten, und fast alle Geistlichen befürworteten das Vergießen von Menschenblut. … Mit großem Schaugepränge und Glorienschein reitet dieses gottlose System auf dem Rücken der Völker. Ohne die Unterstützung des allgemeinen Volkes könnte dieses ruchlose System nicht weiterbestehen. Wenn ihm die Völker die Unterstützung entziehen, dann wird das 'organisierte Christentum', das ein Teil Babylons oder der Organisation des Teufels ist, gleich einem Mühlstein in das Meer fallen."

Als ein Beispiel für die "Breitseiten", die mit dieser Rutherford-Broschüre abgefeuert wurden, vielleicht noch ein Zitat aus ihr ("Freiheit für die Völker" S. 32):

"Dr. Newell Dwight Hillies, Pastor der Plymouth-Kirche Brooklyn, war einer der heftigsten Befürworter des Eintritts Amerikas in den Weltkrieg. Handelte er in der Autorität Christi? Nein! Keineswegs! Die amerikanische Bankvereinigung sandte ihn als Missionar nach Europa. Er handelte auf das Gebot dieser herzlosen und grausamen Finanzvereinigung. Er bereitete die Predigten vor, die Hunderttausende anderer Pastoren in Amerika zur Befürwortung des Krieges hielten, indem sie die jungen Männer in die Schützengräben predigten und das Volk aufforderten, Kriegsanleihe zu zeichnen."

Soweit, so gut. Man hat zu konstatieren, dass die Bibelforscherbewegung es verstanden hat, den antimilitaristischen Nerv der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, wirkungsvoll anzusprechen. Ähnliches taten übrigens auch die Freidenker mit ihrer plakativen These: "Die Kirche verkündete den Frieden und brachte den Krieg". Jene in beiden genannten Gruppen vertretene These traf den Zeitgeist, auch wenn sie nicht immer sachlich genug, differenziert dargelegt wurde. Dennoch gilt es eine kritische Einschränkung zu machen.

Es drängt sich noch ein anderer Vergleich auf. In ihrer 1998 erschienenen Studie "Zum Staatsfeind ernannt", die speziell der NS-Zeit in München gewidmet ist, kommt Marion Detjen auch zu einer prinzipielleren Einschätzung, die man, mit den von der Sache her notwendigen Abwandlungen, auch auf die Bibelforscher/Zeugen Jehovas übertragen kann. Sie schreibt: "In der Durchsetzung ihrer Ideologie waren die kommunistischen Funktionäre rigoros. Die 'Diktatur des Proletariats' nach sowjetischem Vorbild meinten sie durchaus wörtlich. Man würde bei einer Revolution Gewalt und Terror anwenden müssen, um 'konterrevolutionäre Elemente' zu beseitigen. Der Einzelne hatte sich ohne Rücksicht auf das eigene Wohlergehen in den Dienst der revolutionären Arbeiterklasse zu stellen und, wenn nötig, auch für eine vermeintlich bessere Zukunft zu sterben. Diese Gemeinschaftsideologie, die den Konservativen und gemäßigten Sozialdemokraten in dieser Form fehlte, machte den massenhaften kommunistischen Widerstand in den Jahren nach der nationalsozialistischen 'Machtergreifung' überhaupt erst möglich." Genau die gleiche Rigorosität - unter anderen Vorzeichen - wurde auch von Rutherford kultiviert.

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1927er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte