Vom Katholiken zum Nazi

Die Grenzen sind fließend. Einer jener der auf der "Grenzlinie" stand hieß Fritz Schlegel. Zwei Bücher über die Bibelforscher hatte er veröffentlicht. Das erste, 1922 erschienen titelte er: "Die Wahrheit über die Ernsten Bibelforscher". Wenn im folgenden auch eine gewisse Affinität des Schlegel zu politisch rechts gerichteten Kreisen nachgewiesen wird, so gilt es jedoch auch zu sehen, dass er sich in seinem Selbstverständnis nicht als primär politisch motiviert ansah. Ihm ging es letztendlich nur um die Verteidigung des katholischen Glaubens. Er sollte dabei allerdings auf Gleisen fahren, die einen unübersehbaren Rechtsdrall aufwiesen. 1922 jedenfalls schrieb er noch über die Bibelforscher, und machte damit sein eigentliches Anliegen deutlich:

"Seitdem nun ein Celsus (150), ein Lucian (200), ein Hierokles (300) und ein Porphyrius (305) den Griffel niederlegten, haben unzählige andere bis auf Bruno Bauer, Strauß, Renan, Häckel und Konsorten in unsern Tagen in ihrem Geiste antichristlich sowohl mit der Feder als mit dem lebendigen Worte am Geheimnis der Ruchlosigkeit gearbeitet. Unter diesen Kirchenfeinden waren sehr scharfe Denker! Aber aller Scharfsinn und alle Menschenweisheit konnten das Gotteswerk nicht zerstören. Nun kommen noch die Ernsten Bibelforscher und versuchen unter Mundtotmachung aller Philosophie, Logik und Konsequenz - das zu zerstören, was Geistesgrößen unter Anwendung aller Spitzfindigkeiten nicht vernichten konnten!"

1925 wurde Schlegel deutlicher. Sein in jenem Jahre erschienes Buch gab er den Titel: "Die Teufelsmaske der 'Ernsten Bibelforscher'". Sieht man es sich näher an, so fällt auf, dass auch er inzwischen - wie so viele andere seinesgleichen - von dem auf dem Markt befindlichen antisemitischen Pamphlet "Protokolle der Weisen von Zion" beeindruckt war. Eine Differenzierung gilt es hierbei noch zu machen. Jene Antisemitenbibel fand auch Ausdeutungen, die zugleich (nicht nur - aber auch) gegen die katholische Kirche gerichtet waren. Soweit wollte Schlegel natürlich nicht gehen. Die katholische Kirche war ihm heilig. Aber ansonsten stimmte er durchaus auch in den Chor der Protokolle-Apologeten mit ein. Besonders prägnant bringt er auf Seite 102 seines 1925-er Buches seine diesbezügliche Position auf den Punkt, wenn er schreibt:

"Um Missverständnissen vorzubeugen, sei vorgemerkt, dass es Kreise gibt, die behaupten: Kirche, Zentrum und Jesuitenorden seien mit Freimaurerei und Judentum verwachsen. Einen solchen Unsinn konnte ich noch nie rechtfertigen, viel weniger noch vertreten. Besagter Ansicht ist zum Beispiel auch Hans Lienhard in seiner Broschüre: 'Der große Volks- und Weltbetrug durch die 'Ernsten Bibelforscher'. Ein solcher unlogischer Antisemitismus muss auch zur Christenverfolgung führen. … Ebenso ungerecht ist es aber, sämtliche Antisemiten als Christenfeinde zu bezeichnen. Es wird sich vielleicht noch zeigen, wieviele eifrige Katholiken und Protestanten ausgesprochene Judengegner sind. Ja, wenn man wirklich logisch sein will, muss ein überzeugter Christ sogar Judengegner sein."

Im Zusammenhang mit seinem 1925-er Buch begann Schlegel auch eine eigene Zeitschrift mit dem Titel "Abwehr" zu gründen, deren Hauptschriftleiter (mit einer kurzen Unterbrechung) er war. Das Bibelforscherthema wurde in ihr in sattsam bekannter Weise abgehandelt. Im Prinzip brachte aber Schlegel nichts Neues. Seine diesbezüglichen Thesen waren schon in seinen Büchern enthalten. Im Jahre 1929, Schlegel hatte sich geistig verausgabt und wusste längere Zeit nichts Neues mehr zum Thema Bibelforscher zu sagen, bekam die Redaktion der "Abwehr" eine Anfrage aus ihrem Leserkreis, warum es denn nun zum Thema Bibelforscher in ihren Spalten so still geworden sei. Das war für Schlegel der "Zündfunke" um darauf zu antworten. Seine Antwort offenbart aber zugleich auch einiges über seinen geistigen Hintergrund. Dem Fragesteller antwortete er ("Abwehr" 1929 S. 148):

"So wäre es auch für die 'Abwehr' eitles Unterfangen, sich mit den 'E. B.' mehr als nötig herumzuschlagen, während dessen aber ihre Mutter, die Weltfreimaurerei, ungeschoren zu lassen. Selbst wenn es gelänge, den Bibelforschern ihr Handwerk zu legen (aber keine Bange: so was ist höchstens in der Schweiz möglich, aber nicht in Deutschland, wo Staatsfeinde bevorzugt, Vaterlands liebende Männer aber verfolgt werden!), so hat die Mutter, die Freimaurerei, noch viele Kinder, die sie unter andrem Namen auf die Menschen loslassen kann. Ob sie neben den Baptisten, Adventisten, Methodisten, Sabbatisten u. a. noch einige weitere Dutzende von Sektenfirmen aufmarschieren lässt, macht ihr nichts aus. Der 'Abwehr' jedenfalls genügt es zu wissen, dass die Freimaurerei die 'Mutter aller gottlosen Sekten' ist. Sie ist dies nach dem Worte unseres Papstes Leo XIII. So wisse man, dass die 'Abwehr' nach wie vor mit Leo XIII. die Weltfreimaurerei als die Führerin des Satansreiches (auf Erden) betrachtet."

Mit diesen Worten hatte Schlegel in relativ wenigen Worten sein Credo offenbart. In Kontinuität der katholischen Freimaurerhetze, übertrug auch er sie auf das Bibelforscherthema. Noch etwas ist bezeichnend an diesem Votum von Schlegel. Er redet davon, dass in Deutschland (in der Weimarer Republikzeit) "Staatsfeinde bevorzugt, Vaterlands liebende Männer aber verfolgt werden". Hatten die Nazis zu der gleichen Zeit (1929) nicht die gleiche Klage geführt! Die Affinität des Schlegel zum nazistischen Gedankengut ist diesbezüglich nicht zu übersehen. Damit ist nicht gesagt, dass er in "allen" Punkten mit den Nazis übereinstimmte; aber doch in einigen, durchaus als bedenklich einzuschätzenden.

Auch für das Schlegel'sche Votum, dass in Deutschland "Vaterlands liebende Männer verfolgt würden", lieferte die maßgeblich von Schlegel dominierte "Abwehr" noch ein Veranschaulichungsbeispiel. In ihrer Oktober-Ausgabe 1931 (S. 62) wird von ihr ein Dokument wiedergegeben, dass dies Signalhaft veranschaulicht:

"Berlin, den 30. September 1931.

An den Abwehr-Verlag in Münster, Westfalen.

Postzustellungsurkunde!

Die in Ihrem Verlag erschienene Druckschrift 'Katholizismus und Nationalsozialismus' (eine Rede an den deutschen Katholizismus) von Pfarrer Wilh. Maria Senn wird gemäß § 12 Absatz 1 in Verbindung mit § 1 Absatz 1 Ziffer 2 der Verordnung des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 28. März 1931 und gemäß § 2 Ziffer 2 der zweiten Verordnung des Herrn Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 17. Juli 1931 auf Grund der Verordnung des Preußischen Minister des Innern vom 24. April 1931 und vom 18. Juli 1931 zur Ausführung der vorgenannten Verordnungen … für den Bereich des Freistaates Preußen beschlagnahmt und eingezogen, weil auf Seite 68 bis 70 der Druckschrift der Reichsminister des Innern Dr. Joseph Wirth, ein leitender Beamter des Staates (Reichs) beschimpft und böswillig verächtlich gemacht, und weil auf Seite 70 bis 84 gegen die Juden gehetzt und damit die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet würde."

Der in vorstehenden Dokument auch genannte Pfarrer Senn, wird heute katholischerseits, etwa von Gotto, als Einzelgänger interpretiert. Sei dem wie es sei. Fakt ist aber auch, dass zu damaliger Zeit Leute wie Senn, sehr bewusst auch von den Nazis instrumentalisiert wurden. Die genannte Schrift "Katholizismus und Nationalsozialismus" wurde denn auch prompt (ohne die inkriminierten Stellen) in einer zweiten Auflage von einem eindeutigen Karlsruher Naziverlag (Führerverlag) erneut publiziert. In ihr konnte man auch die Sätze lesen:

"Ich kann nicht schweigen - und wenn auch die Bischöfe Deutschlands gesprochen haben. Ich erkläre hier ausdrücklich, dass es mir fernliegt, an den bischöflichen Kundgebungen Kritik zu üben. Aber an einem Punkte desselben muss ich einhaken. Sämtliche Kundgebungen der deutschen Bischöfe gipfeln in dem Gedanken: So lange der Nationalsozialismus so ist, können Katholiken ihm nicht angehören. Gut! Ich lehne es ab, an dieser Entscheidung Kritik zu üben. Ich erhebe aber heute vor dem katholischen Deutschland die Frage: wer ist schuld, dass der Nationalsozialismus so ist?"

Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen äußerst sich Senn auch betont positiv angetan von dem "italienischen Beispiel". Etwa, wenn er anmerkt: "Ich kann hier nicht ausführlicher schildern, was Mussolini für Italien, für Kirche und Religion getan hat. Es ist auch nicht nötig. Das eine Wort des Papstes dürfte genügen: 'Italien sei Gott wiedergegeben worden.'"

Die starken Vorbehalte katholischer Kreise gegen den Nationalsozialismus, wegen dessen anitiklerikalistischer Tendenzen, die sich besonders markant mit dem Namen Alfred Rosenberg beispielsweise personalisieren lassen. Diese starken Vorbehalte versucht Senn mit den Worten zu entkräften:

"Hitlers 'Marsch nach Berlin' misslang. Wäre der Marsch gelungen, hätte Hitler die Macht ergriffen - ich behaupte ohne jedes Bedenken, dass das Christentum in Deutschland - katholische und evangelische Kirche - sicher nicht schlechter gefahren wäre wie in Italien."

Nicht nur dieser nazistische "Provinzverlag" interessierte sich für Senn. Ein Jahr später war es auch der "renommierte" Franz Eher Nachf. Verlag - die Hauptkoryphäe des nazistischen Verlagswesens - in der sich Senn erneut artikulieren konnte. Diesmal unter dem Titel: "Halt! Katholizismus und Nationalsozialismus. Meine zweite Rede an den deutschen Katholizismus und nach Rom". Darin nahm er auch direkt zu Rosenberg Stellung. Etwa, wenn er äußert:

"Vor einiger Zeit saß ich einem bekannten Führer der deutschen Hitlerjugend, einem edeln gläubigen Protestanten gegenüber. Als wir auf Rosenberg zu sprechen kamen, sagte er: 'Ja sehen Sie Herr Pfarrer, diese religiösen Anschauungen Rosenbergs gefallen mir auch nicht. Aber ich bin der Meinung, gerade deswegen müssen wir gläubige Christen hinein in die Bewegung und unsern christlichen Anschauungen zum Siege verhelfen.' Ich pflichte diesem Worte von ganzem Herzen bei."

Auch Schlegel selbst äußerste sich in seiner "Abwehr" (1931 S. 66) durchaus deutlich zum Komplex Nationalsozialismus. Etwa, wenn er anmerkt:

"Man wollte der 'Abwehr' unterschieben (von wem, ist zu bemerken überflüssig!) Sie wäre aus einer überparteilichen zu einer nationalsozialistischen Zeitschrift geworden. Mit diesem lächerlichen Einwand kann man uns nicht imponieren. Die 'Abwehr' hat sich nicht geändert. Seit Bestehen kämpft sie auf überparteilicher Grundlage gegen Freimaurerei und Judentum, also gegen das Antichristentum. Tut also das, was das Windhorstzentrum einst getan (lang, lang ist's her!) und was auch das heutige Zentrum längst hätte weiter tun müssen, wenn es die katholische Grundlage nicht längst preisgegeben hätte. … Wir sind aber nicht nur überparteilich katholisch, sondern auch überparteilich deutsch! Und in der heutigen durch die große Mitschuld des revolutionären und modernistischen Erfüllungs-Zentrum verursachten namenlosen Not, die zum Himmel schreit, kennen wir erst recht keine, ganz besonders aber keine Erfüllungs-Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche! In der NSDAP aber sehen wir nicht so sehr eine Partei, sondern die deutsche Freiheitsbewegung, von deren ziel- und verantwortungsbewusstem Führer wir mit großer Berechtigung allein noch die Rettung von Religion und Vaterland erhoffen können.

Der Bolschewismus, dieser unter den Augen des Zentrums jahrelang geduldete und damit großgezüchtete Stoßtrupp der im Stillen längst organisierten Gottlosentums steht sprungbereit, aber das Zentrum weiß nichts Besseres zu tun, als dem gefürchtetsten und erfolgreichsten Bekämpfer dieses Gottlosentums, dem Nationalsozialismus in den Arm zu fallen."

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