Zeitgenössisches Stimmungsbild (1923)

Wie man weiß ist der Nazismus nicht "vom Himmel gefallen". Er hatte auch Vorläufer. Als da waren der "Alldeutsche Verband" und nachfolgend unter anderem der "Deutschvölkische Schutz und Trutzbund". Letzterer wurde für die Ermordung des Reichsaußenministers Walter Rathenau politisch verantwortlich gemacht und in einem Akt seltenen entschiedenen Handelns, nach dem Rathenau-Attentat verboten. Er lebte aber weiter. Unter anderem mittels seines Publikationsorganes "Deutschvölkische Blätter". Einer seiner herausragenden Protagonisten war ein gewisser Thomas Westerich. In der Nr. 17/1923 der "Deutschvölkischen Blätter" veröffentlichte letzterer einen Artikel, der auch als Sonderdruck als Flugblatt zum Einsatz kam. Der Titel lautete: "Die Kirchen, der religiöse Ringkampf und das Jahr 1925". Die Grosskirchen waren in der Vor-Weimarer-Republikzeit Staatskirchen. Nur widerwillig fügte man sich in die neue Lage nach 1918. In der kurzen Zeit hatte man selbstredend die nationalistische Grundeinstellung bei weitem nicht überwunden. Genau an jene Ressentiments knüpften nun Westerich und Konsorten an. Das in jenen Jahren aufgekommene Bibelforscherthema war für sie das entsprechende Vehikel, um die Kirchen möglichst weiter auf stramm nationalistischen Kurs zu drängen. Wie man weiß hatten sie letztendlich Erfolg damit, denn die "Deutschen Christen" beispielsweise, als nazistischer Ableger des Christentums, waren keineswegs eine "unbedeutende Minderheit". In den zwanziger Jahren war es allerdings noch nicht so weit. Da redeten nicht die "Deutschen Christen", wohl aber die stramm antisemitischen Kräfte um Westerich und Konsorten in der Öffentlichkeit. Das genannte Flugblatt ist gewissermaßen ein "Kardinaldokument" für die damalige Stimmungslage. Aus ihm sei nachstehend etwas ausführlicher zitiert:

"Während unser Volkstum, infolge des verhängnisvollen Zusammenwirkens einer christlich gerichteten Partei (Zentrum) … immer mehr dem Abbau verfällt, greift die Wühlarbeit der 'Ernsten Bibelforscher' dank der furchtbaren Verbohrtheit und Selbstverblendung eben dieser christlichen Kreise beharrlich und ungestört um sich. Während das Zentrum, im vermeintlichen Glauben, dass rollende Rad nicht zu bremsen, dem nahenden Bolschewisierungsweg einer politisch-wirtschaftlichen Judendiktatur als Steigbügelhalter dient, lenken übereinstimmende Pläne Europas Mitte aus drei Richtungen auf ein Ziel hin, für dessen Erreichung die geistige Grundlage längst vorbereitet und für dessen Eintreten längst 'organisatorisch' das Jahr 1925 festgelegt ist. Wir haben in Nr. 15 dieser Blätter nochmals nachgewiesen, dass, wie die Ernsten Bibelforscher mit Nachdruck bestimmt haben, im Jahre 1925 jüdischen Patriarchen die Weltherrschaft antreten sollen. Man tut gut, diese Sache nicht von der lächerlichen Seite zu nehmen, denn es handelt sich hier nicht um Offenbarungen, sondern um augenscheinlich berechnete, also von langer Hand vorbereitete Pläne.

Inzwischen arbeitet der 'Scheinchristentum des Überganges' genannt 'Ernste Bibelforscherlehre', fieberhaft dem festgesetzten Zieljahr 1925 vor; unter ungeheurem Aufwande; unter Ausnutzung von unerschöpflichen Geldmitteln, deren Herkunft niemand kennen lernt, die es aber ermöglichen, fast täglich und in großen Städten sogar an verschiedenen Stellen zugleich eintrittsfrei die Riesenstätten von Massenversammlungen in großen Sälen auf sich zu nehmen und das Volk mit Flugschriften und zusammen auch mit Büchern spottbillig oder auch kostenfrei zu überschwemmen. Allmählich lernt Mitteleuropa, wie man es ja will, hypnotisiert auf das Jahr 1925 starren und sich an gewisse Gedanken gewöhnen, die den Weg pflastern helfen, den man es führen will. Das rätselhafte, in sich verschwiegene Vorgehen der E. B. aber erscheint, ebenso allmählich wie sicher dem betörten Nichtjuden als etwas Gottgewolltes. Und wenn dann 1925 dieses Rätsel sich löst, wird im Verein mit dem inzwischen sichergestellten politisch-wirtschaftlichen Zustand dieses "Gottgewollte" erreicht sein.

Es liegt uns nichts daran, Vorwürfe gegen die deutsche Geistlichkeit zu richten, obwohl solche, der Besorgnis entsprechend, innerlich berechtigt sein könnten. Man wird Geistlichkeit und Kirchenleitungen kaum als ein Ganzes ansehen können, obwohl gerade das sicher das Verhängnis fördern hilft. Viele Pfarrer regen sich rührig auf eigene Faust. Aber die Auswirkungen aus den geistlichen 'Kraftsammelstellen' fehlen bisher, wobei wir die Frage offen lassen wollen, ob hier Erkenntnismangel, Schwäche oder Gebundenheiten obwalten.

Der Einzelne hat freie Hand, der Mittelpunkt lässt alle Kräfte ungenutzt. Einzelne Pastoren … scheinen ihre Lebensaufgabe als Seelsorger ihres Volkes darin zu erblicken, einem fremden Volke einem fremden Glauben den Mantel der christlichen Liebe umzuhängen. Das ist mehr als Groteske.

Dieser Kampf deutscher Kirchenmänner dient dem gleichen Zweck, den auch die Bibelforscher anstreben. Die Tatsache, dass auch eine starke völkische Gegenströmung in der Geistlichkeit besteht, bestätigt zunächst nur, dass auch hier die Kräfte sich gegenseitig verzehren und aufheben lässt. Die 'Leitungen' haben keine starke Zielrichtung und geben eine solche nicht aus.

Dennoch scheinen sich in geistlichen Kreisen Versuche zur Kraftsammlung und einheitlichen Nutzung anzubahnen. Mit der Erkenntnis der Bibelforschergefahr muss auch die Judenfrage in deutschen Seelsorgerherzen lebendig werden. …

Es ist selbstverständlich, dass die weit aufgeschlossene Duldsamkeit unseres Bundes (Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund) in religiösen Dingen, Männer und Führer nicht behinderte, den Kampf ums Christentum geradezu als ihre Lebensaufgabe zu betrachten, wie dies durch Dinter und andere geschieht.

Da erhebt sich nun die Frage: Gedenken die Kirchenleitungen der Front der untergrabenden Kräfte von den Judenparteien (Bolschewismus) bis zu den scheinchristlichen Bibelforschern gegenüber sich weiterhin Bethmänn'sche Vorsichtigkeiten einzukapseln? Lästerungen Christi sind schon jetzt zur literarischen Marktware geworden, gegen die man von dorther nichts zu unternehmen scheint, sondern dies den völkischen Bünden überlässt.

Diese beharrliche Taktik des Ausweichens vor dem damit immer drohender herannahenden Verhängnis erscheint uns freilich weit gefährlicher, als ihr Gegenteil. Es ist die Taktik der Schwäche. Es ist zugleich Vogel-Strauß-Politik, denn die Stunde der Auseinandersetzung wird von der anderen Seite dennoch heraufbeschworen. Bolschewismus, Welt-Demokratie, Sozialdemokratie, Weltfreimaurertum, Judentum und Ernste Bibelforscherlehre sind sich einig in dem Ziel das 'Überwindung des christlichen Zeitalters' heißt. Das sind nicht nur starke, sondern es sind heute die herrschenden Mächte und das Jahr 1925 erscheint als Zieljahr kaum unglaubhaft.

Vorläufig führen auch auf diesem Frontabschnitt die Völkischen den Kampf allein, und sie führen ihn in ihrer überwiegenden Mehrheit im christlich-reformatorischen Geiste. Es scheint aber wirklich noch Kirchenleitungen zu geben die (wer weiß, durch wen beeinflusst!) das heute noch nicht erkennen und die Parole ausgegeben haben, die deutschvölkische Bewegung als 'wotanistisch' oder baldurgläubig zu bekämpfen. So begegnet man dort dem kommenden Verhängnis, indem man sich gegen die eigene Front wendet, denn die Schar der Deutschgläubigen in völkischen Reihen, die doch zum mindesten für deutsche Kirchenleitungen die gleiche Berechtigung haben dürften, wie die von manchen Geistlichen beschirmten fremdgläubigen Juden, verhält sich zur völkischen Gesamtheit heute noch wie etwa die Altkatholiken an Zahl zu den Römisch-katholischen. Auch dieses Beispiel, so grotesk es scheint, wirkt erschütternd! Verhängnispolitik!

Aus Berlin meldet uns die Ortsgruppe Osten: 'Die 'Ernsten Bibelforscher' halten allein in einer Woche in ein und derselben Schule (die E. B. also dürfen in deutschen Schulen Religion lehren!) sieben Versammlungen (also täglich) hintereinander. Sonntags fanden sieben große öffentliche Versammlungen statt. Aus fast allen deutschen Städten gehen uns täglich ähnliche Meldungen zu.

Wir fragen: Wer bezahlt die ungeheuren Aufwendungen für diese kostenfreien Darbietungen? Wer die Antwort nicht findet, dem ist nicht zu helfen. Solchen Kreisen erteilt die Quittung alsdann - das Jahr 1925."

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1923er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte