Wehrdienstverweigerung im Ersten Weltkrieg

Zu Zeiten Russells, der bekanntlich 1916 verstarb, sind weder in den USA noch in Deutschland, noch anderswo konkrete Wehrdienstverweigerungsfälle aus Bibelforscherkreisen bekannt. Dies sollte sich mit Rutherfords Machtantritt dann noch verändern. Auch hierbei gilt es wiederum zwischen den USA und Deutschland und Großbritannien zu differenzieren. Da die USA erst relativ spät (1917) in den Ersten Weltkrieg eingetreten waren, spiegelte sich die diesbezügliche Konfliktlage in einem erheblich kürzeren Zeitraum ab. Wohl sind verbale kriegsdienstgegnerische Tendenzen in der Bibelforscherliteratur nach dem USA-Kriegseintritt teilweise nachweisbar (mit Schwankungen). Allein personifizierte Beispiele, die es für die Zeit des Zweiten Weltkrieges zur Genüge gab, konnte die Wachtturmgesellschaft für die USA, bis heute nicht namhaft machen. Damit ist deutlich, dass zur damaligen Zeit dort die "Feuertaufe" noch nicht stattfand.

Anders schon die Situation in Deutschland. Bis 1916 sind auch hier keinerlei konkrete Wehrdienstverweigerungsfälle mit Bibelforscherbezug belegt. Allerdings bestand hier die Kriegssituation schon seit 1914. Und gepaart mit vorhandener Kriegsmüdigkeit, kombiniert mit der Bibelforschertheologie gab es hier solche Fälle. Ein in der Literatur dokumentierter Fall nimmt auf einen solchen aus dem Jahre 1918 Bezug. Der "Delinquent" war im Sommer 1917 erstmals mit der Bibelforscherlehre in Berührung gekommen, die er in der Folge annahm.

Anlässlich seine Einberufung (wohl im Jahre 1918) erklärte er seine Wehrdienstverweigerung und wiederholte diese Erklärung auch anlässlich einer diesbezüglichen Gerichtsverhandlung. Anlässlich seiner trotzdem erfolgten Einberufung im Februar 1918, weigerte er sich in dem Truppenteil zudem er eingezogen wurde, eine Uniform anzuziehen. Die Reaktion der Militärbehörden war, dass er in eine Psychiatrische Nervenklinik eingewiesen wurde. Dort war es nun die Aufgabe der Ärzte sich mit seinem Fall zu befassen. Einer von ihnen berichtete später (1924) darüber in der "Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift". Sein Statement: "Bei der Intelligenzprüfung ist kein eigentlicher Defekt nachweisbar." Der Arzt weiter über seine Bekehrung zu den Bibelforschern:

"Durch den oben erwähnten Arbeiter sei er zu der Erkenntnis gekommen, dass wir jetzt in Zeiten der Drangsal vor dem jüngsten Gericht lebten, und dass in kurzer Zeit eine große Umwälzung zur Vollkommenheit stattfinden werde."

Dieser Irrenarzt versuchte nun seinen Auftrag gemäß nennenswerte psychiatrische Defekte bei seinem ihm überstellten Patienten zu ermitteln, was ihm aber nicht gelang.

Sein abschließendes Gesamturteil kleidete er daher in die Worte:

"Ich halte das ganze religiöse Gedankensystem unseres Patienten für die Reaktionsform eines von Natur aus religiös veranlagten Menschen, durch welche der Mangel an Anpassungsfähigkeit an die realen Verhältnisse in gewissem Sinne ausgeglichen zu werden angestrebt wird."

Über einen weiteren Fall berichtete die "Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie" im Jahre 1919. Nachstehend seien daraus die wesentlichen Aussagen zitiert:

"Reinhold B. Trainsoldat, früher Schlosser, jetzt Ladeninhaber, geboren den 8. 8. 1881 in der Nähe von Berlin. 1909 lernte er die Schriften ... Russells kennen und schloss sich der 'Vereinigung ernster Bibelforscher' an. 1915 eingezogen, kam er nach 9 Tagen wegen Knieleidens ins Lazarett, wurde dann zum Train versetzt, ließ sich vereidigen, tat Dienst, weil er als Trainsoldat ja nicht eigentlich zur fechtenden Truppe gehörte. Heute erklärt er diese Auskunftsmittel für Feigheit. Hatte bald Bedenken wegen seiner mittelbaren Teilnahme am Kriege, konnte aber mit ihnen fertig werden, als sein Rittmeister ihm auf seine Bitte gestattete, ohne Waffe Dienst zu tun und ihn 6 Monate lang als Ordonnanz beschäftigte. Wegen Leistenbruchoperation 4 Monate im Lazarett; dort entwickelten sich stärkere Skrupel, die sich mit März 1917 steigerten. Führte seinen Entschluss, den Dienst zu verweigern, im Juni 1917 aus, als er in Berlin auf Urlaub war; ging in Zivil aufs Bezirkskommando, stellte sich zur Verfügung. An die Front geschickt, beharrte er bei seiner Weigerung, wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, das er in Köln verbüßte. Bat nach seiner Entlassung sofort seinen Hauptmann mündlich und schriftlich, ihn im Sanitätsdienst zu verwenden. Der Hauptmann übergab die Sache dem Gericht. Auf dessen Anordnung vom 26. 8. bis 16. 10. 1918 zur Beobachtung in der psychiatrischen Klinik.

Hier völlig geordnet; keine Defekte; weder Sinnestäuschungen noch Wahnideen nachweisbar. Sondert sich von anderen Kranken ab, liest seine religiösen Schriften. Sehr bereit, jedem der es hören will, die Lehren seiner Gemeinschaft zu entwickeln.

Russell habe schon 1886 den Zusammenbruch der Welt für den Oktober 1914 vorhergesagt. Die Menschheit stehe, nachdem sie 6000 Jahre durch die Berührung mit dem Bösen hindurchgegangen sei, am Anfange des siebenten (Sabbats-) Jahrtausend, in dem sie in den adamitischen Urzustand zurückkehren werde. Gegenwärtig sei eine Zeit der Drangsal, wie sie nie gewesen sei und nie wieder kommen werde. Die Zeiten der Nationen (= Heiden) seien abgelaufen. Gott habe vor, sein Reich aufzurichten, Christus werde in nächster Zeit wieder erscheinen. Die Nationen gingen zugrunde, Gott lasse sie zu ihrer eigenen Belehrung sich gegenseitig zerfleischen, damit sie erkennen, wie unsinnig ihr Tun ist; später werde er die Völker segnen.

Seine 'Vereinigung' lasse jedem freie Hand, wie er sich zum Kriege stellen wolle. Trotzdem seien viele der Anhänger ('unsere Angehörigen') im Gefängnis.

Zum Kriegsdienst eingezogen, folgt er dem Rufe, versucht es erst mit einem Kompromisse zwischen seinen militärischen Pflichten und den sich ihm aufdrängenden Gewissensbedenken, bis dieses an neuen Skrupeln scheitert und er eines Tages offen den Dienst verweigert. Die ihm auferlegte Strafe verbüßt er; kaum aber ist er aus dem Festungsgefängnis entlassen, als er seine Weigerung beharrlich fortsetzt. Ist er hier unbelehrbar und unbekehrbar, so ist doch von Wahnideen und Sinnestäuschungen nichts zu spüren. Das er sich für einen Auserwählten hält, bleibt im Rahmen dessen, was wir bei frommen Leuten, zumal bei Sektierern, gewohnt sind; auch sonst gibt sein Glaube, so wunderlich manche seiner Reden klingen mögen, doch nur das aus Büchern Angeeignete wieder und lässt sicherlich kein wahnhaftes erkennen. B. ist ein Psychopath, wie Lebenslauf, Charakter und Verhalten beweisen, aber kein Geisteskranker. Demgemäß wurde die Anwendbarkeit des § 51 StGB abgelehnt; zu einer Verhandlung ist es wegen der inzwischen ausgebrochenen Revolution nicht mehr gekommen. Ich habe auch in den Schriften ihres Begründers Russell, soweit sie mir B. zugänglich machte, nichts staatsgefährliches gefunden.

Die Hartnäckigkeit, mit der unsere Patienten an ihren Überzeugungen festhalten, ihre Unbelehrbarkeit, ihre offen ausgesprochene Sucht nach Aufsehen und Märtyrertum legten den Gedanken nahe, ob man bei ihnen nicht mit Paranoikern zu tun habe und dementsprechend ihr Glaube als ein religiöses Wahnsystem anzusehen sei.

Nach meiner Ansicht liegt die eigentliche Wurzel der Gehorsamsverweigerung nicht in der so oder so begründeten Stellung zur Religion, sondern im Überdruss am Kriege. Nicht, als ob die Inkolpaten die religiösen Bedenken heuchelten, sie vorschützten oder auch nur übertrieben um sich dem Dienst im Schützengraben zu entziehen, davon ist keine Rede, aber die Kampfesmüdigkeit liefert den Nährboden, aus dem die kriegsfeindliche Weltanschauung entspricht. Dafür spricht einmal, dass sich die bekannt gewordenen Fälle mit der länge der Kriegsdauer häuften, insbesondere aber auch, dass der überwiegendste Teil von ihnen sich zunächst ohne irgendwelchen Widerstand hatte einstellen lassen, selbst dann, wenn sie schon vorher Beziehungen zu adventistischen Sekten gehabt hatten; erst während des Dienstes erwacht das Gewissen, setzen die 'schweren inneren religiösen Kämpfe' ein."

Bibelforscher-Soldaten im Ersten Weltkrieg

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